Plickert machte zunächst klar, dass die deutschen Sicherheitsbehörden in der Vergangenheit die extremistischen Gefahren im Land "im Griff" gehabt hätten. Er nannte als Beispiele die Sauerland-Zelle und die Kofferbomber von Bonn.
Dennoch, unterstrich Plickert: Heute gebe es 1.000 Salafisten im Land. 500 Extremisten seien in die Kriegsgebiete im Irak und Syrien gereist. Und 180 bis 200 seien zurückgekehrt. Für die Rund-um-die-Uhr-Überwachung eines Verdächtigen benötige man 25 Polizisten.
Und das sei eines der Probleme der inneren Sicherheit: Sie sei in den letzten Jahren fast kaputt gespart worden. Bei der Polizei seien 15.000 Stellen abgebaut worden. Wer jetzt daran denke, weiter zu sparen, der spiele extremistischen Gruppierungen in die Hände. Wörtlich sagte Plickert: "Wir können uns nicht klonen."
Sechs Monate rekonstruieren
Ausdrücklich sprach sich der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) für die Vorratsdatenspeicherung aus. Damit hätte man die Taten von Paris vielleicht nicht verhindert. Aber danach könnte man schauen, mit wem die Täter in den vergangenen sechs Monaten Kontakt gehabt hätten, wo sie sich aufgehalten und welche Seiten sie im Internet besucht hätten. Deutschland müsse sich fragen, so Plickert, was dem Land die innere Sicherheit wert sei. Dazu zähle auch, dass man die Kooperation mit den Diensten anderer Länder verbessere.
In Deutschland wird seit den Anschlägen von Paris kontrovers darüber diskutiert, ob die geltenden Gesetze verschärft werden sollten. Die CSU-Landesgruppe im Bundestag trat dafür ein, die Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière, CDU, zeigte sich dem aufgeschlossen. Justizminister Heiko Maas, SPD, lehnt das dagegen ab.
Im Gespräch ist außerdem - unter anderem - eine Verschärfung des Strafrechts. Hintergrund ist eine UNO-Resolution vom vergangenen September. Darin wird die internationale Gemeinschaft aufgefordert, bereits die Ausreise von Islamisten in Kriegsgebiete wie Syrien und Irak unter Strafe zu stellen - wenn die Ausreise mit dem Ziel erfolgt, dort Gewalttaten zu begehen oder an einer terroristischen Ausbildung teilzunehmen. Justizminister Maas hat bereits im vergangenen Herbst angekündigt, dazu einen Gesetzentwurf zu präsentieren.
Das vollständige Interview:
Martin Zagatta: Guten Morgen, Herr Plickert!
Arnold Plickert: Schönen guten Morgen, Herr Zagatta!
Zagatta: Herr Plickert, der französische Premierminister Valls, der spricht jetzt schon von einem Versagen der Sicherheitskräfte, weil die Attentäter polizeibekannt gewesen seien, und Experten hierzulande sagen, dass die deutschen Sicherheitsbehörden, dass die noch weit schlechter aufgestellt seien als die französischen. A) Stimmt das, und muss einem nicht, b), dann angst und bange werden?
Plickert: Zum einen kennen wir diese Reflexe und Reaktionen, wenn wir so Delikte haben: Die Öffentlichkeit will eben Antworten auf die Fragen, wie ist das möglich – und dann kommen die Sicherheitsbehörden natürlich immer in den Fokus, kommen unter Druck. Ich würde das zunächst erst mal nicht einschätzen. Wir haben in der Vergangenheit in Deutschland bewiesen und gezeigt, dass wir diese extremistischen Gruppen im Griff haben. Ich denke da an die Kofferbomber in Bonn, ich denke an die Sauerland-Gruppe, also terroristische Zellen, die im Vorfeld letztendlich auch bekämpft werden konnten.
Zagatta: Kofferbomber in Bonn – war das nicht reiner Zufall, dass das aufgedeckt wurde?
Plickert: Ja, sicherlich, aber die Leute waren auch im Fokus in dem Sinne. Deswegen: Die Kritik ist nicht ganz unberechtigt, wobei ich auch sagen will: Jetzt bitte keine Hysterie! Aber wir brauchen natürlich als Polizei auch die Instrumente. Also ich habe ja selber vor vier Wochen in den Medien gesagt, es laufen tickende Zeitbomben durch die Gegend. Dass ich da so schnell mit Recht behalten habe, bedauere ich letztendlich fast. Aber wir haben – wenn ich alleine die Situation bei uns anschaue – wir haben circa 1.000 Salafisten, die wir als gewaltbereit ansehen, wir haben circa 550, die in die Kriegsgebiete ausgereist sind, die dort an Waffen, an Sprengstoffe beschult worden sind, die kommen radikalisiert zurück, und wir gehen von einer Größenordnung in Deutschland von 180 bis 200 aus, die sich hier wieder befinden und wo man große Sorge haben muss.
