Wir leben in einer Entscheidungsgesellschaft. Jeder von uns trifft mehrere hundert Entscheidungen pro Tag, teilweise intuitiv, nach Regeln, mitunter routiniert und spätestens vor dem Supermarktregal bei der reichhaltigen Käseauswahl nach Lust und Laune.
Längst haben uns Theoretiker wie die Nobelpreisträger Daniel Kahneman ("Schnelles Denken, langsames Denken", 2016) und Cass Sunstein und Richard Thaler ("Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt", 2008) klar gemacht, dass wir unsere Entscheidungen alles andere als rational fällen. Aber zugleich versuchen wir stets, unsere Urteile und Entscheidungen zu rationalisieren. Durch Übungen, Techniken oder durch die Verwendung von Konzepten und Begriffen, die uns die rationale Grundlage des jeweiligen Entschlusses plausibel machen sollen.
Jede Entscheidungskultur entwickelt hierbei ihre Eigenarten. Eine Eigenart des sogenannten decision making, die in der deutschen Politik höchste Anerkennung findet, ist die Entscheidung nach Augenmaß. Schon Helmut Schmidts 1990 veröffentlichte Gesammelten Reden und Essays trugen den stolzen Titel "Weitblick und Augenmaß". Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie, die noch einmal zugespitzt vorführt, dass jeder Entschluss im Angesicht eines hohen Grades von Nichtwissen gefällt werden muss, bleibt die Entscheidung nach Augenmaß ein Ideal. In einem Gastbeitrag im Spiegel forderte der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak ausdrücklich: "Mit Augenmaß gegen die Pandemie vorgehen."
Panik führt zu Augenmaßverlust
Nicht nur die Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie selbst, auch Wirtschaftshilfen und sogar Polizeimaßnahmen müssen offenbar einem "Augenmaß" folgen. Oder dürfen es in keinem Fall verlieren. Josef Joffe schrieb in der Zeit im Oktober 2020 zu den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie: "In der Krise geht das Augenmaß verloren. Regierungen stecken Billionen in die Wirtschaft, um den Konsum anzuheizen. Doch die Beschenkten geben das Geld nicht aus, sondern horten es oder zahlen Schulden zurück."
Panik führt zu Augenmaßverlust. Aber Augenmaß führt zu Lob. Kommentator Heiner Effern in der SZ: "Die Polizei hat mit dem richtigen Augenmaß gehandelt. Es hätte Gründe gegeben, die Corona-Demonstranten in München wegen der Nichteinhaltung der Maskenpflicht aufzulösen. Doch es war richtig, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit hochzuhalten – und es bei Kontrollen zu belassen."
Folgt man solchen Verlautbarungen zu Politik, Polizei, Wirtschaft, erscheint das Augenmaß als ein wichtiges Vermögen, um spezifische Entscheidungen zu fällen und angemessen handeln zu können. Dieses so wichtige Augenmaß bestimmt unsere Debattenkultur ganz selbstverständlich mit, ohne dass es ein größeres Thema wäre. Es gibt Definitionen, Lexikoneinträge und -beschreibungen als Wort der Woche. Aber Studien über Begriff und Phänomen "Augenmaß" gibt es bislang kaum. Allerdings zeigt das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache in seinem Zeitungskorpus, dass die Verwendung des Begriffs in Zeitungen seit den 1960er‑Jahren in Publikationen eine steile Entwicklung erlebt hat.
Angemessen, besonnen und umsichtig handeln
Zwei Bedeutungen hat das Augenmaß im Deutschen. Die Messung und Schätzung nur mit dem Auge, aber auch die Fähigkeit, in angemessener Weise zu handeln, wenn es darum geht, besonnene und umsichtige Entscheidungen zu treffen. Bei der Suche nach der Geschichte des Augenmaßbegriffs in anderen Kulturen und Sprachen fällt auf, dass es auch dort Konzepte für ähnliche Anwendungen gibt, allerdings aus jeweils anderen Begriffen konstruiert.
