Satelliten wie "Grace", die die Anziehungskraft der Erde vermessen, brachten es an den Tag: Unser Planet ist eine Kartoffel. Daran jedenfalls erinnert das Bild der Schwerefeld-Anomalien, denn die Massen in der Erde sind ungleichmäßig verteilt. Diese inneren Unwuchten zerren an der Rotationsachse, ebenso Prozesse an der Oberfläche wie Masseverlagerungen in den Ozeanen oder der Atmosphäre. Die Erde taumelt deshalb, und die präzisen Messungen dieser sogenannten Polschwankungen reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert. Forscher der NASA haben nun diese lange Messreihe mit Daten der beiden "Grace"-Satelliten kombiniert:
"Wenn wir uns die 115 Jahre weit zurückreichenden Aufzeichnungen anschauen, sehen wir, dass sich der geographische Nordpol während des gesamten 20. Jahrhunderts pro Jahr um ein paar Zentimeter in Richtung der kanadischen Hudson-Bay bewegt hat." Das erklärt Surendra Adhikari vom NASA Jet Propulsion Laboratory. Und der geographische Südpol, er läuft genau in die entgegengesetzte Richtung. Der Grund für diese Wanderungen sind Masseverlagerungen an der Erdoberfläche: Mit dem Ende der jüngsten Eiszeit waren die kontinentalen Eisschilde abgetaut und ins Meer geflossen, und von der Last befreit heben sich seitdem die Landmassen.
"Ungefähr seit der Jahrtausendwende hat sich diese generelle Drift des geographischen Nordpols jedoch verlagert. Sie hat nach Osten gedreht, läuft mit etwa zehn Zentimetern pro Jahr in Richtung Großbritannien. Wir beobachten also eine sehr große Verlagerung der Drift."
Die Pole reagieren auf Masseverlagerungen
Hinter dieser Verlagerung steckt der menschengemachte Klimawandel, glaubt Surendra Adhikari - also das bereits von anderen Wissenschaftlern als Ursache vermutete Abschmelzen der Gletscher und Inlandeismassen in Grönland und der Westantarktis. So hat sich in Grönland seit der Jahrtausendwende das Abschmelzen des Eispanzers beschleunigt. Solche Masseverlagerungen überprägen seitdem die postglazialen Ausgleichsbewegungen.
"Außerdem konnten wir erstmals einen plausiblen physikalischen Mechanismus vorschlagen, warum die Polschwankungen auf einer Zeitskala von acht bis zwölf Jahren oszillieren. Wenn man ihre Bewegung nachvollzieht, verläuft sie nicht gradlinig in die Hauptrichtung, sondern sie schlägt dabei aus wie ein Pendel, mal in die eine und mal in die andere Richtung. Unsere Erklärung: Diese Veränderungen haben anscheinend etwas mit der globalen Verteilung der Wassermassen an Land zu tun."
Diese Oszillation scheint unter anderem das Klimaphänomen 'El Niño' widerzuspiegeln, das Dürren in einem Teil der Welt auslöst und Überschwemmungen in einem anderen:
"Werden Massen verlagert, reagieren die geographischen Pole - egal, ob diese Verlagerungen im Inneren der Erde ablaufen oder an der Oberfläche. Wenn das Grönlandeis schmilzt, nehmen wir Masse von Grönland weg und verteilen sie im Meer. Wenn der Mensch wegen Dürren immer mehr Grundwasser pumpt, verlagert er Massen. Und immer reagieren die Pole."
Für endgültige Antworten noch zu früh
Die genaue Analyse der Polbewegung biete damit ein neues Instrument, um die Entwicklung des Klimawandels im vergangenen Jahrhundert zu verfolgen - etwa, wie sich die Gletscherschmelze verändert habe. Und Jürgen Müller von der Universität Hannover beurteilt die Arbeit seiner Kollegen gegenüber dem Deutschlandfunk mit diesen Worten:
"Ich finde sie sehr interessant, auch deswegen, weil sie verschiedene Beobachtungstechniken und Modellierungen zusammenbringt. Die Arbeit ist bedeutend, weil sie jetzt klare Aussagen macht, wie hoch der Beitrag der Hydrologie an der Polbewegung ist und wie hoch der des Eises."
Der neuen Analyse zufolge ist das Eis für die große Bewegungsrichtung zuständig und die Hydrologie für die kleinen Schwankungen hin und her. Allerdings, so betont Jürgen Müller, sei der Zeitraum von 15 Jahren, für die mit den "Grace"-Daten präzise Schwerefeldmessung zur Verfügung stünden, noch zu kurz für endgültige Antworten.