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Präsidentschaftswahl in der Türkei
"Erdogan ist nicht die Türkei"

Am Sonntag wählt die Türkei einen Präsidenten und das Parlament. Da es in der Türkei keine Informationsfreiheit gebe, nehmen viele Menschen nur das wahr, was regierungsparteinahe Medien berichten, sagte Sevim Dagdelen von der Linkspartei im Dlf. "Insofern kann man nicht von freien und fairen Wahlen sprechen."

Sevim Dagdelen im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verfolgen fahnenschwingend eine seiner Wahlkampfreden.
    Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verfolgen fahnenschwingend eine seiner Wahlkampfreden. (dpa / Oliver Weiken)
    Christoph Heinemann: Den politischen Begriff Kohabitation kennt man aus Frankreich: wenn ein Präsident mit einer gegnerischen Parlamentsmehrheit leben muss. Darauf könnte das Ergebnis der Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei hinauslaufen: Erdogan hat die Wahlen wegen der schweren Wirtschaftskrise um ein Jahr vorgezogen, in der Hoffnung, dass der Verfall der Währung und die wachsende Arbeitslosigkeit noch nicht bei den Menschen angekommen sind. Sind sie aber.
    Gewählt wird nach originellen Regeln: Als Wahlzettel gelten auch solche, die nicht offiziell abgestempelt wurden. Dass bei solchen Bedingungen Zuschauer unerwünscht sind, ist verständlich: Deshalb ist Andrej Hunko von der Linkspartei, als Wahlbeobachter der OSZE in der Türkei nicht erwünscht.
    Gestern habe ich mit Sevim Dagdelen gesprochen, sie ist stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Die Linke und Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, Wahlkreis Bochum I. Trotz aller Widrigkeiten: Erdogan erfährt immer noch große Unterstützung in der Bevölkerung. Deshalb habe ich sie gefragt, was ihr Positives zu Erdogan einfällt.
    Sevim Dagdelen: Positives fällt mir ein, dass er anfangs tatsächlich einen Anspruch hatte, nicht die Politik zu machen, die seine Vorgänger gemacht haben, Korruption, tiefen Staat und vor allen Dingen auch den Rechtsstaat abzubauen. Das war ein Anspruch, aber diesem Anspruch ist er nicht gerecht geworden.
    Heinemann: Warum sehen so viele Türkinnen und Türken das anders?
    Dagdelen: Wir haben ein Problem in der Türkei: Beispielsweise dadurch, dass viele Journalistinnen und Journalisten in Haft sind, oder es auch eine Gleichschaltung gibt in der Presse, gibt es keine Meinungsvielfalt, keine Pressevielfalt und dadurch natürlich auch keine Informationsfreiheit.
    Viele Menschen nehmen nur das wahr, was vor allen Dingen regierungsparteinahe oder ihr zugeordnete Medien berichten und unterrichten. Und deshalb ist ja beispielsweise auch jetzt der Wahlkampf in keinster Weise fair oder frei, weil die Präsidentschaftskandidaten der anderen Parteien kaum in den Medien vorkommen.
    Heinemann: In Deutschland gibt es Meinungsvielfalt und Pressefreiheit. Dennoch: Viele Menschen mit türkischer Herkunft unterstützen Erdogan. Wie erklären Sie sich das?
    15.03.2018, Berlin: Sevim Dagdelen (Die Linke), spricht im Bundestag. Auf der Tagesordnung der Parlamentssitzung stehen unter anderem die Beschlüsse zur Fortsetzung der Bundeswehreinsätze im Irak, Afghanistan, Südsudan und Darfur sowie die Abschaffung des Solidaritätsbeitrags und Änderung des Arbeitszeitgesetzes. Foto: Michael Kappeler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
    Sevim Dagdelen, stellvertretende Vorsitzende der Linken-Bundestagsfraktion (dpa)
    "Wirtschaftswachstum war auf Pump gebaut"
    Dagdelen: Es gibt ja auch nicht nur Negatives. Die AKP hat gerade in den ersten Regierungsjahren einen relativen Wohlstand für Millionen Menschen geschaffen. Sie haben durch Infrastrukturmaßnahmen eine Anbindung der städtischen Bevölkerung an die Landbevölkerung, flächendeckende Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt. Es gab schon Verbesserungen.