Jean-Jacques Rousseau etwa spricht 1762 in seiner "Bibel der modernen Pädagogik" Emile oder Ueber die Erziehung vom Augenmaß in der Erziehung als dem "coup d’oeil". Wenn die innere Vorstellung etwa von der Länge einer Rennstrecke mit den tatsächlichen Abmaßen übereinstimmt, dann gleicht das einem "Coup der Augen". Der Physiker Johannes Kepler nannte die Urteilskraft der Augen im gelehrten Latein des 16. Jahrhunderts noch "oculorum judicium".
Das transkulturelle Feld zur Begrifflichkeit des entscheidungsbegründeten Bemessens führt im Englischen ganz woanders hin, nämlich zum "sound judgement", also einem Urteilen nach dem Hören und Sagen. Alternativ gibt es noch "sense of proportion" – den Sinn für Proportionen.
Dass wir aber ausgerechnet dem Augenmaß vertrauen, ist eine deutschsprachige Besonderheit. Was ist das überhaupt, dieses Augenmaß, von dem man selbstverständlich redet? Und wann hat es Einzug in den politischen Diskurs gehalten?
Politik, Ästhetik, Militär etablierten Entscheiden nach Augenmaß
Tatsächlich führt diese Frage auf schnurgeradem Weg zu Max Webers 1919 in München gehaltenem Vortrag "Politik als Beruf". Dort hebt Weber hervor: "Man kann sagen, daß drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß. [...] Die Leidenschaft macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als Dienst in einer 'Sache', auch Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht. Und dazu bedarf es – und das ist die entscheidende psychologische Qualität – des Augenmaßes, der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also: der Distanz zu den Dingen und Menschen."
Theorien der Politik, des Militärs und der Ästhetik haben das Entscheiden nach Augenmaß in unserer Kultur etabliert. Und zwar im doppelten Sinne: als Konzept, mit dem wir das Vertrauen in spontane Entscheidungen rationalisieren. Sowie als spezifischen Begriff, mit dem wir dieses Konzept im Deutschen erfasst haben.
Das Augenmaß setzt als die entscheidende, nicht nur physische, sondern auch psychische Qualität Leidenschaft und Verantwortungsgefühl in die angemessene Relation. Während sich der Berufspolitiker – und nicht etwa der Charismatiker – in sicherer, medial vermittelter Distanz zu Dingen und Menschen aufhält, um mit innerer Sammlung und Ruhe auszuloten, welche Urteile und Entscheidungen zu treffen sind. Darin besteht das Webersche Beherrschen des Augenmaßes.
Mit dieser Setzung zog das Augenmaß triumphal in die politische Entscheidungstheorie ein. Altbundeskanzler Helmut Schmidt versuchte dieses Urteils- und Affekt-Ideal zu beerben, indem er es mit dem Weitblick verband. Bei "Augenmaß und Weitblick" glaubt man für einen Augenblick eine kühle Distanz des Hamburger Entscheidungsträgers zu spüren.
Aber Max Webers mit dem Augenmaß verbundene Distanz und Kühle ist nur die eine Seite des Phänomens. Denn andererseits erweist sich Webers Rede vom Augenmaß seinerseits als Zitat. Schon Carl von Clausewitz rühmt in Vom Kriege das "militärische Augenmaß" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Worten:
"Weil die Gefechte im Kriege das sind, was zuerst und am meisten den Blick auf sich gezogen hat, in den Gefechten Zeit und Raum wichtige Elemente sind und es in jener Periode noch mehr waren, so die Reiterei mit ihren rapiden Entscheidungen die Hauptsache war, so ist der Begriff eines schnellen und treffenden Entschlusses zuerst aus der Schätzung jener beiden Dinge hervorgetreten und hat daher einen Ausdruck zur Bezeichnung bekommen, der auf richtiges Augenmaß geht."
Augenmaß als kriegerische Körpertechnik
Eingeübt wird das Konzept des Augenmaßes als militärische Körpertechnik. Dort dient es dazu, situativ, in actio, in höchster Geschwindigkeit und doch treffend zu urteilen und zu entscheiden. Gerade weil in der Dynamik der Schlacht keine Zeit bleibt, um vom Pferd abzusteigen, um mal exakt Maß zu nehmen. Die Umkodierung, die Max Weber auf der Folie von Clausewitz' "Augenmaßkonzept" betreibt, hat medientheoretische, wissenshistorische und sprachkritische Implikationen: Ist nach Clausewitz der Krieg die "bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", so war mit dem Blick auf Webers Augenmaß festzuhalten: Jetzt erschien die Politik am Schreibtisch als bloße Fortsetzung des Krieges, und zwar mit demselben Mittel, dem Augenmaß, dem Weber nur ein neues, entmilitarisierendes Gewand gibt.
