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Politische Radikalisierung im Russland der 90er-Jahre

Die Entstehung der radikalen National-Bolschewistischen Partei im Russland der 90er-Jahre bildet die Folie für Zakhar Prilepins Roman. In einem an Maxim Gorki erinnernden Realismus erzählt "Sankya" vom tragischen Leben eines jungen Mannes, der zum Terroristen wird, weil die Verhältnisse sind, wie sie sind.

Von Uli Hufen |
    Wie praktisch alles im Russland der 90er-Jahre war auch die Gründung der National-Bolschewistischen Partei NBP eine verworrene, unübersichtliche Affäre. Wirklich sicher ist nur, dass sich der gerade aus dem französischen Exil heimgekehrte Schriftsteller und Abenteurer Eduard Limonow, die sibirische Punk-Rock-Legende Jegor Letow und der Publizist und Möchtegern-Philosoph Alexander Dugin 1993/4 zusammentaten, um eine Partei zu gründen, die linke und rechte Ideen auf möglichst verwirrende und radikale Weise miteinander verbinden sollte. Die Fahne der Partei erinnerte an die der NSDAP, nur dass anstelle eines Hakenkreuzes Hammer und Sichel im Zentrum prangten. Hauptgegner waren Boris Jelzin, der gerade das Parlament mit Panzern hatte beschießen lassen, der moderne Kapitalismus und der Westen, die gemeinsam verantwortlich gemacht wurden für den totalen Zusammenbruch, den Russland zu dieser Zeit erlebte.

    Schon das Wort Partei war allerdings irreführend, denn zu Beginn handelte es sich um wenig mehr als um einen kleinen Kreis radikaler Künstler, Studenten und Punks.

    Das änderte sich nach der Gründung der Parteizeitung "Limonka". Limonka ist ein russischer Slangbegriff für Handgranate. Mit Hilfe der "Limonka" wurde aus einem Moskauer Künstler-Projekt eine landesweite Jugendbewegung und schließlich die für viele Jahre einzige ernstzunehmende Opposition in Russland. In Moskau und in der Provinz gleichermaßen traten immer mehr junge, desillusionierte, wütende Jugendliche der Partei bei. Nicht weil sie deren verworrenes Programm studiert, abgewogen und für richtig befunden hatte, sondern weil sie instinktiv spürten, dass Limonow, seine Partei, ihre Zeitung "Limonka" und die dort verbreitete Weltsicht Ventile für ihren Wut und ihre Frustration boten.

    Einer dieser wütenden, frustrierten jungen Männer aus der Provinz war der 1975 geborene Zakhar Prilepin. Prilepin trat der NBP 1996 bei, Prilepin diente damals als Polizist in der berüchtigten Sondertruppe OMON, auch in Tschetschenien. Zehn Jahre später schrieb er den Roman "Sankya", der auf seinen Erlebnissen mit und in der Nationalbolschewistischen Partei basiert. Im Zentrum von Prilepins tragischer Geschichte stehen allerdings nicht die glamourösen Führer der Partei. Wer sich für Eduard Limonow interessiert, muss die soeben erschienene Romanbiografie von Emmanuel Carrere lesen. Prilepin geht es um die namenlosen Mitglieder von Limonows Partei und um die Welt, aus der sie kommen. "Sankya" erzählt das tragische Leben eines klugen, freundlichen, verwirrten jungen Mannes, der zum Terroristen wird, weil die Verhältnisse sind wie sie sind.

    Ich, Sascha Tischin, halte euch für Abschaum und Verräter. Ich halte die Macht, der ihr dient, für widerwärtig und abscheulich. Ich sehe - ihr seid Eiter, und die Würmer kochen in euren Ohren. Das ist alles. Haut ab.
    Dann warf er das Megafon durchs Fenster.


    Alexander Tischin, kurz Sascha oder auch Sankya genannt, ist ein junger Mann von Anfang 20 aus dem Moskauer Umland. Er ist ein Sojusnik, ein Mitglied des sogenannten "Bundes der Schaffenden", der klar erkennbar nach dem Vorbild der Nationalbolschewistischen Partei gestaltet ist. Zu Beginn des Romans begegnen wir Sascha und den Sojusniki auf einer Demonstration in Moskau. Er und seine Freunde haben sich unter die alten Männer und Frauen der KP gemischt, die ebenso routiniert wie hoffnungslos mit Lenin- und Stalin-Porträts gegen die Regierung demonstrieren.

    Alles, was hier vor sich ging, bewirkte nichts als Mitleid und Beklemmung.

    Die Demonstration eskaliert, Schaufenster teurer Boutiquen gehen zu Bruch, ein paar Nobellimousinen werden demoliert. Die Polizei jagt die jugendlichen Randalierer durch die Moskauer Innenstadt, erwischt sie, verprügelt sie, bedroht sie. Dann gelingt Sascha und einigen seiner Freunde doch noch die Flucht. Damit geht das erste Kapitel zu Ende und dieses eine Kapitel reicht schon, um zu verstehen, warum die russische Kritik in Zakhar Prilepin 2006 einen neuen Maxim Gorki erkannte. Hier war ein Autor, der wie Gorki 100 Jahre zuvor das verzweifelte, hoffnungslose, graue, kalte Russland in klassisch realistischer Prosa beschrieb. Fern von allen postmodernen Experimenten, fern von jeder Ironie und modischem Zynismus. Leidenschaftlich, zärtlich und ernst. Hier war ein Autor, der wie von selbst in einer radikal entschlackten, lakonischen Straßensprache schrieb. Hier waren vor allem kantige, rotzige, arme, seltsame Helden, wie es sie in der russischen Literatur seit langer Zeit nicht gegeben hat.

