Bundesaußenminister wollte er nie werden. Dabei hat sich Ruprecht Polenz im Bundestag vor allem als Außenpolitiker einen Namen gemacht. Als CDU-Politiker wisse man, dass dieses Amt dem Koalitionspartner vorbehalten bleibt. Der 67-Jährige klang nicht traurig darüber, als er im vergangenen Herbst nach 19 Jahren aus dem Bundestag schied.
Acht Jahre davor saß der Jurist dem Auswärtigen Ausschuss vor, mit besten Kontakten in die Türkei, den Nahen Osten, nach Russland und die Vereinigten Staaten. Polenz, wer? Im Jahr 2000 stellten sich die Berliner Journalisten noch diese Frage. Angela Merkel, damals noch jung im Amt der CDU-Vorsitzenden, hatte lange überlegt, mit wem als Generalsekretär sie die Partei aus Spendensumpf und Umfragetief führen könnte.
Dass ihre Wahl auf den bis dato unbekannten Bundestagsabgeordneten aus Münster fiel, überraschte, hatte aber mit der glaubwürdigen Art von Polenz zu tun. Nur sechs Monate blieb der Leutnant der Reserve im Amt, als Generalsekretär war er einfach zu nett. Er sei keiner, der so draufhaut, merkte er selbstkritisch dazu an. Aber einer, der keine Angst hat, seine Meinung zu sagen! Polenz tritt für den Dialog mit Muslimen und vor allem für die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union an. Letzteres gefällt nicht jedem in seiner Partei. Ruprecht Polenz ist verheiratet, hat vier Kinder und vier Enkelkinder, mit denen er nun endlich mehr Zeit verbringen will.
Ruprecht Polenz: Als Abgeordneter hat man diesen Spagat zwischen Familie und Wahlkreis auf der einen Seite und der Hauptstadt mit der Plenararbeit und dem Bundestag auf der anderen Seite.
Politik und Beruf, Familie und Herkunft
Birgit Wentzien: "Ich bin dann mal weg", das waren Ihre Worte ganz zum Schluss nach 19 Jahren im Bundestag. Herr Polenz, Sie waren aber jetzt nicht zwischendurch auf dem Jakobsweg unterwegs und pilgern, oder?
Polenz: Nein, das war ich nicht, und diese Worte hatte ich auch zum Abschied meiner Facebook-Präsenz gewählt. Ich hatte mich relativ stark auch in den sozialen Netzwerken engagiert, weil ich das auch für eine Aufgabe eines Politikers halte, hier erreichbar zu sein und an dieser Form der Lebenswirklichkeit seiner Wählerinnen und Wähler auch teilzunehmen. Aber es war auch sehr zeitaufwendig und mit meinem Abschied aus dem Bundestag, den ich ja selbst gewählt hatte, wollte ich ja auch eine Pause machen.
Wentzien: Also, wenn Sie nicht pilgern waren, dann will ich natürlich wissen, was Sie seither getan haben! Und wie ich mir das vorstellen muss, ganz zum Schluss und ohne Bundespolitik: Packt man dann die Koffer und die Kartons und dreht den Schlüssel um im Schloss und geht? Wie geht das?
Polenz: Also, Sie sind schon dicht dran!
Wentzien: Ja, dann mal los!
Polenz: Das mit dem Koffer-Packen beschäftigt mich bis heute, was das Auspacken angeht, denn die Koffer, die ich aus Berlin dann mitgenommen habe, waren bisher gestapelt in einem unserer Kinderzimmer. Die Kinder sind inzwischen aus dem Haus, aber meine Frau meint nun, langsam müsse das Zimmer auch wieder betretbar werden. Und man muss dann eben erst in Kleiderschränken und Bücherregalen Platz schaffen für das, was man aus Berlin mitgebracht hat.
Wentzien: Schaut man zurück, wehmütig?
Polenz: Man schaut schon zurück und man erinnert sich und es war ja auch eine schöne Zeit und ich habe das gerne gemacht. Und der Abschied ist mir insofern nicht leichtgefallen. Aber ich bin jetzt 67 Jahre alt und fand eine Sache immer ganz wichtig, gerade in der Politik, den Abschied selber zu bestimmen und nicht gegangen zu werden irgendwann mal, wenn man den anderen auf den Wecker fällt oder die Wähler einen nicht mehr mögen.
Wentzien: Politik war ja nicht Ihr Favorit, ganz im Gegenteil. Sie kamen in die Politik und sie hatten schon ein Leben hinter sich, ein berufliches zumal. Hat Ihnen das immer – Sie haben es angedeutet – diese gewisse Spur Unabhängigkeit auch gegeben?
Polenz: Also, ich habe mich schon sehr früh politisch engagiert, schon während meines Studiums habe ich etwa fünf der neun Semester, die ich damals Jura studiert habe, im AStA und in verschiedenen Gremien der Universität Münster als Studentenvertreter zugebracht und da relativ wenig Vorlesungen mitverfolgt. Und anschließend war ich – und das ist in einer Stadt wie Münster schon eine Arbeit mit etwa 20 Wochenstunden Aufwand – 19 Jahre Mitglied im Rat der Stadt, als Kommunalpolitiker, die letzten zehn Jahre als Fraktionsvorsitzender. Aber das war alles neben einem Beruf oder neben einer beruflichen Ausbildung. Und ich bin meinem damaligen Arbeitgeber, der Industrie- und Handelskammer, bis heute sehr dankbar dafür, dass, als ich dann in den Bundestag kam, der Vertrag ruhendgestellt wurde. Das heißt, ich hatte immer die Möglichkeit oder hätte sie gehabt, wieder zur Industrie- und Handelskammer zurückzugehen, wenn mich die Wähler nicht wollen, die Partei nicht mehr will oder ich nicht mehr will. Und diese Form der inneren Unabhängigkeit, auch gerade, wenn man sie nicht in Anspruch nehmen muss, weil man sozusagen nicht in diese Situation, die ich gerade beschrieben habe, kommt, das war mir sehr wichtig.
