Die erste der sieben christlichen Todsünden ist der Stolz. Für viele Liberale gibt es dagegen kein schlimmeres Laster als die Grausamkeit, die jedoch bei den christlichen Todsünden gar nicht vorkommt. Das Christentum bediente sich gar der Grausamkeit - man denke nur an die Inquisition. Für viele Politiker gehört Grausamkeit zum Handwerk, wozu als erster Machiavelli öffentlich aufrief:
"Es braucht sich also ein Fürst nicht vor der Nachrede der Grausamkeit zu scheuen, wenn er dadurch seine Untertanen eint und in Treue hält."
Noch im selben, dem 16. Jahrhundert wird dagegen Montaigne angesichts von religiösen Bürgerkriegen die Grausamkeit als ein weitverbreitetes Laster bezeichnen:
"Verrat, Treulosigkeit, Tyrannei und sinnlose Grausamkeit [...] sind unsere ganz normalen Laster."
Daran schließt Judith Shklar 1984 in ihrem Buch an und übernimmt die Formulierung sogar in den Titel: "Ganz normale Laster". Grausamkeit zerstört die Menschenwürde und raubt jegliche Freiheit, normalerweise das höchste Gut für Liberale.
Shklar argumentiert jedoch anders herum. Ihr programmatisches Werk "Der Liberalismus der Furcht" fragt 1989 nach den Übeln und der Ungerechtigkeit, der man für Shklar in der politischen Philosophie bisher zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Sie schreibt:
"Dagegen wertet der Liberalismus der Furcht die Grausamkeit als schlimmstes Laster und erkennt ganz richtig, dass Furcht uns auf den Stand lediglich reaktiver Empfindungswesen zurückwirft."
Während sich die Philosophen zumeist um die Tugenden kümmerten, will Shklar ausgehend von der Grausamkeit zu einer neuen Ordnung vor allem der Übel und Laster, also der Ungerechtigkeit gelangen. Hannes Bajohr schreibt in seinem auch biografisch interessanten Nachwort über "Der Liberalismus der Furcht":
"Hier führt Shklar ihr radikal minimalistisches Konzept eines Liberalismus fort, der nicht von einem höchsten Gut, sondern einem schlimmsten Übel ausgeht, nämlich der Grausamkeit, der Furcht vor ihr und schließlich der Furcht vor der Furcht selbst."
Shklar beschäftigt sich in "Ganz normale Laster" nach der Grausamkeit mit dem Snobismus, dem Verrat, der Heuchelei und der Misanthropie - dem Menschenhass. Der Snobismus verwundert. Doch Shklar trifft in den 50er-Jahren an amerikanischen Universitäten auf eingebildete Studenten, die Fleiß, Intellektualität und Frauen hassen, sich aber für die Elite halten:
"In einer demokratischen Gesellschaft muss 'der Snobismus' umso mehr hervorstechen, weil er in ihr völlig aus dem Rahmen fällt und ihren patriotischen Werten widerspricht. Snobismus ist hier ein eigenständiges öffentliches Laster: ein Grundübel."
Solchen Snobismus bescheinigt sie auch noch den linken Studenten von 1968 unter anderem mit dem interessanten Argument:
"So zu tun, als würde Geld keine Bedeutung haben, heißt, eine kränkende Verachtung für nachbarliche Werte an den Tag zu legen."
Widerstand und Verrat als Loyalitätskonflikt
Dass ihre liberalen Werte recht konventionell sind - im Grunde mit konservativen durchaus kompatibel -, zeigt sich auch an ihrer Einschätzung des Verrats. Widerstand gegen die Nazis oder Kollaboration betrachtet sie als einen Loyalitätskonflikt, könne man sich nicht einfach gegen sein Land stellen, in dem die Freunde und Verwandte leben. Über Verrat kann der einzelne daher nicht für sich allein urteilen. Niemand ist einfach sein eigener Herr, jenseits der Gemeinschaft.
Auch wenn sie Verrat im familiären Bereich diagnostiziert, argumentiert Shklar auf dem Boden sehr traditioneller Werte der Monogamie und der Treue. Gerade bei der Eheschließung konfligieren häufig die Werte der Liebe und des religiösen Glaubens, der Nationalität oder der Hautfarbe, Konflikte, die man nach Shklar durchaus ernst nehmen muss:
"Blutsverwandtschaft zugunsten eines neuen und unbekannten Zusammenschlusses abzulehnen - oder überhaupt keinem beizutreten - bedeutet, die elementarsten aller sozialen Bindungen zu leugnen."
Die Familie stellt für Shklar denn auch den Nukleus und das Modell jeder Gemeinschaft dar.
Heuchelei hält sie zwar für ein weitverbreitetes Laster, dessen sich Ideologien in liberalen Gesellschaften ständig gegenseitig bezichtigen. Doch sie erachtet Verstellung sogar manchmal für notwendig und durchaus moralisch.
"Heuchelei ist stets anrüchig gewesen. Es ist aber alles andere als klar, worin sie eigentlich besteht und warum man sie so leidenschaftlich verachten sollte."
Menschenhass ist für Shklar ein sehr unangenehmes Laster, das durchaus dazu neigt in Grausamkeit gegenüber Mitmenschen auszuarten. Dazu haben auch viele Philosophen beigetragen.
"Die meiste brauchbare Moralphilosophie ist ein Aufschrei des Ekels, und nicht anders verhält es sich mit dem, was uns Philosophen seit Plato über uns erzählt haben."
Misanthropie kann einerseits Blutbäder nach sich ziehen. Andererseits trägt sie auch zur Mäßigung bei. Denn, so Shklar: "Setzt man Grausamkeit an erste Stelle, wird man seinen Abscheu zügeln oder ihn humaneren Zielen zuwenden."
Ethische Orientierungen
Die liberale Demokratie stützt sich auf verschiedene Subkulturen, ein Bündel von Traditionen und damit auf Vielfalt. Sich in ihr ethisch zu bewegen, ist schwierig, aber sie bietet dem Einzelnen viele Optionen. Es gibt in ihr keine einfachen und absolut gültigen Tugenden und Werte. Vielmehr muss man - so Shklar - ein Gleichgewicht zwischen öffentlichen und privaten ethischen Orientierungen erreichen. Ihr Buch "Legalism" aus dem Jahr 1986 - schreibt sie im Vorwort - ist "schlicht und ergreifend eine Verteidigung gesellschaftlicher Vielfalt, beseelt von jenem Elementarliberalismus, der die Fortschrittsannahme hinter sich gelassen hat und keiner spezifischen Wirtschaftsordnung anhängt; er ist allein der Überzeugung verpflichtet, dass Toleranz eine Kardinaltugend ist und dass eine Vielfalt von Überzeugungen und Handlungsweisen nicht einfach nur ertragen, sondern in Ehren gehalten und gefördert werden muss."
Wenn man also von ihren traditionellen ethischen Orientierungen absieht, erscheint dieser Liberalismus durchaus sympathisch und man könnte ihn den liberalen Parteien Europas empfehlen.
Judith N. Shklar: "Ganz normale Laster"
Übersetzung und Nachwort von Jannes Bajohr. Matthes & Seitz Berlin, 2014, gebunden, 348 Seiten
Übersetzung und Nachwort von Jannes Bajohr. Matthes & Seitz Berlin, 2014, gebunden, 348 Seiten