    Aber das, was an Wirtschaftswachstum in diesen ersten Regierungsjahren vor allen Dingen war, lange Zeit auch ging, war beispielsweise auch, dass dieses Wirtschaftswachstum, was den relativen Wohlstand mit begründet hat, eines war, was auf Pump aufgebaut war, eine Schuldenblase vor allen Dingen, durch Auslandschulden, durch Direktinvestitionen aus dem Ausland. Das bleibt jetzt aus und deshalb kriselt es auch immer mehr und deshalb bröckelt auch die Unterstützung für die Regierungspartei und den amtierenden Präsidenten.
    Heinemann: AKP und MHP steht ein Wahlbündnis gegenüber aus Säkularisten, Nationalisten und Islamisten. Was verbindet die drei außer ihrer Abneigung gegen Erdogan?
    Dagdelen: Zum ersten, was Sie gesagt haben, die Säkularität, dass der politische Islam …
    Heinemann: Nun gut, die Islamisten ja vielleicht nicht.
    Dagdelen: Nein, die Saadet-Partei nicht, obwohl sie ja auch heute noch mal erklärt haben, der Vorsitzende der Saadet-Partei, dass sie schon den Rechtsstaat wiederherstellen wollen, der abgebaut worden ist durch die Regierungspartei AKP und den Präsidenten Erdogan, und dass sie beispielsweise doch aber für einen säkularen Staat stehen.
    Durch die Zunahme des politischen Islam, durch die Muslim-Brüder selbst, Präsident Erdogan und seiner ganzen islamistischen Regierungspartei AKP gab es ja einen enormen Wandel in der Türkei seit der Staatsgründung, nämlich dass es eine Trennung von Staat und Religion geben sollte. Dieser Laizismus ist es, was viele verbindet, auch die, die religiös sind in der Saadet-Partei.
    "Insofern kann man nicht von freien und fairen Wahlen sprechen"
    Heinemann: Sie haben es eben schon mal angesprochen. Unter welchen Umständen findet diese Wahl statt? Wie fair und frei kann sie noch sein?
    Dagdelen: Wir haben den Umstand, dass der Ausnahmezustand seit dem Putschversuch im Sommer 2016 immer noch gilt, dass Präsidentschaftskandidaten wie der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, hinter Gittern in Untersuchungshaft ihren Präsidentschaftswahlkampf machen müssen. Und es gibt keinen einzigen, wirklich nachvollziehbaren Grund, warum er weiterhin in Untersuchungshaft bleiben soll, auch bei diesem Wahlkampf.
    Dutzende Journalistinnen und Journalisten sind in Haft. Es sind Hunderte, Tausende Mitglieder, Funktionäre, Amtsträger, Mandatsträger der HDP, aber es gibt auch Mandatsträger der Sozialdemokratischen Partei CHP im Knast. Es gibt eine Gleichschaltung in der Presse. Man kommt nicht vor in der Presse. Presse wie CNN Türk bricht einfach die Berichterstattung ab bei der Wahlkampfrede des sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Muharrem Ince, weil der Inhalt nicht mehr konform ist mit der Staatsmeinung.
    Insofern kann man nicht von freien und fairen Wahlen sprechen, auch beispielsweise dadurch, dass die Wahllokale ganz besonders in den von Kurdinnen und Kurden bewohnten Gebieten im Südosten des Landes ja sehr weit angelegt worden sind, dass Menschen eigentlich entmutigt werden sollen, an der Wahl teilzunehmen, und das macht vielen Menschen in der Türkei Sorge.
    "Bundeskanzlerin Merkel sollte nicht immer mit Erdogan ein Kaffeekränzchen im Palast abhalten"
    Heinemann: Diese ganzen Missstände, die Sie jetzt aufgeführt haben, Frau Dagdelen, hindern viele Menschen nicht daran, trotzdem Erdogan zu unterstützen und diese Umstände hinzunehmen. Ist die parlamentarische Demokratie vielleicht dann einfach nicht die richtige Regierungsform für die Türkei?