Wentzien: Dazwischen waren – das müssen wir kurz erzählen – ja Jahre als wissenschaftliche Lehrkraft nach dem Studium der Rechtswissenschaft am Lehrstuhl für Raumplanung und öffentliches Recht, dann am Lehrstuhl für Steuerrecht. Und dann der Gang, Sie haben es erwähnt, in die Wirtschaft als Pressechef der Industrie- und Handelskammer Münster und dann schließlich als Geschäftsführer der Handelskammer. Und es war immer die Kommunalpolitik da, ganz klar. Durch was und wie wurde aus dem Kommunalpolitiker und Wirtschaftsvertreter dann 1994 der Bundespolitiker? Da muss ja irgendwas passiert sein!
Polenz: Ja, ich habe mich natürlich immer auch für politische Themen außerhalb dieser unmittelbaren Arbeitsfelder der Bildungspolitik, der Wirtschaftspolitik, der Kommunalpolitik interessiert. Und die Sicherheitspolitik war eigentlich immer dabei mir besonders wichtig, weil: Eins ist mir eigentlich mein ganzes Leben lang klar gewesen, dass die ganzen Kontroversen, die wir hier führen müssen - auch um den richtigen Weg in sozialpolitischen, wirtschaftspolitischen Fragen -, dass wir die nur dann so austragen können, wie das in einer Demokratie nötig ist, wenn wir den äußeren Frieden gewährleistet haben. Und dass der sich nicht von selber einstellt, sondern dass er, wie Kant sagt, immer wieder neu gestiftet werden muss, das ist eigentlich geschichtlich evident und es ist auch bei jedem Blick in eine Nachrichtensendung an jedem beliebigen Tag in Deutschland klar, wenn man in den Nahen Osten und anderswohin schaut. Und es ist eben auch für Europa nicht völlig außer Kraft gesetzt, nur weil wir jetzt zum Glück schon 69 Jahre Frieden haben.
Wentzien: Auf die Beritte von Ruprecht Polenz, die Außenpolitik vor allen Dingen, Europa, kommen wir gleich noch. Ich würde gern mit Ihnen noch erst mal bei dem Parlamentsalltag bleiben ab 1994 aufwärts, der Sie ja damals immer zur Hälfte Ihres Lebens in Berlin hat sein lassen. Wie haben Sie versucht, das in eins zu bringen, also weit weg zu sein in der Bundespolitik und dann den Wahlkreis in Münster zu haben, den Sie ja erfolgreich wieder verteidigt haben auch, direkt geholt haben - war das einfach, war das möglich?
Polenz: Es ist, glaube ich, der normale Lebensalltag von 95 Prozent aller Abgeordneten, die eben ihren Wahlkreis nicht unmittelbar in Berlin oder in der unmittelbaren Umgebung von Berlin haben, sodass sie jeden Abend nach Hause kommen können. Als Abgeordneter hat man diesen Spagat zwischen Familie und Wahlkreis auf der einen Seite und der Hauptstadt mit der Plenararbeit auf der anderen Seite. Praktisch sieht das so aus, dass man sich Montag früh auf den Weg nach Berlin macht, in den Sitzungswochen, Freitagabend wieder zu Hause ist, und das eben zwei Wochen im Monat, entweder hintereinander oder alternierend, etwa die Hälfte des Jahres. Und darunter leiden alle Möglichkeiten, mit der Familie zusammen zu sein, das ist aus meiner Sicht immer auch ein Nachteil dieses Berufs gewesen. Wir haben dann versucht, durch Wochenenden, gemeinsame Urlaube, das so gut es geht auszugleichen, und es ist uns, glaube ich, auch ganz gut gelungen. Denn bis heute machen wir große Familienurlaube, inzwischen auch schon mit den Enkeln dabei.
Wentzien: Eine Lücke habe ich noch entdeckt, und zwar in Ihrem Lebenslauf: Sie wurden geboren im Mai 1946 in Denkwitz bei Bautzen in der Oberlausitz. Danach geht es in allen Lebensläufen, überall dokumentiert, weiter mit den Stationen Abitur in Tauberbischofsheim und Wehrdienst bei den Fernmeldern in Regensburg. Wie kommt – jetzt auf die Lücke angesprochen – Ruprecht Polenz von der Oberlausitz nach Tauberbischofsheim?
Polenz: Als ich sechs Jahre alt war, hätte ich in der DDR eingeschult werden sollen. Und das wollten meine Eltern unter allen Umständen vermeiden. Deshalb war das der Anlass, der zeitliche Anlass, aus der DDR über Westberlin zu fliehen. Wir hatten dann Verwandte in Bremen, wo wir erst ein paar Wochen waren, anschließend hatte mein Vater noch einen Bekannten in Hafenlohr in Unterfranken. Dort bin ich dann eingeschult worden. Nach zwei Jahren – mein Vater ist dann zur Rhein-Main-Donau-Schifffahrtsgesellschaft gegangen – sind wir umgezogen nach Randersacker bei Würzburg, dann ist mein Vater 1956 zur Bundeswehr und damit begann ein Umzugsrhythmus, wie das bis heute ja bei Offizieren so ist, alle drei Jahre wird man versetzt. Wir sind dann nach Sonthofen im Allgäu gezogen, ich bin dann in Sonthofen ins Gymnasium gegangen und dann wurde mein Vater nach Tauberbischofsheim versetzt und dort habe ich dann eben Abitur gemacht.
Sprecher: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen-Gespräch". Heute mit dem CDU-Politiker Ruprecht Polenz.
Polenz: Also, an Generalsekretär habe ich nicht im Traum gedacht.
Überraschend CDU-Generalsekretär, produktive Kooperation mit Angela Merkel und das Projekt innerparteiliche Demokratie
Wentzien: Lassen Sie uns über das Abenteuer sprechen, Herr Polenz! Welches meine ich: das Abenteuer des CDU-Generalsekretärs. Das war eines in Ihrem bundespolitischen Leben, es war recht kurz, sieben Monate waren Sie der vorderste operative Mann der Partei. Ganz kurz rekapituliert für alle Generationen, die damals das nicht so intensiv haben erleben können: Wie kam die Parteichefin Angela Merkel in diesen sehr, sehr bewegten Zeiten auf Ruprecht Polenz als General?
