Gerd Breker: In Berlin in unserem Hauptstadtstudio begrüße ich jetzt den Politikwissenschaftler Claus Leggewie. Guten Tag, Herr Leggewie.
Claus Leggewie: Guten Tag, Herr Breker.
Breker: In Ihrem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" zitieren Sie Trotzki. "Ihr mögt euch für den Krieg nicht interessieren, aber der Krieg interessiert sich für euch." Der IS führt Krieg gegen uns?
Leggewie: Ja schon. Wie soll man das anders bezeichnen. Ich habe damit nicht zum Krieg aufgerufen. Ich habe nur versucht, aus der Angst, der ersten, und dem Hass, den man dann auf die Täter entwickelt, so etwas wie Eiseskälte des Verstandes zu entwickeln und den Gegner jetzt genau zu beobachten, zu analysieren, um ihn dann auch bekämpfen zu können.
Breker: So sollten wir antworten, mit kühlem Verstand?
Leggewie: Unbedingt. Das was im Moment läuft, ist ein bisschen viel Gerede, und wir sollten genauer hinschauen. Im letzten Beitrag die Dame vom Präventionsrat hat es eigentlich sehr genau gesagt, dass wir sehr viel versäumt haben in den Kenntnissen über die Szene. Wenn wir es noch mal ein bisschen vergleichen mit den Terroranschlägen, die wir in den 70er-Jahren seitens der RAF hatten: Da haben wir damals auch erst begriffen, was die Motive sind und was man vielleicht gegen die RAF tun kann, wenn man sie verstanden hat. Und ich vergleiche das. Das heißt nicht, ich setze es gleich. Es sind heute sehr unterschiedliche Akteure da und die - da werden Zahlen genannt: 750 Dschihadisten -, die muss man tatsächlich genau beobachten, dann muss man sich fragen, was treibt die an, was haben die für Motive, und dann kann man eventuell auch den Kampf um die Köpfe gewinnen.
"Gemeinsam ist die Terrorstrategie"
Breker: Sie sehen durchaus Ähnlichkeiten zum deutschen Herbst, die weitergehen als nur in der Tatsache, dass jetzt auch wieder Herbst ist?
Leggewie: Die Gemeinsamkeiten? Wenn man vergleicht, sagt man nicht, man setzt etwas gleich, sondern man arbeitet auch die Unterschiede heraus. Gemeinsam ist die Terrorstrategie, die Destabilisierung der Verunsicherung. Das ist ja auch im Moment sehr erfolgreich. Das heißt, das gewöhnliche Leben wird ein Stück weit außer Kraft gesetzt. Die Hoffnung der RAF war damals eine ganz andere als die der Dschihadisten heute. Sie wollten das kapitalistische System treffen, sie haben sich die höchsten Repräsentanten des Kapitalismus, der Gerichte, auch der Politik als Mordopfer ausgesucht, und zivile Opfer waren in dem Fall damals in Kauf genommene Kollateralschäden. Ulrike Meinhof hat damals gesagt, natürlich kann geschossen werden. Aber das, was wir im Moment erleben, dass praktisch der Straßenkampf aus dem Irak, aus Syrien in eine Stadt wie Paris übertragen wird, das war nicht im Konzept der RAF. Die RAF hat auch nicht die Symbole des Dschihadismus, zum Beispiel zusammenbrechende Türme in New York oder Panik im Stade de France in Paris gesucht. Sie hat eigentlich eine Propagandatat ausgeübt und hatte die illusionäre Hoffnung, dass das Proletariat oder die deutsche Bevölkerung dann zum Klassenkampf schreitet.
Damals ist sehr viel falsch gemacht worden. Man hat sehr viel Freiheit aufgegeben, um vermeintliche Sicherheit zu gewinnen. Den Fehler müssen wir heute vermeiden. Was wir hingegen uns anschauen sollten ist, genau zu analysieren, woher eigentlich die Faszination des Dschihad, die Sympathie auch für solche wirklich unaussprechlichen Taten, die dort erfolgt sind, woher die kommt und woher dann auch die Unterstützung kommt. Es gibt eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit zwischen der frühen RAF und den heutigen Dschihadisten. Wenn Sie sich erinnern: Der erste Anschlag der später zur RAF formierten Rote-Armee-Fraktion, nannten die sich, war ein Anschlag auf ein Kaufhaus. Das heißt: Den Konsumterror, wie man das damals ausgedrückt hat. Auch hier haben Sie ja ähnliche Motive bei den Pariser Tätern, die sagen, Paris - und hier ist es religiös überhöht - ist eine Stadt des Lasters, der Unzucht, des Ehebruchs und dergleichen mehr. Das heißt, hier gibt es einen Aufstand gegen die vermeintliche Dekadenz unserer Lebensform, und das trifft natürlich diese Demokratien ins Mark. Demokratien sind nicht nur Herrschaftsformen, sondern auch Lebensformen. Wir wollen natürlich unbeschwert eine Stadt genießen. Wir wollen uns natürlich erfreuen. Wir wollen auch genießen. Und genau da setzt der Hass der Dschihadisten an, weil sie das alles kennen, aber gewissermaßen nur als Zaungäste von außen, und das möchten sie zerstören.
