Der Sonderforschungsbereich "Transformation postsozialistischer Gesellschaften" war 2012 noch nicht abgeschlossen, da hatten die Jenaer Soziologieprofessoren Klaus Dörre, Stefan Lessenich und Hartmut Rosa einen neuen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft gestellt, für ein Wissenschaftskolleg, an dem Kollegen verschiedener Disziplinen eine Zeit lang zu "Postwachstumsgesellschaften" forschen sollen.
"Wofür wir erst einmal ein paar Wochen gebraucht haben, aber dann relativ schnell und auch relativ intensiv mit der Arbeit begonnen haben."
Hartmut Rosa leitet die jetzige Arbeitsphase des Kollegs. Mit Blick zurück auf die Ausgangssituation sagt er:
"Wir wollten noch einmal ganz genau herausfinden, wie unsere Grundansätze, die auf Beschleunigungsmechanismen, auf Konzeptionen ökonomischer Landnahme, auf Formen politischer Aktivierung schauen, wie die jeweils mit Wachstums- und Steigerungsprozessen verknüpft sind. Also was genau sind die Antriebsmechanismen dafür, dass moderne Gesellschaften permanent wachsen, steigern, innovieren, optimieren müssen? Und der zweite Fokus richtet sich natürlich auf die Frage: Was könnte denn an die Stelle treten? Also was genau müsste sich ändern, um jenseits solcher Steigerungszwänge zu kommen?"
Also wiederum eine Transformation. Diesmal die des Gewinners im Streit der Gesellschaften, des Kapitalismus, der Abermillionen Menschen einen materiellen und sozialen Wohlstand verschafft hat, den es nie zuvor gab. Und der allen anderen Menschen verspricht, dass es ihnen genauso gehen könnte, wenn denn alles beim Alten bleibt, beim Wachstum als Grundlage unseres Wohlstandes. Die Verheißung beinhalte zugleich den Grund für das notwendige Ende dieses Wachstums, meint Hartmut Rosa:
"Da geht meine Überlegung im Moment in die Richtung, zu sagen: Das hängt damit zusammen, dass wir das gute Leben an die Ressourcenlage geknüpft haben, sodass wir denken: Das Leben wird besser, wenn sich unsere Ressourcenausstattung verbessert. Wenn wir reicher werden, gesünder werden, gebildet werden, bessere Beziehungen haben. Was nach meiner Auffassung ein gewisser kultureller Fehler ist, weil: Die Ressourcenverbesserung macht das Leben noch nicht besser."
Hartmut Rosa vergleicht das mit einem Maler, der sich ständig neue Pinsel, schönere Farben, größere Leinwände kauft. Wodurch seine Bilder nicht zwangsläufig bessere Kunst werden.
"Also wenn er darüber vergisst, das Bild wirklich zu malen, dann wird er kein guter Maler. Und so ist es, glaube ich, auch mit uns Menschen: Wenn wir permanent darauf achten, dass wir die Ressourcen fürs Leben steigern, dass sich die Ressourcenausstattung verbessert, dann haben wir damit noch kein gutes Leben. Ich glaube, die Moderne lebt gerade von der Illusion, dass durch Verbesserung der Ressourcenlage die Zukunft besser bewältigbar ist, also Sicherheit geschafft werden kann."
Und Rosa fügt gleich noch ein Bild an: das von konkurrierenden Menschen, die einen steilen Abhang hinauflaufen.
"Wir müssen nach oben laufen, nur um unseren Platz zu halten. Deshalb schaffen wir nicht mehr Sicherheit, und auch nicht ein besseres Leben durch Nach-oben-Laufen, sondern wir sind allenfalls mühsam in der Lage, unseren Platz zu halten, müssen uns dafür aber immer mehr strecken. Das führt zu einer Situation des ‚rasenden Stillstandes', der mit ziemlich viel Frustration verbunden ist und deutlich macht, dass diese Art von Sicherheit nicht herstellbar ist."