Die militärische Tradition eröffnet der Frage nach der kulturellen Einübung ein neues Feld. Die Historikerin Ewa Anklam hat in ihrer Studie "Wissen nach Augenmaß: militärische Beobachtung und Berichterstattung im Siebenjährigen Krieg" auf den spezifischen Umgang mit dem "Augenmaß" hingewiesen. Tatsächlich gab es im 18. Jahrhundert Abhandlungen wie jene des Ingenieurs Johann Pirscher, deren Titel lautete: "Coup d’oeil militaire, oder kurzer Unterricht, wie man sich ein militärisches Augenmaß entwerfen, nach demselben Carten aufnehmen und leicht verstehen könne".
Carl von Clausewitz: "Vom Kriege"
Clausewitz' Werk ist eine der bekanntesten militärischen Schriften. Militaristen wie Pazifisten schmücken sich gern mit Clausewitz-Zitaten. Der britische Militärhistoriker Hew Strachan fasst die wichtigsten Thesen zusammen.
Clausewitz' Werk ist eine der bekanntesten militärischen Schriften. Militaristen wie Pazifisten schmücken sich gern mit Clausewitz-Zitaten. Der britische Militärhistoriker Hew Strachan fasst die wichtigsten Thesen zusammen.
Nach Ansicht des Kriegsstrategen und Militärdidaktikers Pirscher im Jahr 1775 war daS "militärische Augenmaß einem jeden Officier von so großen Nutzen und im Soldatenstande fast unentbehrlich [...], weil ohne ein Land und Gegend zu kennen, man im Krieg nichts unternehmen kann [...]. Dasjenige, welches man das zum Kriege gehörige Augenmaß nennet, ist eine Fertigkeit der Augen, im Kurzen alles zu übersehen und zu beurtheilen."
In der Kriegskunst hat sich die Körpertechnik des Augenmaßes im 18. Jahrhundert fest etabliert. Sie wird geschult und Schlacht für Schlacht, Vorbereitung für Vorbereitung trainiert. Pirscher entwirft ein exaktes Drehbuch, wie das Augenmaß vor Ort zu schulen und auszurichten sei: Durch das Besteigen eines Hügels vor der Schlacht. Durch das Festlegen einer Achse, das Abmessen der Distanzen zwischen einzelnen Gegenständen, das weitere Hochrechnen auf weiter entfernte Türme oder Landschaftselemente. Es folgt das Umsetzen der Vermessung auf eine anzulegende Karte bis hin zum Auswendiglernen von Karte und Gebiet.
Auf der Grundlage dieser medialen Fertigkeiten ist der Offizier später in der Schlacht selbst fähig, in Windeseile Entscheidungen nach Augenmaß zu fällen. Es geht also – hier verschränken sich Wahrnehmungs-, Kognitions- und Medientheorie – um einen ständigen Abgleich zwischen direkter Erfahrung und abstrakter Karte. Darin liegt die "Fertigkeit der Augen, im Kurzen alles zu übersehen und zu beurtheilen".
Proportionen exakt aufnehmen - nur nach Augenmaß
Militär und Politik mögen Vorbilder für die Entscheidungskultur sein. Doch bei der militärischen Technik, die vom Blick zur Linie, zur Skizze, zur Karte, zur actio führt – handelt es sich offensichtlich um ein Erbe von der Ästhetik – vor allem der Architektur und Malerei. Und wir kennen die Vorliebe der Deutschen für die Genialität der Künste. In einer Untersuchung der Wissenschaftlichen Begriffssprache und Systematik bei Vasari hat Ralf Reith 1968 auf eine Wendung hingewiesen, die er bei dem Begründer der Kunstgeschichte für "Augenmaß" gefunden hat: "Nelle misure mancava uno retto giudizio"
So schwärmt Vasari von dem florentinischen Renaissancemaler Ghirlandaio: "Man sagt, Domenico [Ghirlandaio] habe solch eine Sicherheit in der Zeichnung gehabt, daß, als er die Altertümer zu Rom nachzeichnete – Triumphbögen, Bäder, Säulen, Obelisken, Amphitheater und Wasserleitungen – er weder Lineal noch Zirkel und Vermessungen zur Hilfe nahm, sondern bloß nach dem Augenmaß arbeitete, wenn er nachmals die Gebäude maß, fand sich seine Zeichnung so richtig, als ob er alles vorher gemessen hätte."
