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Philosophie
Lob der Grenze

Wenige Stunden vor dem Anschlag in Berlin diskutierten an der Berlin-Brandenburgischen Akademie Juristen, Soziologen und Philosophen über ein brisantes Thema: die Abwägung von innerer Sicherheit und humanitärer Verpflichtung in der Flüchtlingspolitik. Zu hören waren vor allem Kritiker der offenen Grenzen

Von Cornelius Wüllenkämper | 21.12.2016
    Ungarische Soldaten patrouillieren in der Grenze zu Serbien.
    Ungarische Soldaten patrouillieren in der Grenze zu Serbien. (dpa / MTI / Sandor Ujvari)
    David Miller, Professor für politische Philosophie in Oxford, diagnostizierte gleich zu Beginn der Tagung sowohl den nationalen Regierungen als auch den Brüsseler Institutionen eine Überforderung angesichts der Migration in die Europäische Union. Miller, der im philosophischen Diskurs als liberaler Verfechter von Minderheitenrechten gilt, formulierte seine Kritik an einem falschen Verständnis des politischen Liberalismus’ so:
    "Die Verfechter der liberalen Gesellschaft irren sich, wenn sie davon ausgehen, dass Liberalismus bedeutet, die Grenzen zu öffnen. Ein moderner, liberaler Staat erfordert eine klar umgrenzte und relativ stabile Bürgerschaft, die demokratisch über die Einwanderungspolitik entscheidet. Dieses fundamentale demokratische Recht wird allerdings begrenzt durch eine gerechte Beteiligung an der Verantwortung für Flüchtlinge, was bedeutet, sie entweder aufzunehmen oder umzusiedeln. Ein moralisches Dilemma entsteht dann, wenn einige Staaten mehr tun als die Gerechtigkeit erfordert, weil andere Staaten ihrer Pflicht nicht nachkommen. Dieses Problem kann man nur auf demokratischem Wege lösen. Bevor eine Regierung auf diese humanitäre Verpflichtung antwortet, muss sie sicher gehen, dass das Volk hinter ihnen steht."
    Gefährdet grenzenlose Flüchtlingspolitik die Demokratie?
    Asylrechtliche Regelungen auf Grundlage der Genfer Konvention von 1949 und deren Zusatzprotokolle stufen die Menschen als Flüchtlinge ein, die innerhalb der eigenen Landesgrenzen konkret verfolgt oder deren Menschrechte unmittelbar verletzt würden. Juristisch gesehen stünde diesen Menschen entweder Schutz in einem sicheren Aufnahmeland zu oder humanitäre Hilfe in ihrer Heimat. Eine grenzenlose Flüchtlings- und Immigrationspolitik wiederum gefährde die demokratische Stabilität innerhalb der Aufnahmeländer, warnte David Miller.
    "Die Demokratie hängt ab von einem ausreichenden Maß an Vertrauen der Bürger. Vertrauen darin, dass verfassungsmäßige Rechte beachtet werden, und dass es so etwas wie demokratische Selbstbeherrschung gibt. Die stärksten Demokratien sind die, in der die deutliche Mehrheit der Bürger die gleiche Identität teilt und in der Lage ist, Interessenkonflikte zu lösen, so dass alle Seiten zufrieden sind. Immigranten haben sehr oft das Verlangen, an diesem Prozess teilzuhaben und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Aber das ist ein Prozess, der Zeit braucht. Ein Grund, die Immigration zu deckeln, ist die begrenzte Aufnahmefähigkeit. So verhindert man zugleich, dass das Vertrauen der Gesellschaft Schaden nimmt."
