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Portugal
Chaos in der Justiz

Eine weitreichende Reform sollte der Justiz in Portugal eigentlich helfen - doch das interne Computersystem war der Umstellung nicht gewachsen und stürzte ab. Prozessdaten konnten lange nicht abgerufen werden. Unklar bleibt auch, ob die Reform die Probleme an den Gerichten lösen konnte.

Von Tilo Wagner |
    Die "Justitia", Göttin der Justiz und der Gerechtigkeit, steht auf dem Gerechtigkeitsbrunnen in Frankfurt am Main.
    Die Portugiesen haben kein Vertrauen mehr in ihre Justiz. (picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
    Seit 18 Jahren wartet João Ratinho auf die Eröffnung seines Gerichtsverfahrens. Der heute 77-Jährige verkaufte Mitte der 1990er-Jahre den Pachtvertrag und die Ausstattung seines Lissabonner Bekleidungsgeschäftes - und erhielt einen gefälschten Scheck. Ratinho ist der einzige, der den Prozess überlebt hat: Die Beschuldigten sind tot, der erste zuständige Richter ist tot, Ratinhos Anwalt ist längst im Ruhestand und sein ehemaliges Geschäft ist immer noch geschlossen. Den Zustand der portugiesischen Justiz hält João Ratinho für sehr gefährlich:
    "Wir leben hier praktisch in einem straffreien Raum. Und wenn die Justiz nicht funktioniert, dann funktioniert alles andere auch schlecht. Die Justiz muss effizient sein und schnell reagieren. Es kann doch nicht sein, dass jemand, der ein Verbrechen begangen hat, erst nach, sagen wir mal, elf Jahren verurteilt wird. Können Sie sich vorstellen, was das für die Opfer bedeutet? Die Bürger verlieren das Vertrauen in die Justiz, denn ihre Grundinteressen werden vom Staat nicht geschützt."
    Misstände sind bekannt
    Die Missstände in der portugiesischen Justiz sind seit Jahren bekannt. Mit der Ausnahme Italiens gibt es kein westeuropäisches Land, das in diesem Bereich ähnlich große Probleme hat: Insbesondere Verfahren im Zivil- und Handelsrecht dauern sehr lange an und die Gerichte kommen mit der Bearbeitung neuer Fälle nicht nach. Deshalb war die Hoffnung groß, als Anfang September eine weitreichende Justizreform in Kraft trat: Gerichtsbezirke wurden neu aufgeteilt, Spezialgerichte sind nun allgemein leichter zu erreichen, überlastete Gerichte in den Ballungsräumen erhielten mehr Personal, dafür wurden kleinere Einheiten auf dem Land geschlossen. Doch anstatt Effizienz zu schaffen, brach das große Chaos aus, weil das interne Computersystem überlastet abstürzte. Seit Wochen können Richter und Anwälte deshalb nicht mehr auf Prozessdaten zugreifen. Justizministerin Paula Teixeira da Cruz geriet ins Kreuzfeuer der Opposition, lehnt ihren Rücktritt jedoch ab:
    "Wir haben auf der einen Seite die Justizreform, und auf der anderen Seite die Probleme mit dem Computersystem. Ich werde doch nicht deswegen eine Reform verschieben, die zum Bespiel mehr Spezialgerichte ins Landesinnere bringt. Es wäre schön gewesen, hätten wir die Probleme besser einschätzen oder vermeiden können. Doch ich sage es ganz klar: Es handelt sich hier um eine Computerpanne. Das passiert eben."
    Vertrauen in die portugiesische Justiz gestört
    Auch wenn die IT-Probleme nun nach und nach behoben werden, wenn Portugiesen an die Justiz denken, bleibt ein fader Beigeschmack. Im vergangenen Jahrzehnt ist das Vertrauen in die Justiz so stark erschüttert worden, wie in keinem anderen EU-Land: Nur jeder vierte Portugiese vertraut dem Rechtssystem noch.
    Das lenkt den Blick vieler auf die europäische Ebene. Auch der Rentner João Ratinho hat am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einen Prozess gegen die Lissabonner Behörden geführt, weil sie seine Klage auf Schadensersatz solange liegen ließen. Sein Rechtsanwalt Jorge Alves hat bereits 110 Prozesse gegen den portugiesischen Staat gewonnen. Trotzdem, so Alves, scheuten sich viele seiner Kollegen immer noch, nach Straßburg zu gehen:
    "Immer mehr Portugiesen werden sich der Möglichkeiten bewusst, auf europäischer Ebene zu ihrem Recht zu kommen. Aber viele meiner Anwaltskollegen bieten den nötigen Rechtsbeistand nicht an. Sie sagen, dass sie Angst davor haben, ihre Mandanten in Straßburg bei einem Prozess gegen den portugiesischen Staat zu vertreten. Sie fürchten, dass sie dann in Portugal vom Staat verfolgt oder von den Richtern schlecht behandelt werden. Ich persönlich habe da aber noch keine schlechten Erfahrungen gemacht."
    Moralische Genugtuung
    Auch der Rentner João Ratinho hat seinen Prozess in Straßburg gegen den portugiesischen Staat gewonnen. Das gebe ihm zumindest eine moralische Genugtuung, sagt er. Denn der Schadensersatz, der ihm von den Straßburger Richtern zugesprochen wurde, dürfte nicht einmal reichen, um seine Gerichtskosten zu decken, die er in den vergangenen 18 Jahren zu begleichen hatte:
    "Man sollte meinen, dass der portugiesische Staat mit gutem Beispiel vorrangeht. Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Staat legt gegen die Straßburger Urteile immer Einspruch ein, obwohl er, wie in meinem Fall, ganz eindeutig schuld war. Mein Anwalt hatte mir gesagt: Portugal ist doch fast Bankrott, die können dir ja gar nicht die ganze Summe zahlen, die dir zusteht. Und so kam es auch, aber einen symbolischen Betrag habe ich dann doch noch erhalten."