    Dagdelen: Das bezweifele ich. Wir haben ein Problem natürlich, dass Menschen auch in Deutschland, gerade in Deutschland ist es ja erschreckend, dass Menschen, die in einer Demokratie leben, in einem Rechtsstaat leben, von hier aus eine Partei unterstützen, die den Rechtsstaat abbaut, die die Türkei in einen islamistischen Unterdrückungsstaat umbaut, die deutsche Staatsangehörige aus politischen Gründen in Haft nimmt mit absurden Vorwürfen, Journalisten, Menschenrechtler aus Deutschland, und dass diese Menschen, die in Deutschland ja seit Jahren und Jahrzehnten leben, diese Partei wählen. Das ist etwas, was besonders für Soziologen offensichtlich ein Untersuchungsgegenstand sein sollte.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßt Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, am 07.07.2017 in Hamburg beim G20-Gipfel.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan, der Präsident der Türkei. (dpa / Carsten Rehder)
    Erdogan ist nicht die Türkei. Erdogan steht für eine Minderheit in der Türkei. Und die türkische Nationalversammlung, die besteht nicht nur aus der Regierungspartei AKP oder seinen nationalistischen reaktionären Bündnispartnern der MHP. Da sind auch andere Kräfte, auch in der Türkei in der Gesellschaft. Und wichtig wäre es, ihnen eine Stimme zu geben, ihnen ein Gehör zu geben, und natürlich auch, sie zu unterstützen. Dazu gehört, wenn Frau Bundeskanzlerin Merkel die Türkei besucht, dass sie nicht nur immer im Palast vorbeischaut, mit Erdogan dort ein Kaffeekränzchen abhält, sondern auch die demokratische Öffentlichkeit in der Türkei trifft.
    Heinemann: Zu dem zurück, was Sie eben gesagt haben. Viele Menschen mit türkischen Wurzeln hierzulande unterstützen Erdogan. Andere mit kurdischen Wurzeln unterstützen die Terrororganisation PKK. Was sagt das aus über die Integration dieser Menschen? Man kann ja nicht behaupten, dass die die Werte des Grundgesetzes verinnerlicht hätten.
    Dagdelen: Wir haben zwei Probleme, was Sie damit ansprechen. Das eine ist, dass wir die Polarisierung in der Gesellschaft in der Türkei eins zu eins wiedererleben auf deutschem Boden. Das hat auch damit zu tun, dass die Organisationen und Verbände sehr stark hier organisiert sind, sich hier auch mobilisieren, was auch teilweise gefördert wird vom deutschen Staat - Stichwort das Netzwerk, der lange Arm von Erdogan in Deutschland durch die deutsch-türkische Moschee-Vereinigung DITIB, die ja als gemeinnützig anerkannt ist in Deutschland, obwohl sie gemeingefährlich ist, beispielsweise durch die Spionage, die die Imame hier getätigt haben gegenüber Andersdenkenden, oder durch die Verrohung, durch die Instrumentalisierung von Kindern und Jugendlichen in den Moschee-Vereinigungen für die politischen Zwecke in der Türkei, oder die Lobby-Organisation UETD, die Schlägerbanden Osmanen Germania, gegen die ja in Stammheim jetzt der Prozess gemacht wird.
    Die lassen sich hier nieder, organisieren hier tatsächlich eine Neben-Außenpolitik der türkischen Regierung, eine Diaspora-Politik zur Unterstützung ihrer Fünften Kolonne, und dann hat man die andere Seite. Und das Problem ist, dass die deutsche Bundesregierung und auch die Landesregierungen das lange einfach dulden und das gewähren - mit dem falschen Verständnis von, wir lassen die einfach unter sich das ausmachen. Das ist aber keine aktive Integrationspolitik. Unser Ziel muss es sein, diese Menschen für unsere Gesellschaft zu gewinnen.
    Heinemann: Aber die Menschen, die sich entschlossen haben, hier zu leben, in zweiter, dritter Generation, die müssten doch eigentlich sagen: Okay, wir sind jetzt hier in Deutschland, für uns gelten auch die Werte des Grundgesetzes, wir sind im Prinzip immun gegen all diese Einflüsse. Sind sie aber nicht.