Breker: Herr Leggewie, ein gravierender Unterschied war natürlich auch, dass damals die RAF-Mitglieder leben wollten. Selbstmordanschläge hat es zu der Zeit nicht gegeben. Die gibt es aber jetzt. Wie kann das geschehen?
Leggewie: Die Selbstmordattentäter sind auch im Milieu linksradikaler terroristischer Gruppen entstanden, damals bei den japanischen Roten-Armee-Fraktionen. Die gingen damals auf den Flughafen in Tel Aviv, in Lod und sprengten sich in die Luft, und das wiederum steht in der Tradition der Kamikaze-Kämpfer. Die Terroristen in Paris werden jetzt auch in der französischen Presse als Kamikaze bezeichnet. Aber in der Tat: Hier sehen wir einen ganz markanten Unterschied. Hier gibt es Leute, denen kann man nicht damit drohen oder kommen, dass man sagt, wir werden euer Leben bedrohen. Das ist in ihrem Kalkül drin. Wenn der Anschlag misslingt, sprengt man sich eben mit einem Sprengsatz selbst in die Luft, oder die Auslösung dieses Sprengsatzes ist der Auslöser für den Mord an anderen. Da kommt die religiöse Komponente hinein, die bei den kommunistischen Bewegungen natürlich so nicht war. Die Gläubigkeit war auch groß, dieses über alles setzen des eigenen Ziels, für das man auch über Leichen geht. Da ist durchaus eine Gemeinsamkeit zwischen anarchistischen oder auch staatsterroristischen Kräften im Kommunismus gewesen. Aber hier wird das alles religiös überhöht und die religiöse Überhöhung, die kennt keine Teilung von Konflikten mehr. Die kennt auch nicht die Rücksicht aufs eigene Leben. Da setzt man eben alles ein und alles aufs Spiel, inklusive der eigenen Existenz.
"Sie wollen einen Konflikt zu unserem System"
Breker: Sie haben es eben schon angedeutet, Herr Leggewie. Es sind ja oft Eigengewächse, die sich vom IS faszinieren lassen. Was ist denn das, was so fasziniert? Ist das die Brutalität? Sind das die Erfolge des IS in Irak, in Syrien? Was fasziniert?
Leggewie: Ja, so etwas hat eine Anziehungskraft. Die Bilder, die speziell in den sozialen Medien, im Netz zirkulieren, die triumphierende Soldaten Gottes zeigen, das übt eine gewisse Faszination aus. Aber warum übt es eine Faszination auf Leute aus, die bis vor wenigen Jahren noch ganz normal in Dinslaken oder in Wolfsburg oder wo auch immer gelebt haben? Es müssen Leute sein, die von unserem System massiv enttäuscht sind, für die es auch keine Anstrengung oder eine Absicht sein kann, sich in dieses System zu integrieren. Würden sie das tun - das gilt speziell jetzt für die französischen Dschihadisten - wie noch die Generation der Einwanderer vorher, sie sehen darin eine Entehrung. Sie wollen genau das nicht. Sie wollen einen scharfen Antagonismus, einen Konflikt zu unserem System. Das ist unsere Lebensweise, das ist die Demokratie, das ist die Gleichberechtigung der Geschlechter, das ist eine bestimmte sexuelle Orientierung, die hier möglich ist. All diese Dinge sind im scharfen Gegensatz zum Denken dieser Dschihadisten, die von einer primitiven, pseudo-islamischen Weltanschauung angetrieben und zu solchen Taten veranlasst werden.
Breker: Sie haben auch die Prävention erwähnt, Herr Leggewie. Wie und wo kann die denn ansetzen?
Leggewie: Das ist natürlich die große Schwierigkeit, ob man die, sagen wir mal, Gefährdeten - wir reden nicht über die Gefährder; hier muss man ganz klar natürlich dann auch mit polizeilichen und geheimdienstlichen Mitteln operieren; reden wir über die Gefährdeten -, ob man die noch erreichen kann. Ich glaube, man kann sie in den Moscheen erreichen. Ich glaube, es ist ein Unding, dass in Deutschland ein großer Teil der Moscheen unter Kontrolle zum Beispiel des türkischen Staates oder obskurer arabischer Vereine stehen. Die Ausbildung von Imamen, die eine ganz andere Version des Islam dann auch predigen könnten und dann auch Einfluss nehmen können im erzieherischen Sinne auf jugendliche Gefährdete, das ist ganz wichtig. Es gibt Bezirke - da wird im Moment immer der Brüsseler Bezirk Molenbeek genannt -, die gewissermaßen aufgegeben worden sind, nicht nur von den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, sondern auch von der Polizei, das darf natürlich nicht geschehen. Das heißt, der Kontakt muss wieder hergestellt werden, und ich weiß, das ist unendlich schwierig.
Breker: Im Deutschlandfunk war das die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie. Herr Leggewie, ich danke für dieses Gespräch.
Leggewie: Vielen Dank auch.
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