Vasaris Lob des Konzepts "Augenmaß" steht mit einer speziellen Verehrung natürlicher Gaben im Zusammenhang. Schon im Mittelalter galt es als eine besondere Auszeichnung, wenn Architekten und Bauherren die Proportionen schnell und direkt mit den Augen aufnehmen und exakt vermessen konnten.
In dieser Zeit gab es für diese Fähigkeit zugleich ein bemerkenswertes Vorbild: Vögel nämlich, die – so verteilte Gott nach damaliger Ansicht seine kostbaren Gaben – ihre Nester ohne Winkelmaß und andere Hilfsmittel exakt auf ihre Körpergröße und Bedürfnisse abgestimmt bauen konnten. An diese Praxis einerseits, an Vasaris Lob der künstlerischen Fertigkeit andererseits, schließt die Ästhetische Theorie um 1800 an. Der Schweizer Theologe Johann Georg Sulzer führt in seiner Allgemeine[n] Theorie der Schönen Künste das "Augenmaß" als eigenes Schlagwort oder Lemma auf und definiert:
"Augenmaß. (Zeichnende Künste): Die Fertigkeit, Formen, Größe und Verhältnisse mit solcher Genauigkeit ins Auge zu fassen, dass die Einbildungskraft eine ganz genaue Vorstellung davon hat. In zeichnenden Künsten ist das Augenmaß das erste und unentbehrlichste Talent. Wo dieses fehlt, da hilft weder Zirkel noch Maßstab. Der Zeichner muss, wie Michel Angelo, sich auszudrücken pflegte, den Zirkel im Auge und nicht in der Hand haben [...]."
Sulzer erkennt im Augenmaß ein Zusammenspiel von genauer Wahrnehmung und exaktem Vorstellungsvermögen der Einbildungskraft. Ein gutes Augenmaß haben, das bedeutet, Perzeption und Abstraktion sind ineinander verschränkt. Ohne diese Verschränkung würde es nach Sulzer kein Genie geben.
Im Augenmaß bündeln sich politische, militärische und ästhetische Praktiken. In diesem Fall adaptiert die Kriegskunst die Kenntnisse der Ästhetik. Wer mit Augenmaß entscheidet, fasziniert und steht jenseits der Kritik, weil er als Künstler, Militär und Politiker in Personalunion entscheidet.
Auch Kleist widmet sich dem Augenmaß
Dass der Begriff des Augenmaß zum selbstverständlichen Allgemeinwissen zählt, liegt aber nicht nur in seiner Verwendung in historischen Fachtexten begründet. Es braucht die Künste – Literatur, Malerei, Architektur – um solche Konzepte der Entscheidung zu erproben. In der deutschsprachigen Literatur wird man bei Heinrich von Kleist fündig.
Kleists Drama "Der Prinz von Hombur "experimentiert geradezu mit militärischen Entscheidungen. Im zweiten Akt des Dramas ist der dort geschilderte Verlauf der Schlacht von Fehrbellin im Jahre 1675 von drei Entschlüssen des Prinzen von Homburg bestimmt:
Bei seiner Entscheidung, ohne Befehl, dem Herzen nach, in die Schlacht aufzubrechen.
Bei seiner Entscheidung mitten in der Schlacht, als er seinen Oberbefehlshaber, den Großen Kurfürsten, getroffen vor seinen Augen stürzen sieht.
Als der Titelheld die gesamte Schlacht für sich entscheidet.
Bei seiner Entscheidung mitten in der Schlacht, als er seinen Oberbefehlshaber, den Großen Kurfürsten, getroffen vor seinen Augen stürzen sieht.