    Dagdelen: Nein, sind sie nicht. Aber wir als deutsche Politikerinnen und Politiker, wir als die Verantwortlichen können auch etwas dazu beitragen, dass das passiert.
    Heinemann: Müssen die nicht erst mal selber was dazu beitragen?
    Dagdelen: Selbstverständlich sollten sie das tun. Aber wir dürfen nicht diese Verbände hier fördern, mit Millionen von Steuergeldern auch noch aufpimpern. Beispielsweise die Deutsch-Türkische Moschee-Vereinigung: Wieso müssen Imam-Importe stattfinden?
    Wieso können wir das nicht selber erledigen und dadurch natürlich auch besser kontrollieren, dass das nach unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, nach unseren Werten tatsächlich passiert, was da für eine Vermittlung auch von Inhalten stattfindet? Das wird nicht gemacht.
    Das Zweite ist: Wenn es um Integrationspolitik der türkischsprachigen Bürgerinnen und Bürger geht, sagt die Bundesregierung, dass die türkische Regierung ihr Ansprechpartner sei. Das ist doch eine vollkommen absurde Integrationspolitik. Warum soll ein Präsident in einem fremden Staat, einer fremden Regierung der Ansprechpartner sein, der Vertreter sein von hier lebenden Menschen!
    "Ich fand das Verhalten von Özil und Gündogan ein sehr, sehr grobes Foul"
    Heinemann: Apropos mein Präsident. Wir müssen reden (Fußball-Weltmeisterschaft) über Mesut Özil und Ilkay Gündogan. Deren Besuch bei Erdogan, die peinliche Widmung des Trikots hat viele Menschen hierzulande extrem verärgert. Verstehen Sie diese Heftigkeit der Reaktionen?
    Dagdelen: Ich fand das Verhalten von Özil und Gündogan ein sehr, sehr grobes Foul. Während Demokraten, Journalisten in der Türkei in Haft sitzen aufgrund ihrer Meinung, haben sie sich in einem Londoner Luxushotel mit dem Präsidenten der Türkei getroffen und ihn als ihren Präsidenten bezeichnet.
    Recep Tayyip Erdogan (2.v.r.), Staatspräsident der Türkei, steht zusammen mit den Premier League Fußballspielern Ilkay Gündogan (l), Mesut Özil (2.v.l.) und Cenk Tosun (r). 
    Recep Tayyip Erdogan (r.), Staatspräsident der Türkei, zusammen mit den deutschen Fußball-Nationalspielern Ilkay Gündogan (l.) und Mesut Özil. (Uncredited / Pool Presdential Press Service / AP / dpa)
    Das finde ich schon völlig daneben. Ich finde, Spieler der deutschen Nationalmannschaft sollten für Fair Play stehen - nicht nur auf dem Rasen, sondern auch in der Gesellschaft. Sie sind Vorbilder und sollten sich dieser Funktion eigentlich bewusst sein. Insofern halte ich die Kritik für völlig berechtigt an Özil und Gündogan.
    Das heißt aber nicht, dass jetzt diejenigen, die sowieso türkenfeindlich sind oder einen Hass haben auf Menschen, die irgendeiner anderen Herkunft angehören, dass sie nicht auch ein grobes Foul jetzt begehen. Das erinnert mich auch an die AKP-Politik. Diejenigen, die Gündogan und Özil jetzt kritisieren, vermeintlich wegen einer Gefühlslage - Özil würde sich nicht im Trikot wohlfühlen …
    Heinemann: Lothar Matthäus hat das gesagt.
    Dagdelen: Ja, ein Pseudopsychologe jetzt, der interpretiert, ob sich jemand in einem Trikot wohlfühlt oder nicht. Das ist ja eigentlich die gleiche Art der Diffamierung, der Denunziation, der Verleumdung von Menschen, wie sie die AKP-Regierungspartei in der Türkei auch macht mit Andersdenkenden, und das sollte nicht der Umgang sein, den wir Demokraten in Deutschland haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.