Polenz: Es war ja so, die CDU war in der wahrscheinlich tiefsten Krise ihrer Geschichte durch die Spendenaffäre. Und wir hatten in Berlin eine Gruppe von Abgeordneten, die sich in losen Zeitabständen traf, wir hatten auch mal Angela Merkel eingeladen, die damals Generalsekretärin war, da haben wir uns kennengelernt. Sie hatte möglicherweise auch im Blick gehabt, dass ich bei der Wahl 1998 der einzige CDU-Bundestagsabgeordnete überhaupt war, der beim Erststimmenergebnis - wenn auch nur 0,2 Prozent, aber immerhin - etwas zugelegt hatte. Und sie hat sich wahrscheinlich auch bei anderen erkundigt, wie man das so macht, um mich dann in dieser Situation zu fragen. Für mich war es völlig überraschend. Es war ja das Jahr 2000 und ich kann mich noch gut erinnern, was ich in der Silvesternacht so überlegt habe, was das neue Jahr wohl bringen möge. Also, an Generalsekretär habe ich nicht im Traum gedacht. Und es war eigentlich auch nie eine Perspektive für mich. Weil, ich wusste schon, dass bei der Aufgabe eines Generalsekretärs auch Dinge verlangt würden, die mir eigentlich nicht so liegen. Ich habe das auch in dem Gespräch mit ihr, als sie mich anrief und fragte, ob ich dazu bereit sei, gesagt, sie wisse doch – so habe ich es nahezu wörtlich formuliert –, dass ich nicht jemand sei, der so draufhaut. Und da sagte sie, ja, das wisse sie schon, aber von der Sorte hätten wir ja in der Partei genug. Und damit war das Thema abgehakt. Das war vielleicht ein Fehler, weil, nach einer gewissen Zeit, als ich Generalsekretär war, wurde irgendwie immer deutlicher, dass diese Rolle – wo bleibt eigentlich jetzt die Abteilung Attacke, das 150-prozentige CDU-Profil –, dass das nicht so meine Sache ist, weil ich jemand bin, der immer auch das Gefühl hat, der andere könnte auch ein Stück recht haben und ich habe vielleicht nicht zu 100 Prozent recht.
Wentzien: Erstmals eine Frau als Parteichefin, damals in diesen wirklich bewegten Zeiten, eine Frau aus dem Osten, eine evangelische Frau und eine geschiedene Frau. Und Sie als Mann, als, sagen wir mal, eher möglicherweise auch katholisch zu verordnender konservativer Mann, das passte doch eigentlich?
Polenz: Ja, das hat ja auch zwischen uns beiden nie ein Problem gegeben, bis heute übrigens nicht. Und ich glaube im Übrigen auch, dass ich in der Zeit, in der ich Generalsekretär war, dazu beitragen konnte, Vertrauen für die CDU zurückzugewinnen, auch gerade durch die Art, wie ich das Amt ausgeführt habe. Denn in der Zeit, in den ersten Monaten nach meiner Wahl, war die Abteilung Attacke nicht gefragt, da haben die Menschen gesagt, jetzt macht erst mal euern Laden wieder sauber, bringt den mal in Ordnung und dann können wir anschließend mal weitersehen. Also, das war schon eine ganz besondere, schwierige Situation, wo ich vielleicht dazu habe beitragen können, dass die CDU da auch wieder rausgekommen ist. Aber wie gesagt, es gibt ein fest gefügtes Erwartungsbild aus meiner Sicht an die Rolle des Generalsekretärs, da gehört dieses etwas 150-Prozentige dazu. Und das ist, wenn das nicht besetzt wird, wie ein Drama ohne jugendliche Liebhaber. Und deshalb musste die CDU da sicherlich auch überlegen, wie sie das jetzt in der Normallage wieder anders macht. Und das ist ja dann auch mit Laurenz Meyer passiert.
Wentzien: Geschossen haben aber vor allen Dingen auch CSUler auf Sie, und zwar immer unter der Überschrift, da ist jemand loyal, da ist jemand arbeitsam, aber da kann jemand zu wenig beißen. Die "Süddeutsche Zeitung" hat damals geschrieben: "Knecht Ruprecht, der nicht poltern kann". Auf welche Erfahrung, wenn Sie jetzt zurückblicken auf diese Zeit, hätten Sie jetzt im Nachgang gern verzichtet und auf welche auf keinen Fall?
Polenz: Ja, ich hätte es wahrscheinlich trotz aller Erfahrung wieder so gemacht. Weil, wenn Sie in so einer schwierigen Situation gebeten werden und gefragt werden, ob man mithelfen will, dann ist das nicht meine Art, vor allen Dingen, wenn man es mir dann zutraut, zu sagen, nee, nee, ich mache das nicht. Natürlich war das eine unglaublich arbeitsintensive, auch stressige Zeit und ich habe sicherlich nicht jede Nacht gut geschlafen. Aber das gehört nun irgendwie auch ein bisschen dazu. Also, ich bereue von der Zeit eigentlich nichts und würde es, wie gesagt, auch wieder so machen. Ich habe im Übrigen auch persönlich sehr davon profitiert, das hat mir in der ganzen weiteren politischen Arbeit durchaus geholfen, diese sieben Monate sozusagen da in der ganz dünnen Luft gewesen zu sein.
Wentzien: Und haben Sie noch irgendwelche Rechnungen offen, Richtung CSU beispielsweise?
Polenz: Nein, ich habe manche schlechte Eigenschaften, nachtragend zu sein gehört nicht dazu.
Wentzien: Kontakt haben Sie noch zur Parteichefin, zur Kanzlerin, haben Sie gerade gesagt. Und Sie hatten sich damals vorgenommen, Herr Polenz – das würde mich jetzt schon interessieren! –, sie wollten auch – die Zeit war sehr kurz, aber immerhin –, Sie wollten die innerparteiliche Demokratie beackern und die CDU für neue Entwicklungen öffnen. Was ist daran gelungen?