Als der Titelheld die gesamte Schlacht für sich entscheidet.
Ein Drama militärischer Entscheidung entfaltet sich hier. Der Prinz handelt in allen drei Fällen geradezu lehrbuchartig nach Augenmaß! Schon die gesamte Szenenfolge des zweiten Akts läuft wie nach dem Lehrbuch von Johann Pirscher: Die Besprechung des Schlachtplans per Karte, die Zeichnungen im Sinn, steigen alle "sämmtlich" auf einen Hügel, um Karte und Gebiet abzugleichen: "Komm nur, dort kannst Du Alles überschaun." Und: "die Schlacht beginnt!"
Im "Prinz von Homburg" beobachten wir die Militärs bei ihrer Augenmaßarbeit. Als alle Zeichen auf Sieg stehen, beschließt der Prinz, in die Schlacht einzugreifen. Aber nicht im Affekt. Das dauert eine Weile. Erst danach trifft er seine Entscheidung, und zwar – laut Regieanweisung ausdrücklich –, nachdem er sich: "beruhigt" hat.
So geht Entscheidung nach Augenmaß. Kleist hat nicht nur ein Faible für solche überlegten Entscheidungsmomente, er verortet sie auch systematisch. In seiner Anekdote "Vor der Überlegung. Eine Paradoxe" formuliert er treffend: "Man rühmt den Nutzen der Überlegung in alle Himmel; besonders der kaltblütigen und langwierigen, vor der Tat. Wenn ich ein Spanier, ein Italiener oder ein Franzose wäre: so möchte es damit sein Bewenden haben. Da ich aber ein Deutscher bin, so denke ich meinem Sohn einst, besonders wenn er sich zum Soldaten bestimmen sollte, folgende Rede zu halten.
Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat. Wenn sie vorher, oder in dem Augenblick der Entscheidung selbst, ins Spiel tritt: so scheint sie nur die zum Handeln nötige Kraft, die aus dem herrlichen Gefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken…". Der Prinz von Homburg feiert einen Sieg des Augenmaßes.
Was im Drama weiter geschieht? Kleist überträgt die Frage nach der Augenmaßentscheidung vom Krieg auf die Politik und auf die Jurisprudenz. Der Große Kurfürst hat nach der Schlacht – jetzt im juristischen und politischen – seinerseits eine Entscheidung nach Augenmaß zu fällen. Allerdings degradiert der Kurfürst die Rechtsprechung qua Augenmaß zur bloßen Willkür. Er sieht überhaupt keinen Grund von den Maßgaben der Gesetze abzuweichen. Auf diese Weise entfaltet sich das Schlachtendrama geradezu zu einer juristischen Augenmaßtragödie.
Varianten dieser "Augenmaßinszenierung" spielt Kleist sowohl in der Herrmannschlacht als auch im Kohlhaas, im Zerbrochnen Krug oder in Die Verlobung von St. Domingo durch. Mit Hilfe populärer Erzählungen gelangt das Konzept Augenmaß in die Köpfe von Personen und siedelt sich im kulturellen Gedächtnis an.
Weibliches Sticken mit Augenmaß - über den (Stick)rahmen hinaus
Weber, Clausewitz, Pirscher, Vasari, Kleist, diese Reihe macht stutzig: Ist das Augenmaß eine Eigenschaft, die ausschließlich Männern vorbehalten ist? Keineswegs. In einem Brief an ihren Bruder Clemens erzählt Bettine von Arnim auf verwirrende, verwickelnde Weise vom eigenen Augenmaß. Sie beschreibt, wie sie dem jüdischen Mädchen Veilchen bei einer Auftragsarbeit zur Hand geht:
"Die Arbeit ist bestellt, und sie [Veilchen] bekommt dann viel Geld, wenn es fertig sein wird. Sie ernährt ihren Großvater und zwei seiner Urenkel, die Waisen von dem gestorbnen Bruder, denen ist die Veilchen ganz wie eine Mutter, ich half ihr sticken, es ward recht gut, denn ich hab Augenmaß und mache die Stiche sehr egal."
Manche haben das Augenmaß, andere nicht. Bettine hat es! Wie bei den Künstlern der Renaissance organisiert die Ästhetik des Augenmaßes die Produktion direkt in einer Situation, in der man gerade nicht jeden einzelnen Einstich exakt vorzeichnen kann.
