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Postkarte aus Cannes
Die Kleinen ganz gross

Das Festival in Cannes ist nichts für Kinder - der Festivalpalast ist somit eine kinderfreie Zone. Doch die ersten Wettbewerbsfilme wurden von jungen Schauspielerinnen und Schauspielern dominiert: Auf der Leinwand erlebte der Zuschauer gleich drei Kinder, die das Schicksal zwingt, über sich hinauszuwachsen.

Von Maja Ellmenreich | 18.05.2017
    Schauspieler Jaden Michael posiert bei den Filmfestspielen in Cannes
    Schauspieler Jaden Michael überzeugt in "Wonderstruck" (dpa/Frédéric Dugit)
    Alyosha zerreißt es fast: Doch sein stummer Schrei, sein schmerzverzerrtes Gesicht bleiben unbemerkt. Denn er hat sich hinter die Badezimmertür geflüchtet, während sich seine Eltern in der Küche ihre zu Ende gehende Ehe gegenseitig um die Ohren hauen. Sie beschmutzen einander, beschimpfen sich aufs Ärgste. Doch das Schlimmste: Sie sagen beide frei und frank heraus, dass der zwölfjährige Alyosha in ihren beiden neuen Leben keinen Platz hat.
    Der Junge wird Teil der Scheidungsmasse, deren Verbleib möglichst schnell geregelt werden muss: "Kannst Du ihn nicht nehmen? Oder vielleicht Deine Mutter?" Alyosha muss dieses Tribunal mit anhören. Und so sprachlos wie wir Zuschauer ist auch er. Selbst als seine Mutter zur Toilette geht, merkt sie nicht, wie der Junge sprichwörtlich mit dem Rücken zur Wand steht.
    "Lieblos" wäre auch als Eröffnungsfilm geeignet gewesen
    Der lautlose Aufschrei eines Jungen der aufstrebenden russischen Mittelschicht - ein klassischer Fall von Wohlstandsverwahrlosung. "Lieblos" heißt denn auch der erste Wettbewerbsfilm dieses jungen Cannes-Jahrgangs. Der russische Regisseur Andrej Swjaginzew hat ihn mit an die Croisette gebracht. Und so manch einer im Publikum wünscht sich wohl, dieser Film hätte die Jubiläumsausgabe eröffnet.
    Solch ein Appell, Kinder nicht nur mit Laptop und Smartphone zu versorgen, der hätte dem Festival gut zu Gesicht gestanden. Aber - wie sagte Festivalchef Thierry Frémaux so schön vor einigen Wochen: Das Festival sei nicht politisch, seine Autoren, die Regisseure seien es.
    "Liebe und Krieg"
    Gleich zwei Kinderschicksale beleuchtet der US-Amerikaner Todd Haynes im nächsten Wettbewerbsfilm: Auch Ben und Rose sehnen sich jeweils nach einer Heimat, obwohl ihre Kindheiten ein halbes Jahrhundert auseinanderliegen. Bens liebevolle Mutter ist jüngst bei einem Unfall ums Leben gekommen und hat ihm nicht mehr die Identität seines Vaters verraten können - jetzt macht er sich im fremden New York eigenständig auf die Suche nach ihm.
    Und Rose, das gehörlose Mädchen aus Hoboken, New Jersey, zieht es ebenfalls dorthin, um seiner seiner Mutter nah zu sein, die als gefragter Schauspielstar jedoch keine Zeit für die Tochter hat. Festivaldirektor Frémaux hatte angekündigt, im diesjährigen Wettbewerb werde es um Liebe und Krieg gehen. So beliebig das beim ersten Hören auch klingen mochte - auf die drei Kinderleben in den ersten vier Kinostunden trifft es voll und ganz zu.