Dauerstau auf höchstem Niveau
Harald Welzer, Sozialpsychologe und Direktor der Stiftung "Future Zwei", hat dafür ein anderes, reales Bild gefunden: das Foto einer Autostraße mit zwei Dutzend Spuren, voller Fahrzeuge, aber anscheinend ohne Bewegung. Ein Dauerstau auf höchstem Niveau als Ausdruck der kulturellen Bindung an "ewiges Wachstum" und seine ungewollten Folgen. Doch es geht auch anders, soll die Stiftung jedem Einzelnen von uns beweisen.
"Wir senden wieder Nachrichten aus unserem Universum in das Ihre. Wie Sie wissen, leben wir im Paralleluniversum, nur unseres ist nicht ganz so irre, wie Ihres."
Christoph Süß, Kabarettist und Moderator von "Quer" im bayerischen Fernsehen, liest witzige Nachrichten, also keine echten. Real sind dafür rund 600 Projekte, die die Stiftung zum Weitererzählen und Nachahmen gesammelt und veröffentlicht hat. Harald Welzer erklärt eine Aktion aus Salzburg: Junge Leute haben Rollrasen auf einer Kreuzung ausgelegt und genießen auf ihm das schöne Wetter. Bis er wieder zusammengerollt werden muss. Harald Welzer:
"Normalerweise würden wir über Veränderung von Mobilität nachdenken im Sinne der letzten 40 Jahre Ökokultur, weil es Klimawandel gibt, weil die Erde zugrunde geht oder weil es viel mehr Stürme gibt oder so was in der Art. Das heißt, ich denke Veränderung einer negativen Begründung. Wenn ich das so mache und sage: Eine autofreie Stadt ist auch gut, wenn es gar keinen Klimawandel gibt, weil - die Okkupation des öffentlichen Raumes nur durch ein Mobilitätsfeature macht überhaupt keinen Sinn, dann kriege ich eine ganz andere Begründung für Veränderungsprozesse, für Transformation, auch für das, was man vielleicht selber davon hat."
"Future Zwei" setzt also darauf, die Leitkultur des Wachsens durchlässig zu machen. Je mehr sich daran beteiligen desto besser. Eine praktikablere Lösung sieht Harald Welzer im Moment nicht. Auch nicht in den Wissenschaften, die sich mit den Umweltfolgen von Wachstum beschäftigen. Ernüchtert berichtete er vom Symposium zum 40. Jahrestag der Studie "Die Grenzen des Wachstums", jener Vorausschau auf die kommenden 100 Jahre mit der Aussage: So wie bisher geht es mit dem Verbrauch natürlicher Ressourcen und der Schädigung der Umwelt nicht weiter. Wohlgemerkt: Das war eine Botschaft aus dem Jahre 1972. Zugegen waren auch einige der einstigen Autoren wie Dennis Meadows, berichtet Welzer:
"Dennis Meadows teilte dem geneigten Publikum mit, dass er einen Pfad zu einer nachhaltigen Entwicklung von Gesellschaften nicht mehr sehen könnte. Das wäre vor 40 Jahren bei Erscheinen der Studie noch möglich gewesen; als sie Updates dazu verfasst haben - 10 Jahre später, 20 Jahre später - wäre das noch möglich gewesen. Aber heute sehe er keine Möglichkeit mehr, Gesellschaften auf einen nachhaltigen Pfad noch bringen zu können; dazu sei viel zu viel geschehen, dazu seien die Kurvenverläufe ungeeignet."
Was meint: Der Grad der Gefährdung der Welt sei derart hoch, dass eine Rettung quasi ausgeschlossen sei. Nun gelte es, sich auf die folgenden Katastrophen einzustellen. Wie reagierten die anwesenden, hoch dotierten Wissenschaftler auf diese Botschaft eines bevorstehenden Scheiterns? "Gar nicht", sagt Harald Welzer. "Sie sind dann drei Tage lang nacheinander angetreten, haben ihre PowerPoint-Präsentationen vorgeführt, haben mitgeteilt, dass es ziemlich übel aussieht mit dem Klima oder der Überfischung der Meere oder der Biodiversität etc. etc. Nach all den wunderbaren Slides kam dann in aller Regel der Satz, dass man jetzt dringend was tun müsse, damit das so nicht weitergeht."