Aber handelt es sich hier nicht nur um Kunsthandwerk statt um große Kunst? Man sollte Bettine von Arnim nicht unterschätzen. Sie mag naiv klingen, aber hier sitzt jeder Stich. Die Stickszene ist eine typische Ausschlussszene à la Rousseau. Die Kulturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen hat darauf hingewiesen, wie Rousseau mit seiner Figur Sophie Frauenschicksale gleichsam an den Stickrahmen gebunden habe. Als Fazit zu Rousseaus Naturlehre der Geschlechter stellte Bovenschen fest:
"Die 'natürlichen' Fähigkeiten und Eigenschaften, die Rousseau seiner rousseauistisch erzogenen Sophie mit auf den Weg gibt, hätten sie wohl kaum in den Stand gesetzt, kreative Vermögen und literarische Kompetenzen auszubilden. Ihr Ausschluß ist programmiert; sie darf über den Stickrahmen nicht hinausdenken."
Bettine fügt sich mit ihrer Stickkunst in das Diskursgefüge ihrer Zeit ein. Zugleich jedoch denkt sie, wenn sie ihr Augenmaß ins Spiel bringt, anhand des Stickens gezielt über den Stickrahmen hinaus. Stich für Stich erweitert sie ihren Gestaltungsraum. Nur wenige Zeilen nach ihrer Inszenierung des Augenmaßes etwa setzt sie das Bild des Stickens metaphorisch ein, wenn sie als Frau "in der ereignisvollen Welt ihren Faden anknüpfen solle, wenn Verbote und überkommene Anstandsregeln jede Verstrickung oder auch Verstickung zur Welt untersagen."
Was Bettine hier mit Augenmaß erprobt, nämlich über die verkommenen Anstandsregeln für Frauen neue Fäden anzuknüpfen, wird sie im Laufe ihres Lebens in kluge, kulturpolitische Taten umsetzen.
Bettine von Arnim bewegt sich mit ihrer Aussage zum Sticken im Raum, den ihr die Imaginationen der Weiblichkeit um 1800 vorschreibt. Im selben Augenblich ist sie – gleichsam mit Augenmaß – dabei, diesen Rahmen neu zu definieren. Direkt vor ihrer Stickstunde hat sie, für die Öffentlichkeit sichtbar, die Treppe der jüdischen Familie gekehrt, was ihr Schelte einbringt. Bettine durchbricht als Künstlerin und Strategin im Modus der Hausarbeit gezielt gängige Gepflogenheiten und Vorurteile. Dasselbe gilt dafür, wie sie sich in ihren Briefen an ihren Bruder selbst zur Autorin aufschwingt und damit zugleich sehr klar und bestimmt im literarischen Diskurs ihre Stimme erhebt. Von Bettines Inszenierung aus müsste sich eine Genealogie des weiblichen Augenmaßes entwickeln lassen. Falls sich doch noch Quellen dazu finden lassen.
Augen sind täuschbar und leicht zu beeindrucken
Und heute? Wenn das Lob des Augenmaßes im politischen Diskurs zum unhinterfragten Ideal geworden ist? Dann üben Erzähler wie Alexander Kluge in seinem Band "Das Bohren harter Bretter", 2011, scharfe Kritik an diesem Konzept. Schon Kluges Titel verweist auf Max Webers Politik als Beruf. Denn am Ende seines Vortrags kam Weber noch einmal auf das Augenmaß zurück, indem er die Formel prägte: "Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich."
Bei Kluge heißt es: "Max Weber publizierte im Januar 1919, eben brachte der Erste Weltkrieg das 20. Jahrhundert zur Entgleisung, eine Rede mit dem Titel "POLITIK ALS BERUF". Diesen Beruf definiert er als das 'Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß.' [...] Wie kann man davon erzählen?"