Zagatta: Und wenn die so polizeibekannt sind: 180 bis 200 – ist das dann so viel, dass man die nicht vernünftig überwachen kann? Ist man da machtlos?
Plickert: Wir berechnen ... Für eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung an sieben Tagen gehen wir von einer Personalgröße von 25 Kolleginnen und Kollegen aus. Und da ist eines der Probleme zu suchen: Die innere Sicherheit – und das sage ich nicht jetzt mit dem Hintergrund der Anlässe der Woche, das sagen wir schon seit Wochen und Monaten –, die innere Sicherheit ist, wenn man es ein bisschen provokant sagen will, fast kaputtgespart worden. Das gilt nicht nur für Polizei, das gilt auch für Justiz. Bei der Polizei sind in den letzten Jahren 15.000 Stellen abgebaut worden. Und wer bei dieser Sicherheitslage, so, wie wir sie jetzt haben, die auch von keinem bestritten wird, wer jetzt noch darüber denkt, Polizei abzubauen, der spielt diesen Gruppen in die Hand.
Zagatta: Jetzt sagt aber der SPD-Fraktionschef Oppermann, wenn ich den richtig zitiere, diese Syrien-Rückkehrer in Deutschland, die müssten jetzt einfach auch intensiver überwacht werden, notfalls rund um die Uhr. Ist es da jetzt mit ruhigem Beamtenleben vorbei?
Plickert: Ja, wir können uns nicht klonen. Wir haben die Anzahl der Kollegen, die zur Verfügung stehen, wir machen zwei Millionen Überstunden. Wenn Herr Oppermann das so schön sagt, dann soll er uns auch sagen, wer das bei der Polizei machen kann. Also Polizei ist so ein Beruf, da mache ich keine Stellenausschreibung und da kann ich übermorgen einstellen – die Kolleginnen und Kollegen werden drei Jahre ausgebildet. Das heißt, wir sind jetzt schon im Jahr 2018, wenn ich Polizei einstellen würde. Das heißt, kurzfristig kriegen wir gar nicht mehr Personal. Aber da müssen perspektivisch Entscheidungen getroffen werden und es müssen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten einfach auch jetzt Überlegungen angestellt werden, ob wir eben einfacher auf gewisse Daten zurückgreifen können, Telekommunikationsdaten, also das leidige Thema, was so aus politischem Kalkül aus meiner Sicht ...
Zagatta: Vorratsdatenspeicherung.
Plickert: Vorratsdatenspeicherung – ein Bereich, wo eine hysterische Diskussion nach NSA geführt wird. Wenn ich sehe, dass manche Zielgruppen nächtelang vor einem Laden stehen, weil ein neues I-Phone auf den Markt kommt, wo jeder weiß, dass da der Server in Amerika steht und NSA alle Daten davon abgreift, und am anderen Tag aber sagt, Vorratsdatenspeicherung ist Teufelswerk, dann stimmt das Verhältnis nicht mehr. Dann müssen wir mit dem Bürger sprechen, wir müssen den aufklären und wir müssen dem genau sagen, wie dieses System abläuft.
Zagatta: Aber diese Debatte, die haben wir doch ständig wieder. Ist das nicht mittlerweile fast schon so eine Scheindebatte – wird ständig wieder gefordert, wird nicht umgesetzt?
Plickert: Ja, ich will auch sagen, mit Vorratsdatenspeicherung hätten wir die Taten in Frankreich nicht verhindern können.
Zagatta: Das ist das Argument der Opposition.
Plickert: Genau.
Zagatta: Was würde es dann in der Praxis überhaupt helfen?
Plickert: Wir würden aber dann danach schauen können, wenn wir Daten bekommen: Mit wem haben diese Personen in den letzten sechs Monaten kommuniziert? Wir könnten feststellen: Wo haben die sich aufgehalten? Wir könnten feststellen: Vieles in dem Bereich des Terrorismus läuft im Internet. Wir könnten sehen: Wer verkehrt auf diesen Internetseiten? Wer hat Zugriff? Wer kommuniziert mit wem? Und daraus könnten unsere Geheimdienste und andere dann Schlüsse ziehen: Wir könnten sehen, wie sind die Zielgruppen strukturiert, und wir könnten dann auch präventive Maßnahmen treffen.
Zagatta: Herr Plickert, das ist eine alte Diskussion. Auch wenn Sie jetzt solche Aussagen hören wie von Herrn Oppermann, die Syrien-Rückkehrer müssten intensiver überwacht werden, notfalls rund um die Uhr – fühlen Sie sich von der Politik da, na ja, ich gebrauche da einen bestimmten Ausdruck nicht, fühlen Sie sich im Stich gelassen?