Woraus Harald Welzer schloss, dass die Wissenschaftler sich eigentlich selber nicht glauben. Inzwischen befassen sich so viele Menschen mit dem üblen Zustand der Welt, dass er den Begriff "Besorgnisindustrie" ins Feld führt. Zu Recht, wenn man sich das Wachstum der Teilnehmerzahlen inklusive Pressevertreter an Klimakonferenzen vor Augen führt: Aus wenigen Hundert wurden Zehntausende - ohne dass es eine tief greifende Wirkung hat.
"Wir stellen pausenlos Befunde bereit, ohne dass wir uns mit dem Gedanken konfrontieren, was eigentlich ist, wenn wir recht haben. Was bedeutet das für moderne Gesellschaften, wenn die Szenarien, die wir bereitstellen, tatsächlich mit der Realität aufs Engste korrelieren? Was heißt es - das ist hier die Fragestellung bei dem Kolleg - was heißt es für den Kapitalismus, für die basalen Formen der Produktion und Reproduktion, was heißt es für die Demokratie und sonst was? What if we fail?"
Reduziert gut leben
Was ist, wenn alle die auf neue Techniken der Energiegewinnung, auf den "grünen Kapitalismus" und damit wiederum auf Wachstum setzenden Gegenmaßnahmen scheitern? Auch wenn sie mit "Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation" überschrieben sind. Augenwischerei, meint Harald Welzer.
"Die Vorstellung, das Ganze auf Energie zu reduzieren, ist vollkommen verkürzt, technokratisch abgerutscht. Und dann wird aus Transformation so etwas wie ein technisches Projekt, was mit ordentlich Anstrengung, Expertise und Forschungsgeldern sicherlich gut zu meistern ist. Das wird nicht der Fall sein, weil eine reduktive Moderne etwas anderes ist, als die expansive Moderne, unter anderem deswegen, weil sie von der Übung ausgehen muss, wie es denn aussieht, wenn man von allem weniger statt mehr hat. Auch etwas, was man nicht weiß, wie das gehen soll."
Nämlich reduziert gut leben. Auch in Jena nicht. Das Kolleg Postwachstum tastet sich voran, sucht keine politisch akzeptierten, also schnellen und halben Lösungen, sondern forscht am Grunde. Verschlissene Begriffe wie "Entfremdung" wurden und werden kritisch überdacht, woran externe Fellows wie Rahel Jaeggi, Philosophin an der Berliner Humboldt-Universität, zeitweise mitwirken. Ihr neues Buch "Kritik von Lebensformen" wird bald erscheinen. In der Einleitung fragt sie, ob heutzutage nicht jeder seine eigene private Lebensform gefunden hat, garantiert vom liberalen Rechtsstaat. Wird so das eigene Leben zur undurchdringlichen Blackbox, irrelevant für die Gesellschaft? Rahel Jaeggi:
"Die vorliegende Untersuchung ist von der Vermutung geleitet, dass an dieser These etwas nicht stimmt, ja, dass es sich in mancher Hinsicht geradezu umgekehrt verhält. [...] Nicht trotz, sondern gerade angesichts der Situation moderner Gesellschaften - als der 'ungeheuren Macht, die alles an sich reißt', meint Hegel - lässt sich die Bewertung von Lebensformen nicht ins Reservat partikularer Vorlieben und unhintergehbarer Bindungen abdrängen."
Aus ähnlichem Grund will Hartmut Rosa den Begriff "Resonanz" neu etablieren:
"Wenn denn die Diagnose richtig ist, dass die permanente Steigerung der Ressourcenausstattung das Leben gar nicht besser macht, sondern zu wachsender Entfremdung führt, dann stellt sich natürlich die Frage: Was ist denn ein nicht-entfremdetes Leben oder ein gutes Leben?"