Alexander Kluge weiß es! Nämlich: indem man selbst mit Augenmaß erzählt. Kluge behandelt einen festgefügten Topos. Erzählung für Erzählung unterzieht er Webers Satz einer scharfen Kritik, bis das kristalline Diktum in neuem Glanz erstrahlt. Nacheinander richtet er seine Kritik auf die Bretter, die Frage nach ihrer Härte, das Bohren als Praxis, die Vorstellung einer politischen Gemeinschaft, die diesem Vorgehen ja unterliegt, die Frage nach Macht und Ohnmacht des politisch Bohrenden, nach den Bedingungen des politischen Handwerks.
Und schließlich – in mehreren Miniaturen – kommt Kluge auf die Frage nach dem Augenmaß selbst. Um seine Kritik in einer Erzählung zu fassen, erfindet Kluge die Berufspolitikerin "Gertrud Reinicke". Dieser legt er ein "Lob des Augenmaßes" in den Mund:
"Vielgebraucht seien auch Wendungen, die ohne viel Sinn aus einer früheren Welt in die politische Alltagspraxis herüberragten. In diese Reihe gehöre, sagte sie, auch 'das Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß'. Hierbei erinnere das Wort Leidenschaft an den Leitsatz der Deutschen Bank 'Leistung aus Leidenschaft' und sei insofern aktuell zu verstehen. Auch sei das Stichwort 'Augenmaß' plausibel. Der restliche Satz sei dagegen nur als Gegenpol zu 'Dünnbrettbohrer' zu gebrauchen, so daß besser vom 'Bohren dicker Bretter' gesprochen werde."
Ohrenmaß statt Augenmaß?
Das Augenmaß gilt als plausibel! Nur die Webersche Leidenschaft kommt jetzt von der Deutschen Bank. Kann es prägnantere Gegenwartskritik geben, als zu zeigen, wie sich die Bankenwerbung einst unbescholtene politische Kategorien auf Pump aneignet?
Doch direkt darauf lässt Kluge Zweifel am "Augenmaß" aufkommen: "Was heißt Augenmaß? Am nervösesten reagiert ein menschliches Auge auf eine unerwartete seitliche Bewegung. [...] Die Augen, so Winkler, seien allerdings extrem täuschbar, weil gierig, auch seien sie leicht durch Schrecken zu beeindrucken. An wichtigen Wendepunkten des Schicksals würden sie blind. Ich würde als Gleichgewichtsorgan, sagte Winkler, also als Sitz des Maßes, nicht das Auge vorschlagen, sondern das Ohr. Niemand aber spricht vom OHRENMASS."
Unzuverlässig ist das Augenmaß? Das stimmt! Trifft diese präzise Unzuverlässigkeit nicht genau Alexander Kluges Erzählstil? Jene unverwechselbare Art, mit Augenmaß zu erzählen. So schleift er die Facetten des "Augenmaßtopos", indem er selbst mit Augenmaß erzählt. Und zwar über den Band "Das Bohren harter Bretter" hinaus, bis zur Chronik der Gefühle und schließlich auch bis hin zu den augenmaß-genauen Kunststücken der Akrobaten in der Zirkuskuppel: ratlos.
Ratlose Artisten in der Zirkuskuppel – das scheint ein nicht ganz unzutreffendes Bild für die vielgebrauchte "Politik nach Augenmaß" im heutigen Medienzirkus zu sein. Es ist also Skepsis geboten, wenn sich die Politik mit größter Selbstverständlichkeit des Augenmaßes bedient.
Man imaginiert Entscheidungssituation als Landschaft, um sie kraft optischer Fertigkeit gekonnt zu vermessen. Hochachtung aber, wenn jemand die Gabe des Augenmaßes als Technik so schult, bis diese aufs Präziseste messen und urteilen kann. Wer diese Fähigkeit beherrscht, so zeigt der Blick in die Geschichte des Augenmaßes, kann auch Zukunftslandschaften entwerfen. Erweist sich die Vorstellung im Kopf mit der Realität als deckungsgleich, verfügt die Entscheidungsinstanz über ein hervorragendes Augenmaß. Zumal erst das Augenmaß ermöglicht, sich dem Ungewissen zu stellen, das zu jeder noch so gut abgewogenen Entscheidung gehört.
Wir werden uns noch auf das Augenmaß verlassen müssen.
Christian Metz ist freier Kritiker, unter anderem für die "FAZ" und den Büchermarkt im Deutschlandfunk. 2020 wurde seine Arbeit mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet.