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Polemische Essays über Unheilsverkünder

Menetekel ist ein Begriff, der nichts Gutes verheißt, im Gegenteil: Seit Menschengedenken wohl gibt es diese Prophezeiungen, die das Ende, die Apokalypse vorhersagen - und doch sind wir immer noch am Leben. Gerhard Henschel weiß, warum.

Von Michael Köhler |
    Dies ist kein Sachbuch über Katastrophismus und keine theologische Predigt über die Apokalypse, keine (un-) heilsgeschichtliche Abhandlung, sondern ein polemischer Einspruch.

    "Es geht ja hier hauptsächlich um kulturpessimistische Prognosen und um Untergangsvisionen."

    Gerhard Henschels Buch "Menetekel" beginnt deshalb auch stilgerecht mit einer Anekdote über den berühmten Kulturkritiker Ortega y Gasset. Der schrieb über eine verweichlichte Kultur, die die Tragik des Lebens nicht mehr kennt, 1930 sein erfolgreiches Buch "Aufstand der Massen". Das schöpferische Leben verlange nach einer hygienischen, disziplinierten Lebensweise, meinte er damals.

    In den Siebziger Jahren sollte der gleiche Mann auf einer Sportveranstaltung in Deutschland sprechen, wurde von Fernsehmoderator Wim Thoelke damals abgeholt, weil er zum vereinbarten Termin nicht da war. Ortega y Gasset lag zum verabredeten Zeitpunkt aber lieber mit drei Freudenmädchen im Bett eines Luxushotels. Soviel zu Selbstzucht und Sittenverfall. Hier merkt man schon, Gerhard Henschel ist ein satirischer Beobachter, dem kulturkritischer Rigorismus verdächtig ist. Als Autor vieler Bücher und früheres Mitglied des Satiremagazins Titanic, schreibt er naturgemäß anders als ein Historiker, Philosoph oder Politikwissenschaftler. Er macht sich begeistert auf die Suche nach entlarvenden Widersprüchen der Kulturkritik.
    "Auf der Suche nach der guten alten Zeit sind seit Jahrhunderten viele Kulturkritiker gewesen. Wenn man dann allerdings die Schriften ihrer Großeltern zu Rate zieht, stellt man fest, dass auch die schon die gute alte Zeit in der Vergangenheit vermutet haben, und man findet sie eigentlich niemals."

    Den "Gesternbeschönigern" und Untergangspropheten traut Henschel nicht über den Weg. Denn es gibt auch so etwas wie die Repression der Antimodernisten. Wer nämlich Sittenverfall und Verrohung anprangert, der muss sich auch gefallen lassen, gefragt zu werden, ob es denn in der Steinzeit gemütlicher und rücksichtsvoller zuging als in der Großstadtdiskothek.
    "Vielfach wird behauptet, dass es einmal eine Zeit gegeben habe, in der die Eheleute einander noch treuer gewesen seien als heute. Aber die Klagen über die Untreue der Eheleute gibt es aus jeder Generation, die Schriftzeugnisse hinterlassen hat. Ich habe in mein Buch dann allerdings eine wissenschaftliche Meldung mit aufgenommen, das war im Jahr 2003, da fanden Naturwissenschaftler heraus, dass es Indizien dafür gebe, dass im Pliozän die Vorfahren des Menschen monogam gelebt hätten. Die hatten allerdings den Nachteil, dass sie noch in der Gesellschaft des Säbelzahntigers gelebt hatten und dass damals weder das Rad, der Pflug, noch Kamm und Seife erfunden worden waren. Also wenn das die alte gute Zeit war, halte ich das für höchst bedenklich. Ich würde da ungern tauschen."
    Das Buch wäre aber nicht mehr als bestenfalls ein Lamento, eine Sammlung überarbeiteter Aufsätze, wenn es nicht um mehr ginge als eine Geschichte unheilverkündender Warnungen, der Mahnrufe und geisterhaften Schriften. Nicht jeder Menetekler ist gleich antiaufklärerisch.
    "Und es haben ja in der Tat auch so manche Apokalyptiker vollkommen recht behalten, also beispielsweise die, die vor der Hochrüstung vor dem Ersten Weltkrieg warnten. Damals ist ja tatsächlich eine Welt zusammengebrochen in Europa oder die Leute, die davor gewarnt haben, was geschehe, wenn Hitler an die Macht komme. Es gab welche, die schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten schrieben: Hitler bedeutet Krieg. Das ist ja dann auch eingetreten. Also, es hat ja tatsächlich Apokalypsen gegeben."

    Jede Zeit empfindet die ihre als die erbärmlichste. Heikel wird es nur dann, wenn dieses Unbehagen in Nationalismus oder Chauvinismus der üblen Sorte mündet, wenn die Unheilswarner zu den Waffen rufen. Hier liegt die Stärke des Buches. Henschel nennt wenig bekannte Beispiele etwa der antisemitischen Apokalyptik. Mit dem "Rochus auf die Zivilisation lebt der Antisemitismus wieder auf", stellt er fest.
    "Ich weiß nicht, ob das Nationalismus-Syndrom heute tatsächlich, zumindest in Westeuropa, noch so gefährlich ist wie vor 100 oder 200 Jahren. Das wäre jetzt von mir vermessen, das behaupten zu wollen. Es geht allerdings sehr oft Hand in Hand miteinander her. Das ist wahr. Also die Überschätzung und Verherrlichung der eigenen Nation zuungunsten der anderen, oder die Verherrlichung der eigenen sogenannten Rasse zuungunsten anderer Rassen."
    Ein Friedrich Lange schreibt zu Beginn des letzten Jahrhunderts etwa, die Zivilisation sei die "Nährgelatine für den bazillus judaicus."
    "Das ist natürlich lächerlich. Und da geht dann die Kulturkritik sehr oft ganz einfach ins Krakelen über."

    Apokalyptik kann also durchaus ein gefährlicher Motor von Nationalismus sein. Gerhard Henschel merkt man die Lust an gelungener Polemik an. Er kann schreiben und hat historisches Interesse. Wer eine Abhandlung über die Geschichte der Kulturkritik erwartet, liegt hier nicht richtig. Menetekel ist keine Begriffsgeschichte, eher ein Begriff in Geschichten. Insofern ist der Untertitel, "3000 Jahre Untergang des Abendlandes" zu großspurig, aber das passt zum Stil.

    Wer zeitgemäße Essays über Unheilsverkünder und ein unsystematisches Schreiten durch geisterhafte Schriften moderner Menetekel-Literatur sucht, wird gut bedient. Henschels Gewährsmänner Kurt Tucholsky und insbesondere Karl Kraus spürt man in jeder Zeile.

    Menetekel – 3.000 Jahre Untergang des Abendlandes heißt das Buch von Gerhard Henschel im Eichborn Verlag. 372 Seiten, 32 Euro, ISBN 9783821862101.