Bei sehr vielen moralischen Entscheidungen spielten Gefühle oder Gefühlsdispositionen eine bestimmende Rolle, sagte Hübl. Beim Abfragen von politischen Einstellungen würden diese häufig rationalisiert und sicherheitspolitische oder ökonomische Gründe angeführt. Dahinter, dies zeige die Forschung, verberge sich aber häufig eine emotionale Disposition, die uns geneigt mache, ob man der Welt eher offen oder verschlossen gegenüber trete. Wer ein stark ausgeprägtes Mitgefühl habe, wer für Fairness sei, tendiere eher zu einer positiven Einstellung gegenüber Einwanderung, für eine multikulturelle Gesellschaft, Vielfalt, auch in sexuellen Identitäten. Wer eine starke Neigung zu Angst und vor allem Ekel hat, der tendiere eher zu Fremdenfeindlichkeit und dazu, dass verschiedene Gruppen unter sich bleiben, sagte der Autor des Buches "Die aufgeregte Gesellschaft".
Es gebe universell verbreitete, evolutionsbasierte Prinzipien aus der Moralpsychologie, so Hübl. Konservativ eingestellten Menschen seien Gruppenzugehörigkeit und eine klare Sozialhierarchie wichtig, sie hätten sehr starke Vorbehalte gegenüber bestimmten Praktiken von Sexualität, Essen, Leben und Tod. Homosexualität etwa werde in vielen Kulturen sanktioniert, unabhängig davon ob sie religiös-konservativ oder konservativ-traditionalistisch im politischen Sinne seien.
Traditionalismus und Ekel
Eine zentrale Rolle spiele dabei das Gefühl des Ekels, so Hübl. "Es hat sich empirisch in Untersuchungen herausgestellt, dass man weltweit Traditionalismus aufgrund von Ekelneigungen vorhersagen kann. Ekel in verschiedenen Ausprägungen ist extrem stark korreliert mit Aussagen zu politisch-moralischen Themen wie zum Beispiel Homosexualität, Sex vor der Ehe oder Abtreibung." Vorhersagen über Wahlentscheidungen seien damit besser möglich gewesen als über die üblich angewendeten Fragen mithilfe ökonomischer Kategorien, wie etwa Ausgaben zum Militär.
Anders als die evolutionsbasierten Emotionen wie Zorn und Angst sei Ekel aber nicht naturgegeben, betont Hübl. "Wir wissen auch, dass Bildung und Erziehung eine extrem große Rolle spielt bei der Ausformung solcher Neigungen. Wenn wir unsere Kinder von klein auf zu offenen Kosmopoliten erziehen, wie wir es auch tun, ist die Bereitschaft größer, das auch im Erwachsenenalter anzunehmen".
Die Forschung über Extremismus und Verschwörungstheorien habe gezeigt, dass ein fortgeschrittenes, gefestigtes Weltbild bei Erwachsenen nur schwer zu ändern sei. Dennoch, so betont Hübl, sei man beim politischen Denken nicht seinen Grundgefühlen ausgeliefert. Es hätte keinen moralischen und vor allem zivilisatorischen Fortschritt gegeben, wenn die Menschen nicht irgendwann das alte archaische Stammesdenken abgeschüttelt hätten: "Das ist der große Fortschritt, selbst wenn man komische Gefühle spürt, sich nicht dem ersten Impuls der Emotion hinzugeben und davon sein moralisches Urteil abzuleiten."
Gesellschaften werden progressiver
Der Polarisierung und dem zunehmenden Rechtsruck in westlichen Gesellschaften setzte Hübl eine hoffnungsvollere historische, weltweite Entwicklung entgegen: Gesellschaften seien progressiver geworden, viele moralisch-universelle Werte wie Menschenrechte seien de facto realisiert worden. Dass Prinzipien wie Freiheit, Selbstentfaltung und Fairness für alle gelten, sei jedem sofort klar, so Hübl. "Bei den stammesorientierten Prinzipien dagegen - mein Clan ist besser als deiner, es gibt oben und unten, verdorbene Sexualpraktiken - ist es überhaupt nicht ersichtlich, wie sie für alle gelten könnten. Es gibt empirische Daten dafür, dass es diesen Fortschritt gibt, als auch echte philosophische Gründe, auf diesen Fortschritt und auf diese universellen Prinzipien zu setzen."
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