Ein warmer Herbstabend am Stadtrand von Kiew. Andrej Bubejew und seine Frau Anastasija sitzen auf den Treppenstufen vor ihrem Häuschen. Der kleine Sohn Jarik sammelt Walnüsse. Nur die Mücken stören das Kleinfamilienglück. Andrej kann es kaum fassen.
"Es ist einfach schön hier. In Kiew sind wir unter Gleichgesinnten. In Russland waren wir Volksfeinde."
Seit Ende August leben die Bubejews in Kiew.
"Uns helfen Leute, die wir gar nicht kennen. Ich hoffe, all das Schlechte ist vorbei und unser Leben läuft jetzt mal gut weiter."
"Die Wächter haben ständig versucht, mir das Leben schwer zu machen."
Die Spuren der Haft sind Andrej noch immer anzusehen. Sein kurz geschorenes Haar ist kaum nachgewachsen, sein Körper ausgezehrt. Zwei Jahre und drei Monate saß er in Russland hinter Gittern, verurteilt wegen Separatismus und Extremismus - nur weil er einen proukrainischen Artikel im Internet geteilt hatte. Darin hieß es: Die Krim gehört der Ukraine.
"Die meisten Leute sitzen ja im Gefängnis, weil sie irgendetwas geklaut haben. Ich aber bin gegen den russischen Staat aufgetreten. Die Wächter haben das offenbar persönlich genommen und ständig versucht, mir das Leben schwer zu machen."
Mehrere Wochen verbrachte der nun 42-Jährige im Karzer, einer feuchten, ungeheizten Einzelzelle, einmal bei minus 40 Grad Außentemperatur.
"Ich wurde dort untergebracht, damit ich nicht mit anderen Häftlingen rede, ihnen nicht erzähle, weshalb ich sitze und was im Land passiert. Wenn ich ihnen nämlich erklärt habe, dass ich einen Artikel im Internet geteilt habe, dann haben sie sich wirklich gewundert: Dafür kommt man in den Knast?"
Die Verwandtschaft rückte ab
Rückblende: Twer in Zentralrussland, Frühjahr 2016. Anastasija ist auf dem Weg zum Gericht. Eine Verhandlung steht an. Es ist eine der wenigen Möglichkeiten für die beiden, einander zu sehen, wenn auch nur durch eine Glaswand, denn Andrej sitzt im Gericht in einer Art Aquarium. Anastasija muss vorher den Sohn unterbringen.
Ihre Mutter ist Ärztin. Sie arbeitet in einer Poliklinik in Twer. Auf dem Flur vor ihrem Behandlungszimmer warten Patienten. Sie hat eigentlich gar keine Zeit, küsst ihren Enkel, rückt ihm einen Hocker zurecht, legt Zettel und Malstift darauf. Zu dem Prozess gegen ihren Schwiegersohn äußert sie sich nur widerwillig.
"Ich habe da meine eigene Meinung. Natürlich will ich, dass mein Schwiegersohn so schnell wie möglich freikommt. Damit die Familie wieder zusammen ist. Aber irgendetwas wird schon dran sein an den Vorwürfen. Nichts passiert doch ohne Grund."
Nicht nur die Verwandtschaft rückte ab. Anastasija Bubejewa war nach der Verhaftung ihres Mannes weitgehend auf sich gestellt.
Ausreise Hals über Kopf
In Kiew dämmert es mittlerweile. Jarik leuchtet mit einer Taschenlampe in die Büsche, hinters Haus. In den letzten anderthalb Jahren sei das Verständnis der Russen für die Menschen in der Ukraine noch kleiner geworden, auch in ihrer Familie, sagt Anastasija.
"Wir haben angedeutet, dass wir in die Ukraine gehen wollen. Die Reaktion war: Warum das denn? Die Leute sind vollständig von der Propaganda geprägt. Für sie ist die Ukraine der Feind Nummer eins. Und wenn wir früher ideologische Feinde waren, sind wir jetzt nahezu physische Feinde."
Anastasija hatte die Papiere für die Flucht aus Russland in die Ukraine bereits während Andrejs Haft beantragt. Ihr Mann ist auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren, sein Vater hat dort zu Sowjetzeiten gearbeitet, damit hat Andrej ein Anrecht auf die ukrainische Staatsbürgerschaft. Ausgereist sind sie Hals über Kopf, mit zwei Taschen Gepäck.
"Als ich aus der Haft entlassen wurde, haben mich Journalisten aus Moskau in Empfang genommen und nach Hause begleitet. Abends haben wir sie in Twer zum Bahnhof gebracht. Dort wurden wir alle von der Polizei festgenommen, uns wurden die Pässe weggenommen und sie haben lange beraten, was sie mit uns machen. Das war kein Zufall. Sie haben gezeigt: Wir haben euch auf dem Schirm. Wir haben dann ein Taxi genommen, sind über Umwege nach Moskau gefahren, haben dort die letzten Einreisepapiere bekommen und sind direkt zum Bahnhof und in den Zug in die Ukraine gestiegen."
"Wir wollen nur mit einem reinen Gewissen leben"
Die drei zeigen das Haus. Das Zimmer ist spartanisch eingerichtet, zwei Betten, ein Tisch, ein Spülbecken. Sie wohnen zur Miete. Ein ukrainischer Reporter hat die Bleibe vermittelt. Anastasija kocht Tee, serviert Kekse. Andrej ist Elektroingenieur, ihm wurden in der Ukraine bereits zwei Jobs angeboten, doch erst einmal will er sich erholen.
"Wir haben nicht vor, die Welt zu verändern. Wir wollen nur so leben, wie wir es für richtig halten, mit einem reinen Gewissen. Unser Wertesystem passte mit dem der russischen Gesellschaft nicht mehr zusammen."
Andrej rät allen Gleichgesinnten, Russland ebenfalls zu verlassen, ehe es zu spät ist.
"Wenn eine riesige Herde von Tieren rennt und du stellst dich ihr entgegen, dann macht sie dich platt. Die Menschen in Russland sind infiziert von der Propaganda, von diesem imperialen Revanchismus und Chauvinismus. Sie stehen wirklich dahinter, sie denken wirklich so. Das finde ich am Schlimmsten. Und wer nicht mitmarschiert, für den hat es keinen Sinn, in Russland zu bleiben. Man lebt schließlich nur einmal. Zu bleiben, nur um im Gefängnis zu sitzen und zu beweisen, ich bin dagegen - das hat keinen Sinn."