    Suche nach Argumenten für nationale Grenzen
    Millers Einschätzungen trafen auf Zustimmung. Der Philosophieprofessor und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin, der sich als "liberaler Kosmopolit" bezeichnet, teilte Millers kritische Sicht auf offene Grenzen das politische Axiom der unbegrenzten Einwanderung:
    "Kosmopolitismus heißt, wir wollen eine Welt, die insgesamt gerecht ist, die die Menschen insgesamt, unabhängig von ihrer Herkunft, von ihrer nationalen Zugehörigkeit, von ihrer Hautfarbe und von ihrer Religion fair und gerecht behandeln. Das ist das Ziel. Und jetzt stellt sich die Frage: Muss ich, wenn ich dieses Ziel verfolge, die Nationalstaaten abwracken, schwächen, die Grenzen durchlässig machen, nicht nur für Waren und Dienstleistungen, sondern auch für Menschen? Oder kann man auch aus kosmopolitischer Perspektive ein Argument für die Relevanz und die Legitimation von nationalen Grenzen entwickeln?"
    Julian Nida-Rümelins Thesen zu den Gefahren einer vermeintlich grenzenlosen Weltgesellschaft, in der Entwicklungsstaaten ihrer letzten Pozentiale beraubt würden und massive Einwanderung für Mietensteigerung und Lohndumping in den Aufnahmegesellschaften führten, hatten theoretisch durchaus ihren Reiz. Noch überzeugender wäre es gewesen, hätte Nida-Rümelin seine Ideen an der konkreten Realität in Deutschland überprüft. Auch den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien gegenüber zeigte sich Nida-Rümelin als kritischer Intellektueller: Jedem syrischen Bürger stehe es frei, sich in die weiterhin sicheren Gebiete rund um Damaskus zu begeben.*
    Rechte von Minderheiten zu Ungunsten der Mehrheiten
    Der Berliner Völkerrechtsprofessor Christian Tomuschat konterte, dies gelte wohl kaum für die Gegner des Assad-Regimes. Wo Nida-Rümelin eher pauschal vor dem Verlust der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung in den westlichen Nationalstaaten warnte, bot der Soziologe Ruud Koopmans eine differenziertere Analyse. Seit der völkerrechtlichen und politischen Neuausrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich die Rechte der Minderheiten innerhalb von Staatengebilden zusehends zu Ungunsten der Mehrheitsgesellschaft verschoben, erläuterte Koopmans.
    "Wir haben oft einen großen Respekt vor dem Verlangen von Minderheiten, ihre Kultur zu erhalten und ihr Kultur weiterzugeben an ihre Kinder, also Kultur zu betrachten als etwas, das sich über mehrere Generationen erstreckt. Und das Komische ist, dass wir diesen Respekt oft ganz verlieren, wenn ähnliche Forderungen von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft kommen. Dann sind das plötzlich Nationalisten, Rassisten, die man in die Schmuddelecke stellt. Und wenn man das tut, dann überlässt man tatsächlich solche Ressentiments den Rechtspopulisten. Die können dann daraus ihr politisches Kapital schlagen."
    Ob Burka-Verbot, Mohammed-Karikaturen oder die hitzige Debatte um den Zwarte Piet, den dunkelhäutigen Gehilfen des Heiligen Nikolaus in den Niederlanden: Ruud Koopmans fordert eine politisch und ideologisch offene Gesprächskultur, in der weder der Respekt vor der Minderheit, noch die Stimme der Mehrheit verloren geht. Die Tagung in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hat bewiesen, dass trotz aller Unwägbarkeiten und einer unübersichtlichen Vielzahl an politischen, philosophischen und juristischen Aspekten eine fruchtbare Diskussion über die Verpflichtungen und Grenzen angesichts der Flüchtlingsfrage durchaus möglich ist.
    (*) Anmerkung der Redaktion: Herr Professor Nida-Rümelin legt Wert auf die Feststellung, dass er nicht behauptet habe, dass es jedem Bürger frei stehe, sich in die weiterhin sicheren Gebiete rund um Damaskus zu begeben. Er habe in der Diskussion lediglich darauf hingewiesen, dass nicht ganz Syrien Bürgerkriegsgebiet ist und daher auch nicht alle aus Syrien Geflüchteten nach der Genfer Flüchtlingskonvention in Deutschland Schutz in Anspruch nehmen können.