Es ist ein Leben, das er "gelingende Resonanzverhältnisse" nennt, in denen wir in guten Beziehungen zu uns selbst und anderen Menschen, zurzeit und zur Natur leben. Mit Esoterik hat das kaum etwas zu tun, so Rosa:
"Resonanz bedeutet, dass wir diese Dinge nicht nur als Ressource oder instrumentell nutzen, sondern dass sie uns etwas bedeuten; dass es Dinge gibt in der Welt - Menschen, Objekte, Erfahrungen - die uns wirklich berühren, die uns zu ergreifen vermögen. Das ist dann so etwas wie eine Resonanzerfahrung. Und damit wir Resonanzerfahrungen machen können, bedürfen wir stabiler Resonanzachsen entlang derer wir wissen: Dort werden wir gebraucht, gemeint; dort hinterlassen wir eine Spur in der Welt, sind in der Lage, Dinge zu bewegen, Menschen zu bewegen, und wir werden auch selber bewegt und berührt."
Der Soziologe Dietmar Wetzel von der Uni Bern ist im Moment Fellow am Kolleg und forscht mit am "Projekt Resonanzen", weniger in der Begriffswelt, sondern an deren Unterfütterung: Menschen sind zu verschieden, als dass es die eine Resonanzerfahrung gleich einer allumfassenden Schwingung geben kann:
"Das ist genau das, was mir für die nächste Zeit ein Stück weit vorschwebt: Programmatik umzusetzen in empirische Perspektive. Wo können wir ein Forschungskonzept entwickeln, damit wir dieses Phänomen nicht nur theoretisch beschreiben, sondern auch empirisch ein Stück weit einzuholen? Also sowohl ethnografisch aber auch mit Interviews zu arbeiten, um dem Resonanzphänomen ein bisschen stärker noch auf die empirische Spur zu kommen."
Wachstum gegen Veränderungen
Viel Stoff also noch, um möglichst viele Facetten des Postwachstums zu ergründen. Umso dringender, Eckpunkte bisheriger Erkenntnisse festzuhalten: Es geht nicht darum, Wachstum generell "abzuwürgen" - die Menschen würden das nicht ohne Gegenwehr hinnehmen.
"Es ist ganz wichtig, dass unsere Idee nicht die ist, zu sagen: So eine Gesellschaft, die wir haben wollen oder wo wir hinwollen, darf nie wachsen oder beschleunigen oder Innovationen hervorbringen. Das wäre ein unrealistisches und auch kein wünschenswertes, sondern ein suizidales Programm."
Es geht um das Ende des expansiven oder gar eskalatorischen Wachstums, das unsere materiellen wie geistig-kulturellen Ressourcen verschlingt, sagt Hartmut Rosa:
"Wachstum oder Beschleunigung zur Status-quo-Veränderung sind dringend nötig und erwünscht, aber Wachstum und Beschleunigung zur Status-quo-Erhaltung, also dass die Gesellschaft so bleiben kann, wie sie ist, ist in gewisser Weise ein Systemfehler. Und wir reden von Postwachstumsgesellschaften, weil unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Arrangements und Formationen möglich sind, um eine solche Form der Stabilisierung, die nicht auf dauerndes Wachstum angewiesen ist, nur um die Struktur zu reproduzieren, weil da unterschiedliche gesellschaftliche Formen und Formationen denkbar sind."
Womit sich auch die Frage nach der Verantwortlichkeit der Lebensform Kapitalismus für das Dilemma stellt. Rahel Jaeggi hatte während ihrer Forschungen am Jenaer Kolleg ein Arbeitspapier verfasst. Es trägt die Überschrift: "Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus?"
"Gegenstand unserer Kritik - sofern sie Kapitalismuskritik sein will - kann ja weder etwas sein, das in allen denkbaren Gesellschaftsformationen auftritt, noch kann die Kritik, sofern sie Kapitalismuskritik sein will, etwas betreffen, das nur zufällig mit ihm zusammen auftritt. Anders gesagt: Wenn etwas an den zu betrachtenden Gesellschaftssystemen falsch oder problematisch sein sollte, ist es tatsächlich der Kapitalismus, der Schuld daran ist?"
Das Arbeitspapier endet mit einer zögerlichen Antwort:
"Eine gelingende Lebensform wäre eine, die sich dadurch auszeichnet, dass sie gelingende kollektive Lernprozesse - Lernprozesse, die zum Teil ausgelöst sein mögen durch Krisen funktionaler Art - nicht behindert, sondern ermöglicht. Ob der Kapitalismus dies tut, ist mehr als fraglich."