Plickert: Ja, sicher fühlen wir uns im Stich gelassen. Unser Ziel ist es, diese Taten zu verhindern, und deswegen brauchen wir die Instrumente dafür. Und die Politik, das ist auch eine Erkenntnis aus der Vergangenheit, reagiert immer nur in dieser Frage auf Druck. Eine entscheidende Rolle ist hier auch die Schuldenbremse. Die scheint im Moment hier in Deutschland alles in den Hintergrund zu stellen. Und das ist auch eine perspektivische Frage für die Zukunft: Was ist der Bundesrepublik die Demokratie und damit auch die innere Sicherheit wert? Und dieses ständige Sparen in Haushalten, was Personalstellen und ich sage auch Motivation ... Es wird ja hier immer wieder so die Diskussion geführt, was finanzielle Bezahlung betrifft. Also meine Kolleginnen und Kollegen sind es auch mittlerweile leid, dass wir um jede Erhöhung auf die Straße gehen müssen und kämpfen müssen. Das hat auch was mit Motivation und den Rahmenbedingungen zu tun, und die müssen sich verändern.
Zagatta: Warum hört die Politik nicht auf Sie? Sie sind da ja wahrscheinlich im Gespräch.
Plickert: Tja, weil wir bisher eine ruhige Lage haben. Wir haben dafür gesorgt, dass die innere Sicherheit weitestgehend stabil ist, aber die Zahlen, die ich gerade genannt habe, die werden nicht rückläufig werden. Wir gehen davon aus, dass wir also in den nächsten Jahren – und es wird kein kurzfristiges Phänomen sein – noch viel mehr junge Menschen haben, die sich instrumentalisieren lassen, die ausreisen. Und da brauchen wir eben auch Personal in den Verfassungsschutzämtern, wir brauchen Analyse- und Auswertestellen. Es nützt mir nichts, wenn ich die Erkenntnisse auf einem hohen Papierstapel habe – ich muss sie kurzfristig bearbeiten können.
Zagatta: Herr Plickert, und abgesehen von dieser Diskussion, eins wollte ich Sie auf alle Fälle mal fragen. Vielleicht ist das naiv, aber: Am Flughafen, da müssen Sie jede Nagelfeile abgeben, wenn Sie reisen wollen. Wie kommt man in Deutschland oder in Frankreich an Kalaschnikows und Panzerfäuste? Ist das für solche Islamisten, wie wir das jetzt in Frankreich erlebt haben, ist das kein Problem?
Plickert: Ja, auch das ist ein Punkt: Wir brauchen eben Möglichkeiten, dass wir sehen, aha, wie laufen Finanzströme, wenn diese Terrorgruppen eben aus Ländern wie Jemen, Libyen, Irak, Afghanistan unterstützt werden, wie werden sie unterstützt? Aber es ist eben auch durch Drittländer, wenn ich mal so die Türkei sehe, relativ problemlos, nach Deutschland einzureisen. Viele sind ja auch deutsche Staatsbürger aus dieser Zielgruppe. Da reicht es im Prinzip, dass ich einen Personalausweis habe, und dann kann ich eben grenzfrei durch Europa einreisen und ausreisen. Und das ist natürlich ... Schengen hat eben auch Vorteile, dass ich sehr bewegungsfrei bin, aus sicherheitspolitischen Aspekten aber ist es eine schwierige Situation, eben diese Sachen zu kontrollieren.
Zagatta: Müsste man das wieder kontrollieren können, jetzt unter einer solchen Sicherheitslage? Oder muss man das in Kauf nehmen?
Plickert: Nein, das muss man in Kauf nehmen, das will ich so deutlich sagen. Wir wollen jetzt nicht wieder alles zurückdrehen. Ich denke, das sind positive Bestrebungen. Wir müssen versuchen, diese Zielgruppe eben durch vernünftige Arbeit der Sicherheitsdienste, der Verfassungsschutzbehörden ... Und die Frage, die Sie jetzt zum Schluss gestellt haben, ist eine Frage: Wie werden wir zukünftig mit den Geheimdiensten der anderen Länder zusammenarbeiten? Und ich glaube, da gibt es auch noch Ansatzpunkte, dass unsere Geheimdienste sich europaweit besser vernetzen können, es gibt heute schon einen Austausch, dass wir mit dem amerikanischen Geheimdienst vielleicht besser zusammenarbeiten können. Da bekommen wir genau diese Informationen.
Zagatta: Genau. Das soll jetzt, glaube ich, auch am Sonntag besprochen werden da bei einem Treffen der europäischen Politiker mit den USA. Arnold Plickert war das, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei Nordrhein-Westfalen und auch stellvertretender Bundesvorsitzender der GdP. Herr Plickert, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Plickert: Ich danke ebenfalls!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.