    In den nächsten Kapiteln zeigt Prilepin dem Leser das Leben des jungen Sankya Tischin, Facette für Facette. Seine Familie, seine Freunde, seine Stadt. Damit wir verstehen, wie er wurde, was er ist. Wir fahren mit Sankya in der Vorortbahn 500 Kilometer weit vom glamourösen Moskau in die elende Provinzstadt, aus der er kommt. Wir lernen seine traurige, tapfere Mutter kennen, eine Fabrikarbeiterin, die zwischen ihrer harten Arbeit und dem Kampf ums tägliche Brot noch Zeit findet, sich Sorgen um ihren Sohn zu machen. Wir besuchen ranzige Cafés und spazieren über dreckige Straßen und Höfe, wir sind in engen Wohnungen voller alter billiger Möbel. Wir essen die billigen Lebensmittel, von denen sich Sankya und mit ihm Millionen in Russland ernähren. Wir besichtigen einen riesigen Supermarkt, in dem Sascha sich außer Zigaretten nichts leisten kann. Wir fahren in das sterbende Dorf, in dem Sankyas Großeltern dem Tode entgegen vegetieren. Die allgemeine Hoffnungslosigkeit und die Armut sind mit Händen zu greifen. Und je näher einem dieses Leben kommt, je mehr man das alles beinahe zu spüren meint, um so plausibler werden die Wut und die Leidenschaft und die Verzweiflung von Sankya und seinen Freunden, die allesamt ebenso bleich und ausgemergelt sind, wie er selbst, und von großen Ideen und heldenhaften Taten träumen. Wir bewundern ihren Mut und ihre Leidensfähigkeit, wenn sie zum xten Mal von der Polizei verprügelt und gefoltert werden. Wir bestaunen die Zärtlichkeit und Loyalität, zu der sie untereinander fähig sind. Und wir begreifen die Entschlossenheit, mit der sie es ablehnen, ein Teil dieses neuen Russlands zu werden, ein Rädchen im System.

    Mich interessiert Ihre Freiheit nicht, ich mache mir Sorgen um meine Heimat, ihren Boden, ihre Kinder, ihre Arbeiter, ihre Alten. Ihre Freiheit kümmert mich nicht.

    Schleudert Sankya einem alten Bekannten entgegen, des es zu etwas gebracht hat im neuen Russland und liberale Werte vor sich herträgt.

    "Liberaler - ist das jetzt ein Schimpfwort?" fragte Besletow. Er war noch nicht ernsthaft böse geworden, in seine Rede mischte sich aber unüberhörbare Herablassung. "In Russland ist das schlimmer als die Pest", antwortete Sascha einfach.

    Besletow kaute sorgfältig und schluckte das Essen langsam herunter.
    "Was ist denn Liberalismus, Sascha'" fragte er schließlich. "In eurem Verständnis?"

    "Kratzt man den Lack ab, bleibt nichts als Habgier und Wucher, vermischt mit der berüchtigten Wahlfreiheit, von der Sie sich übrigens leicht und im Namen der, naja, der Erhaltung der ökonomischen Komponente der liberalen Idee lossagen."


    Das sind die Alternativen im neuen Russland: Besletow, mit dem Sankya Tischin hier streitet, ist ein alter Bekannter, jemand, der vielleicht auch ein Freund hätte werden können. Zwischen Besletow und Tischin liegen keine Welten, es gab Zeiten, da haben sie sich gut verstanden, sich für einander interessiert. Doch dann entschied sich der Hochschullehrer Besletow dafür Karriere zu machen und wurde Berater des Gouverneurs. Für Sascha Tischin, der Nachname leitet sich übrigens vom russischen Wort für Stille ab, für Sascha Tischin kommt ein solcher Kompromiss mit der Macht und den Zuständen nicht infrage. Warum das so ist, was den Unterschied ausmacht zwischen Besletow und Tischin - Prilepin kann und will es nicht erklären. Er erklärt auch nicht, woher die vielen kruden Ideen kommen, die Sankya und seine Freunde im Kopf haben. Er weiß nur, dass Russland randvoll ist mit zornigen jungen Männern wie Sankya. Er kennt sie, er war selber einer von ihnen, er kann sie beschreiben und verstehen.

    Zakhar Prilepin hat einen Ausweg gefunden aus Frustration und Hoffnungslosigkeit, er hat sich den brennenden Wunsch etwas zu tun, etwas zu ändern und dem Leben einen Sinn zu geben erfüllt, indem er Schriftsteller wurde. Nicht irgendein Schriftsteller übrigens, sondern der berühmteste seiner Generation, mit Preisen im In- und Ausland überhäuft, gesellschaftlich engagiert und noch immer Mitglied der seit 2005 offiziell als extremistisch verbotenen Nationalbolschewistischen Partei. Sankya Tischin findet diesen Ausweg nicht. Er greift zur Waffe.


    Zakhar Prilepin: Sankya.
    Aus dem Russischen von Erich Klein und Susanne Macht
    Matthes & Seitz 2012, 362 Seiten, 22,90 Euro