Polenz: Ja gut, da war in dieser kurzen Zeit nicht so viel möglich, es wirklich auf den Weg zu bringen. Was mir vorgeschwebt hatte, war, Erfahrungen auf die Bundespartei zu übertragen, die wir in Münster gemacht hatten. Wir hatten beispielsweise in den 80er-Jahren ein Kommunalwahlprogramm in einer Weise entwickelt, das wir nicht komplett als Partei aufgeschrieben haben, sondern wir haben Zukunftsfragen für die Stadt formuliert, haben über diese Fragen mit gesellschaftlichen Organisationen diskutiert, deren Antworten uns auch geben lassen, zugehört und danach das Programm erstellt. Also, programmatische Arbeit unter Einbeziehung auch von Personengruppen, Institutionen außerhalb der Partei, das war eine Idee. Und die zweite schon damals war natürlich: Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, die CDU versteht sich als Volkspartei, wir müssen durchbuchstabieren, was es heißt, Volkspartei in einer Einwanderungsgesellschaft zu sein, sprich: Wie viele von denen, die jetzt neu zu uns kommen, haben wir eigentlich als Mitglieder?
Wentzien: Die Partei kam damals in einen Zeitbeschleuniger. Es hat zuvor noch keine Frau an der Spitze gegeben, es gab dann Entwicklungen, auch thematische Öffnungen – Sie haben eine genannt, beispielsweise beim Thema Staatsangehörigkeitsrecht –, die sich sehr, sehr stark – Familienpolitik ist ein anderes Thema – durch Angela Merkel und durch die Neuorientierung ergeben hatten. War das im Nachgang betrachtet bei allen Wirrnissen und aller Bewegung und allem Nicht-schlafen-Können – Sie haben es angedeutet – für die Partei machtpolitisch, strategisch eine richtige Entscheidung?
Polenz: Es war auf alle Fälle richtig. Denn konservativ zu sein heißt ja nicht immer, dieselben Antworten zu geben, sondern die Werte unter veränderten zeitlichen Umständen, unter einer veränderten gesellschaftlichen Entwicklung aufrechtzuerhalten und zu verwirklichen. Das ist für mich konservativ. Alles andere ist nur verknöchert. Und aus diesem Grunde muss man ja zur Kenntnis nehmen: Wenn sich Wirklichkeiten in der Gesellschaft verändern, wie kann man dann den eigenen Wertüberzeugungen weiterhin eine Plattform und Geltungskraft verschaffen? Das ist die Aufgabe und die, finde ich, hat die Bundeskanzlerin und hat die Partei ganz gut hinbekommen. Natürlich als konservative Partei nicht an der Spitze … Also, CDU hat nicht das Verständnis, Avantgarde zu sein, aber das ist vielleicht für eine politische Partei gar nicht so schlecht. Denn bei der Avantgarde weiß man dann nur im Rückblick, was positiv war, und die ganzen vielen Irrtümer, die werden dann in der Kunst schnell vergessen. In der Politik würden sie bleibende Schäden anrichten.
Wentzien: Auch auf die Gefahr hin – angesprochen ist jetzt der Kathole aus dem Münsterland –, dass man auf der anderen Seite der Flanke manchen Menschen und Sympathisanten verliert?
Polenz: Ich glaube, dass das nicht der Fall sein muss, wenn man seine Politik gut erklärt. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Wir haben – hier auch in Münster – in den 80er-Jahren zu diskutieren gehabt: Ganztagsangebote für Kinderbetreuung. Und da gab es auch das Argument, ja, gibt man da nicht einen Anreiz, dass sich die Eltern nicht mehr um die Kinder kümmern, zerstört man damit ein Stück weit die Familie? Das war so ein bisschen die Diskussion. Der Hinweis, dass wir damals in Münster schon 5.000 Alleinerziehende hatten, die dringend diese Unterstützung brauchten, hat ausgereicht um zu sagen, na, selbstverständlich muss dann auch, um dem Wert familiärer Zusammenhalt staatliche Unterstützung zu geben, eine entsprechende Betreuung organisiert werden, zum einen für die und dann sicherlich auch für den ein oder anderen, wo aus irgendwelchen Gründen, die dann in der Entscheidung der Familien liegen, beide berufstätig sind.
Wentzien: Vielleicht waren Sie auch mit manchen Positionen damals, Herr Polenz, einfach ein bisschen zu früh? Kann ja sein!
Polenz: Na gut …
Wentzien: Ist die CDU an manchen Punkten, die Sie damals benannt haben, beispielsweise auch Verhältnis zum islamischen Religionsunterricht, ist sie aktuell so, wie Sie sie damals schon beschrieben haben?
Polenz: Das mag schon sein, es war ja wahrscheinlich auch eine der Überlegungen, mich da zum Generalsekretär zu machen… Wenn man sozusagen die Nachhut repräsentiert hätte, wäre es vielleicht unter keinen denkbaren Umständen die richtige Entscheidung gewesen!
Wentzien: Hans-Ulrich Klose hat mal über sich und seine Partei gesagt, ich bin zu 60 Prozent Sozialdemokrat und zu 100 Prozent kann ich es nicht sein. Wie muss ich mir das Verhältnis bei Ihnen vorstellen? 60/40?
Polenz: Ja, 70/30, 60/40, das kommt ein bisschen darauf an. Aber ich habe mir mal einen Satz von Eberhard Diepgen gemerkt, der mal in den 70er-Jahren in Münster bei einem Kreisparteitag war und gesagt hat, die CDU sei eine Volkspartei und er stimme so mit 60, 70 Prozent der Inhalte überein, er hielte das für eine gute Quote. Den Satz habe ich mir, wie Sie sehen, bis heute gemerkt, weil ich ihn sehr überzeugend finde und weil man ihn auch nicht oft genug sagen kann. Denn viele, die sich vielleicht überlegen, sich auch in der Partei zu engagieren, haben von außen das Gefühl, also, wenn ich da nicht mit 100 Prozent einverstanden bin, dann bin ich da weder willkommen, noch kann ich da Parteimitglied sein. Das ist dummes Zeug. Es gibt wahrscheinlich gar niemanden, der mit allem einverstanden ist, was seine Partei macht. Und wenn man in der Grundrichtung übereinstimmt, dann ist es selbstverständlich, dass man auch über richtige Wege in der einen oder anderen Frage ringt, und wenn man unterliegt oder die Partei ist noch nicht, wie man denkt, so weit ist wie man selber, dann muss man eben ein bisschen Geduld haben und weiterarbeiten.
Wentzien: Also 60/40?
Polenz: Ja, das ist eine ordentliche Quote.
Ruprecht Polenz und die Außenpolitik. Europa-Ernüchterung, die Afghanistan-Problematik und die Zukunft der Türkei.
Wentzien: Die letzte Rede im Bundestag nach 19 Jahren als Mitglied des Bundestages, Herr Polenz, Sie haben nur ganz kurz Ade gesagt und Gottes Segen gewünscht in die Runde. Sie haben über Syrien gesprochen, über ein Land mitten in einer humanitären Katastrophe, ein Land, das zu zerfallen droht und damit die gesamte Region. Und damit droht ja auch die politische Ordnung zu verfallen, auf die man sich vor genau 100 Jahren nach dem Ersten Weltkrieg verständigt hatte. Und so würden Sie es nie sagen, aber ich darf es jetzt mal ganz kurz tun, als Journalistin verkürzen und konzentrieren: Sie haben damals auch gesagt, bei der letzten Rede im Bundestag: Wir im reichen Europa nehmen daran viel zu wenig Anteil und nehmen, gemessen an unserem Wohlstand und an unseren Möglichkeiten, auch zu wenige Flüchtlinge auf. Hat Ihnen jemand zugehört? Applaus gab es kräftig!
Polenz: Ja, ich denke schon. Also, ich habe auch daran erinnert – nicht in dieser Rede, aber seitdem immer wieder und auch davor –, weil für die Menschen ja schwer zu verstehen ist, wie viel könnte Deutschland eigentlich leisten. Dass wir bei den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien Anfang der 90er-Jahre 350.000 Flüchtlinge aufgenommen haben, das war eine große Anstrengung, ich habe das als Kommunalpolitiker mitbekommen, das war überhaupt nicht einfach, aber es ging. Nun will ich nicht sagen, jetzt müssten wir 350.000 Syrer aufnehmen. Aber zwischen jetzt inzwischen 10.000, die als Kontingent in Rede stehen und die jetzt auch kommen können, und 350.000 ist noch ein gewisser Spielraum, ohne dass man jetzt die Sorge haben müsste, das würde unsere Leistungsfähigkeit überfordern. Ich glaube, gerade ein einer Situation, wo wir doch erkennen müssen, dass wir zur Beendigung des Bürgerkrieges als Deutsche vergleichsweise wenig beitragen können … Wir halten jetzt die Daumen, dass das mit Genf II was wird und dass alle an einen Tisch kommen, aber wir sind da jetzt nicht diejenigen, die das erzwingen oder bewirken könnten unmittelbar. Wenn das so ist, dann ist man eben humanitär besonders gefordert. Nehmen Sie den Libanon als Nachbarland, dort sind so viele Flüchtlinge, dass, wenn man das pro Kopf der Bevölkerung auf Deutschland umrechnen würde, müssten wir 15 Millionen Flüchtlinge aufnehmen! Nur, um mal eine Vorstellung zu geben, was ein kleines Nachbarland von Syrien jetzt schon seit ziemlich langer Zeit zu schultern hat. Und die Türkei, etwa so groß wie wir, hat 500.000 syrische Flüchtlinge in seinen Grenzen.
Wentzien: Das Ganze ist aber ja nicht alleine bei allem wohltätigen Wirken, das auch noch in Rede steht, durch Deutschland zu wuppen, sagen wir mal so, sondern das muss alles im europäischen Kontext passieren und da – wenn ich Ihrer Rede folge und Ihren Ausführungen – ist, glaube ich, nur Schweden mit uns in Augenhöhe, was die numerische Aufnahme von Flüchtlingen anbelangt. Was passiert da gerade europäisch, zumal in diesem neuen Jahr, zum Aufgalopp mit vielen populistischen und auch propagandistischen Tönen? In Ihrer Partei scheint sich auch so etwas wie Europa-Ernüchterung breitzumachen! Nehme ich das richtig wahr?
Polenz: Ja, ich glaube, das ist durch die Staatsschulden- und Euro-Krise, durch viele Entwicklungen bedingt. Und es ist ja auch ein Mechanismus eingeübt, dass vieles, was man nicht so gut findet, in irgendeiner Form dann Brüssel zugeschrieben wird, und alles, was gut läuft, das waren natürlich die nationalen Regierungen. Und daraus speisen sich dann auch weitere Fehlwahrnehmungen. Ich denke schon, dass gerade jetzt auch das Jahr 2014, wo wir uns an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnern, noch einmal Gelegenheit gibt zu verstehen, was wir der Europäischen Union verdanken. Denn, ich hatte das vorhin schon mal gesagt, der Satz von Kant, der Frieden ist kein natürlicher Zustand, er muss gestiftet werden, der ist für Europa nicht außer Kraft gesetzt. Wir verdanken diesen Frieden der Friedensordnung der Europäischen Union, aber wenn wir deren Strukturen nicht pflegen und den Zusammenhalt der Europäischen Union sichern – und das können wir letztlich, weil man etwas Statisches in der Politik nicht sichern kann, nur durch eine weitere Bewegung hin zu einer engeren europäischen Zusammenarbeit –, dann wird Europa in den Zustand über kurz oder lang zurückfallen, den wir in anderen Teilen der Welt beklagen. Und das wäre fatal, das würde auch die Aufbauleistung all der Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg zunichtemachen, die uns in Europa dahin gebracht haben, wo wir heute sind.
Wentzien: Jetzt frage ich den außerparlamentarischen Politpensionär Polenz mit all seinem Wissen und seiner Erfahrung: Trügt denn das Bild, das wir haben – ich bleibe noch mal bitte bei meiner Frage –, dass auch beispielsweise die Parteichefin ganz offensichtlich nicht mehr Europa will? Wir brauchen doch, um diese Probleme im Ansatz auch nur lösen zu können, einen gesamtstaatlichen, supranationalen Zusammenhang der Hilfsangebote! Und Merkel macht sich da ganz offensichtlich – das ist nicht nur meine Beobachtung – einen schlankeren Fuß als zuvor, Generationen von CDU-Vorsitzenden zuvor!
Polenz: Ich glaube schon, dass die Bundeskanzlerin die Bedeutung der Europäischen Union und auch die Bedeutung von Solidarität genauso sieht, wie ich das jetzt gerade mit meinen Worten geschildert habe. Sie hat natürlich auch zu berücksichtigen Stimmungen in der eigenen Bevölkerung. Insofern ist Außenpolitik oder auch Europa-Politik immer auch ein bisschen Funktion der Innenpolitik. Aber ich wünsche mir schon, dass in aller Deutlichkeit einmal natürlich die Defizite, die wir auf europäischer Ebene beklagen – Transparenz, Demokratie, da gibt es eine ganze Liste, die ich auch sehe – trotzdem erkennen, das sind alles notwendige Reparaturmaßnahmen an einem Haus Europa, das aber so wichtig ist, dass sich diese Reparatur rentiert und dass man deshalb nicht das Haus abbricht.
Wentzien: Und das wird geschafft werden?
Polenz: Daran müssen alle, die das so sehen, kräftig arbeiten. Und ich kann schon versprechen: Solange ich dazu was sagen kann und das gehört wird, werde ich das tun!
Wentzien: Wissen die Abgeordneten eigentlich genug? Wissen im Sinne von Kenntnis? Sie waren lange Chef des Auswärtigen Ausschusses, des edelsten Bundestagsausschusses, wenn man so will. Das soll überhaupt kein Vorwurf sein, Herr Polenz, aber wenn man das Wissen nicht hat – und es kommt ja mancher frisch ins Parlament und hat eine ganz andere berufliche Erfahrung –, dann muss man eben auch die Größe besitzen und sich das Wissen heranholen! Und da haben wir so als Beobachter manchmal den Zweifel, ob das sachgerecht geschieht!
Polenz: Also, natürlich geht Politik nicht ohne Fleiß und ohne Arbeit. Aber ich darf Ihnen auch hier versichern: Die weitaus größte Zahl aller meiner Kollegen, die ich kenne, ist ausgesprochen fleißig und auch sachkundig in ihren jeweiligen Fachgebieten. Natürlich, für neue Mitglieder nach einer gewissen Einarbeitungszeit. Ich weiß noch, als ich anfing mit der Außenpolitik im Bundestag, habe ich auch überlegt, wie man sich jetzt einarbeitet. Ich habe mich dann entschieden, ein Drittel Aktuelles, ein Drittel internationale Konferenzen, Kontakte, Netzwerk aufbauen, und ein Drittel dicke Bücher. Das finde ich bis heute eine gute Mischung, die man wahrscheinlich auch für andere Sachbereiche sich so ähnlich vielleicht vorstellen kann. Und ein Zweites bleibt natürlich, trotz aller Kenntnisse und allen Wissens, was man sich erarbeitet: Die Notwendigkeit zu entscheiden ist in der Politik immer größer, als die Fähigkeit zu erkennen. Also, man entscheidet immer unter Bedingungen unvollständiger Information, das ist unaufhebbar als Dilemma!
Wentzien: Aber Sie würden jetzt nicht sagen, dass Sie eine Entscheidung davon auf dem Weg seither in den 19 Jahren revidieren müssten?
Polenz: Ja, doch. Also, wenn man in der Erkenntnis künftiger Entwicklungen noch mal neu entscheiden könnte, …
Wentzien: Zum Beispiel?
Polenz: … dann würde man sicherlich sich noch mal sehr genau anschauen, was sind eigentlich die ganzen Entscheidungen – jetzt mal im Bereich der Außenpolitik Richtung Afghanistan – seit 2002 gewesen. Und ich glaube schon, dass man da bestimmte Dinge, wenn man sie noch mal entscheiden könnte, anders machen würde.
Wentzien: Sie hätten damals nicht dafür gestimmt?
Polenz: Doch, schon dafür gestimmt, aber die Vorgehensweise, die Zieldefinitionen, die Schwerpunktsetzung, ich glaube, das würde man aus der heutigen Sicht deutlich verschieben. Man müsste deutlich größeren Nachdruck legen auf die politischen Prozesse, wir haben auch in der Diskussion sehr stark über Militär diskutiert, sehr stark auch über Wiederaufbau diskutiert. Aber über die Frage, wie kriegt man eigentlich die Bürgerkriegsparteien, die verschiedenen Stämme in einen tragfähigen Versöhnungsprozess, was muss dafür passieren, darüber ist wenig diskutiert worden und wir sind ja auch nicht sehr weit damit gekommen.
Wentzien: Ein anderes Thema, das für Sie immer wesentlich war und bei dem Sie immer quer lagen zur eigenen Partei, das war das Thema Türkei-Beitritt zur Europäischen Union. Dabei bleiben Sie jetzt auch außerparlamentarisch bei Ihrer Position.
Polenz: Ja.
Wentzien: Das Land durchlebt jetzt gerade im Moment einen immensen Korruptionsskandal, es gibt keine unabhängige Justiz und die Regierung Erdogan entfernt sich weiter von den Grundsätzen, die ja für Staaten der Europäischen Union gelten sollten! Trotzdem, Ruprecht Polenz sagt: Die Türkei gehört in die Union!
Polenz: Der Prozess der Beitrittsverhandlungen, die seit 2005 laufen, ist ja nicht ein Verhandlungsprozess nach dem Motto: Ich verlange 1.000, du möchtest 500 bezahlen und wir treffen uns bei 750. Sondern dieser Verhandlungsprozess bedeutet, dass die Türkei europäisches Recht eins zu eins übernehmen muss. Das ist für die Türkei, auch wenn nicht jedes europäische Gesetz, nicht jede Richtlinie vielleicht der Weisheit letzter Schluss ist, trotzdem ein unglaubliches Modernisierungsprogramm. Und gerade in der jetzigen tiefen Krise, in der die Türkei im Augenblick ist, würde ich dringend empfehlen, das Kapitel Justiz und Grundrechte zu eröffnen, denn dann hätte man die Möglichkeit als Europäische Union, von außen auch ganz starke Impulse in Richtung einer unabhängigen Justiz in der Türkei zu setzen.
Wentzien: Sie haben vorhin im Zusammenhang mit der Kanzlerin und dem Thema Europa von Stimmen in der eigenen Bevölkerung und Rücksicht nehmen gesprochen. Inwieweit ziehen Sie sich den Schuh an, wenn man Ihnen vorwirft, gerade bei dem Thema Türkei in die EU müsse man doch auch auf viel Widerspruch, Widerstand in der Bevölkerung zumindest achten, wenn nicht hören?
Polenz: Ja, den habe ich mir sehr angezogen, deshalb habe ich mich auch in meinem Urlaub und anschließend dann noch in der Weihnachtszeit hingesetzt und ein kleines Buch geschrieben, wo ich all die Gegenargumente, die ich in diesen Diskussionen immer wieder vorgetragen habe, Punkt für Punkt noch mal angesprochen habe und versucht habe, darauf Antworten zu geben. Also, ich nehme natürlich ernst, was es an Bedenken und Sorgen gibt, und versuche, mit Argumenten dagegen anzugehen. Beim Thema Türkei ist es allerdings, wenn Sie sich damit näher beschäftigen, woher auch die Widerstände kommen, dass da viel Emotionales mitschwingt bis hin zu einer historischen Türkenfurcht, die wir über Generationen weitergegeben haben und die in ihrer Entstehungsphase auch noch religiös unterlegt war unter dem Stichwort "das sind die Antichristen".
Wentzien: Das erste Buch hieß "Besser für beide. Die Türkei gehört in die EU", richtig?
Polenz: Ja.
Wentzien: Und das neue würde heißen?
Polenz: Na, da … Also, ich habe jetzt die Möglichkeit, über ein Stipendium – ein sogenanntes Senior Fellowship der Mercator-Stiftung am Istanbul Policy Center – etwas zu arbeiten, und bin da eigentlich völlig frei in dem, was ich mache. Und ich habe mir jetzt vorgenommen, einen Leitfaden zu schreiben, über was muss man eigentlich sprechen und wo sind die wichtigen, möglicherweise auch wunden Punkte, wenn man mit islamischen Parteien über Demokratie redet, um zu klären, ob man von demselben spricht und ob man ein gemeinsames Demokratieverständnis teilt. Ich glaube, dass das deshalb ganz wichtig ist, sich darüber Gedanken zu machen, weil wir in keinem der Länder der Region, glaube ich, eine Demokratisierung erleben werden ohne die Mitwirkung islamischer Parteien. Sie sind einfach – das haben die Wahlen in Tunesien, Ägypten gezeigt – in der Bevölkerung relativ stark, sie werden gewählt. Und deshalb lohnt es sich, auch mit den Vertretern dieser Parteien zu diskutieren. Ich habe auch an parlamentarischen Konferenzen mit Vertretern der Muslimbrüder beispielsweise aus diesen Gründen teilgenommen, um sie auch mit zu beeinflussen. Und ich glaube, dass das auch geht.
Polenz: In einer repräsentativen Demokratie, die ja, glaube ich, schon die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung für die richtige Staatsform hält, geht es per definitionem nicht ohne Parteien.
Zukünftige Politik, das Negativ-Image der Parteien und die Rolle von Quereinsteigern.
Wentzien: Nicht "Empört euch", also der Aufruf von Stéphane Hessel, sei richtig, sondern Sie halten "Engagiert euch" dagegen, Herr Polenz. Und Sie sagen, Demokratie ist kein Zuschauersport, demokratische Parteien sollten nicht verachtet, sondern von engagierten Bürgern besser gemacht werden. So, jetzt werden wir mal konkret! Wie schaffen wir das, wie kann das gelingen?
Polenz: Das fängt damit an, dass man zum einen schlicht vermittelt, dass auch Parteien wie CDU und SPD 50.000, 60.000 ehrenamtlich engagierte Kommunalpolitiker haben und die jedenfalls erst mal die gleiche Wertschätzung genießen sollten, wie kontinuierlich arbeitende Bürgerinitiativen. Wir haben ja eine öffentliche Wahrnehmung, dass Bürgerinitiativen prinzipiell erst einmal mit einem positiven Image versehen sind, aber Parteien nach dem Motto, also, "Politik ist schon schlecht, aber Parteipolitik ist die Steigerung davon" mit einem negativen Stigma versehen sind. Ich glaube, daran muss gearbeitet werden. Natürlich füttern die Politiker diese Klischees immer wieder auch mit eigenen Fehlern und Fehlverhalten, und einer kann da für die ganze Zunft viel kaputt machen, das ist schon klar. Trotzdem, in einer repräsentativen Demokratie, die ja, glaube ich, schon die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung für die richtige Staatsform hält, geht es per definitionem nicht ohne Parteien. Also muss man sich über die Parteien und ihre Arbeit grundsätzliche Gedanken machen.
Wentzien: Machen eigentlich die Richtigen in der Partei, in der Politik, in den Parteien Karriere? Werden die Richtigen gefördert?
Polenz: Zunächst einmal macht mir große Sorge, dass wir die, die wir brauchen, vielleicht gar nicht mehr bekommen. Also, engagierte, gute, junge Leute, die sich überlegen, etwas für die Gemeinschaft zu tun, finden eben leichter den Weg zu Greenpeace, zu Amnesty oder welchen Organisationen auch immer, als in eine politische Partei. Nichts dagegen, im Gegenteil, ich hätte mir auch gut vorstellen können, mich bei Amnesty beispielsweise zu engagieren, aber das soll nicht ein Aliud sein, sondern man kann ja vielleicht auch beides machen und eben auch in einer politischen Partei arbeiten. Für mich war damals, wenn ich das eben noch sagen darf, entscheidend, dass ich mir gesagt habe: Die ganzen Bürgerinitiativen oder Nichtregierungsorganisationen, auch die, die ich gut finde, die adressieren ihre Wünsche ja letztlich und ihre Forderungen an die Politik. Also bin ich doch besser dran, wenn ich was bewirken will, dass ich mich dort engagiere, wo die Entscheidungen letztlich getroffen werden. Und das ist eben über die politischen Parteien in der Politik selbst.
Wentzien: Aber warum ist Amnesty in dem Fall – bleiben wir bei dem Beispiel! – attraktiver und interessanter als die CDU?
Polenz: Weil ich damit ein Thema … Ich engagiere mich zu 100 Prozent mit einem Thema, was ich gut finde, und ich muss nicht in Kauf nehmen, dass ich mit Dingen konfrontiert werde, die meine Volkspartei an dieser oder jener Stelle auch vertritt, dich ich selber nicht so gut finde. Ich werde auch nicht mit Personen konfrontiert, die ich selber vielleicht auch nicht so gut leiden mag, so nach dem Motto, das ist doch einer von euch, in was für einem Saftladen bist du eigentlich?
Wentzien: Wie ist das eigentlich mit Quereinsteigern in der Politik? Braucht Politik nicht längstens auch frische Ein- und Aussichten von außen?
Polenz: Ja, das braucht man natürlich. Und die Parteien geben sich auch, glaube ich, alle durchaus Mühe. Auf der anderen Seite darf man auch nicht vergessen: Es geht ja nachher auch in einer politischen Partei darum, Mehrheiten zu gewinnen. Und da braucht man auch eine bestimmte Erfahrung dazu. Also, mancher Quereinsteiger ist dann auch schon darüber gescheitert, dass er auf ganz andere Formen der Willensbildung und Entscheidungsprozesse stößt. Beispielsweise Unternehmer, die sagen, natürlich diskutieren wir bei mir im Unternehmen auch, warum ist das in der Politik so kompliziert und so anders? Die Diskussionen in einem eigentümer-geführten Unternehmen sind eben so, dass letztlich jeder, der am Tisch sitzt, weiß: Der Chef entscheidet am Ende. Und so ist es halt in der Politik nicht ohne Weiteres. Da muss man sich mehr von Gleich zu Gleich in einen Diskussionsprozess einlassen und hoffen, dass man mit Argumenten, aber vielleicht auch mit dem ein oder anderen Telefonat vor der entscheidenden Sitzung sich die Mehrheiten besorgt.
Wentzien: Also, die Mühe von Parteien, Quereinsteiger zu gewinnen, die würde ich jetzt mal infrage stellen! Und mit einem Beispiel, das Sie gut kennen: Ihr Professor Paul Kirchhof ist da durchaus symptomatisch zu nennen, der hatte sich engagiert im Team von Angela Merkel in der CDU und wahltaktisch hat sich dann damals der SPD-Kandidat Gerhard Schröder dazu entschlossen, Kirchhof als Professor aus Heidelberg regelrecht vorzuführen. Und Merkel hat Kirchhof dann im Regen stehen lassen! Das war doch und ist doch seither ein Beispiel, das leider noch weiter gilt?
Polenz: Ich glaube, da kam mehreres dazu. Professor Kirchhof hat sehr klare steuerpolitische Vorstellungen entwickelt, ist in das Team geholt worden für ein Programm, was längst nicht alle seiner Vorstellungen abgebildet hat. Er hat dann im Wahlkampf auch über seine weitergehenden Vorstellungen gesprochen, die sind dann von Schröder kritisiert worden und da war dann die CDU nicht bereit, jetzt auch für die weitergehenden Vorstellungen von Herrn Kirchhof zu sagen: Ja, das sehen wir auch so. Weil da in der Tat auch noch viele Diskussionen zu führen gewesen wären. Ich nenne mal nur einen einzigen Punkt: Sein System eines einfacheren, gerechteren Steuerwesens sah auch vor, dass es praktisch keine Form gemeinnütziger Spenden mehr geben sollte. Und da haben Praktiker wie Schäuble und andere gesagt: Darauf zu vertrauen, dass von einem auf den anderen Tag in Deutschland so eine Freiwilligenspendenkultur entsteht wie etwa in den USA – das war sein Vorbild –, den Glauben hätte er nicht und deshalb würde er diesen Vorschlag, Verzicht auf sozusagen Gemeinnützigkeitsvorteile, nicht mittragen. Also, das war nicht einfach jetzt nach dem Motto, man hat Kirchhof hängen lassen, sondern es war eben auch ein Dissens in der Sache und es war die Hitze des Wahlkampfs.
Wentzien: Aber man hat ab dem Moment – und zwar, für lange Zeit, ich glaube, die hält sogar noch an – dieses Motto, dass auch in der Politik arbeiten kann, wer das nicht gelernt hat – es ist ein Lernberuf –, sondern von außen kommt, verwirkt. Für lange Zeit und für viele Parteien.
Polenz: Also, es gibt natürlich auch die anderen Beispiele. Und ich will auch mal sagen, der Seiteneinstieg, den sollten wir auch nicht nur diskutieren auf der Ebene des Bundes oder der Länder. Ist auch in den Städten und Gemeinden notwendig und wird da ja sicherlich auch häufiger vollzogen. Ich glaube nur, dass man nicht unterschätzen sollte, was eben auch gelernt wird, wenn jemand sich relativ früh in einer politischen Partei engagiert, an den Willensbildungsprozessen teilnimmt und auch lernt, mit welchen Argumenten gewinne ich Mehrheiten. Es ist auch ein Prozess des Vertrauen-Gewinnens in einer Partei, der eine gewisse Zeit braucht. Also, es hat schon auch Gründe und ich würde jetzt diejenigen, die sich hier kontinuierlich engagieren, denen würde man unrecht tun, wenn man sagte, ohne sozusagen Blut von außen geht das gar nicht. Sondern mein Ziel ist eigentlich beides: die Durchlässigkeit für engagierte Leute, die später dazukommen wollen, aber eben auch die Attraktivität für junge Leute, die einfach sagen, ich möchte etwas für meine Stadt tun, ich möchte mich politisch engagieren, wo ist die Partei, ich schaue mir die mal alle an, wo ich mit meinen Überzeugungen am besten anfangen kann!
Sprecherin: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Birgit Wentzien im Gespräch mit Ruprecht Polenz.
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