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Präsidentschaftswahlen in den USA
Über Hillary Clinton und das Sozialwesen

Ist Hillary Clinton eine fortschrittliche Politikerin? Diese Frage stellte die Moderatorin bei der Primary-Debatte zwischen Clinton und Sanders in New Hampshire im Februar. Clinton antwortete, sie sei "eine fortschrittlich Denkende, die die Dinge auch gern erledigt".

Von Namara Smith |
    Hillary Clinton steht vor jubelnden Anhängern und breitet lächelnd die Arme aus.
    Hillary Clinton argumentiert aus der Überzeugung, den sozialen Wandel der 60er mitgestaltet zu haben. (afp / Timothy A. Clary)
    Ihr gesamter Lebensweg sei ein eindeutiger Beweis für eine fortschrittliche Haltung. Bernie Sanders hatte sie als moderat bezeichnet und herausgestellt, moderat und progressiv seien unvereinbar. Während Clinton das Establishment verkörpere, sei er Repräsentant der ganz normalen Amerikaner. Hillary Clinton argumentiert aus der Überzeugung, den sozialen Wandel der 60er mitgestaltet zu haben.
    Seit die Zeitschrift "Life" sie 1969 als Studentin des Protests porträtierte, handelt die Rechte sie als radikale Feministin. Hinter Sanders’ Worten steckt die sture Überzeugung eines Mannes, der sich seit Kalte-Kriegs-Zeiten als Sozialist bezeichnet. Wegen seiner Prinzipien wurde er 30 Jahre lang in Amerika ignoriert. Beide symbolisieren gegensätzliche Punkte des amerikanischen Liberalismus. Der umstrittenste davon ist das Sozialwesen. Und das Sozialwesen ist, mehr als andere, das Thema in Clintons Wahlkampf 2016.
    Namara Smith, geboren 1986, ist Mitherausgeberin des amerikanischen Essay n+1. Der Artikel erschien zunächst in Issue 26: Dirty Work.
    Übersetzung aus dem Amerikanischen Katrin Höller

    Das komplette Manuskript zum Nachlesen:
    Einer der aufschlussreicheren Wortwechsel während des Wahlkampfs um die demokratische Präsidentschaftskandidatur ereignete sich im vergangenen Februar: Bei der Vorwahldebatte in New Hampshire bat Moderatorin Rachel Maddow Hillary Clinton, auf den Anwurf von Bernie Sanders zu reagieren, sie sei "keine echte Progressive". Clinton entgegnete, das sei sie sehr wohl – "eine Progressive, die die Dinge auch gern erledigt bekommt", - und warf ihrerseits Sanders vor, er habe die letzten drei Jahrzehnte demokratischer Politik einfach nur ausgesessen.
    "Ich bin jeden Schritt mitgegangen, habe meinen Kopf hingehalten und gekämpft", sagte sie, "und ich habe genügend Narben, um das zu beweisen."
    Sanders merkte an, Clinton habe sich zuvor stets als "moderat" bezeichnet, und es sei unmöglich, moderat und progressiv zugleich zu sein. "Secretary Clinton", betonte er, "steht für das Establishment. Ich dagegen stehe - so hoffe ich - für die gewöhnlichen Amerikaner."
    Clinton hielt dagegen: "Senator Sanders ist der einzige, der mich - eine Frau, die die erste Präsidentin werden will - als Vertreterin des Establishments darstellt. Ich finde das ziemlich amüsant. Die Leute unterstützen mich, weil sie mich kennen - mich und mein Lebenswerk."
    Große Kluft zwischen den Kandidaten
    Die kurze Auseinandersetzung warf ein Schlaglicht auf die Kluft zwischen den Kandidaten. Beide waren restlos von der Wahrheit ihrer Aussagen überzeugt und voller Verachtung gegenüber den Aussagen des anderen. Hinter Clintons Behauptung stand die Bestimmtheit einer Frau, die für Millionen Menschen die sozialen Umwälzungen der 1960er-Jahre verkörperte - seit sie 1969 von der Zeitschrift "Life" für einen Bericht über die Studentenunruhen fotografiert worden war, und die die letzten 30 Jahre damit verbracht hatte, von der Rechten als radikale Feministin attackiert zu werden.
    Hinter Sanders' Worten stand wiederum die Sturheit eines Mannes, der sich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges offen als Sozialist bezeichnet und der die letzten 30 Jahre damit verbracht hatte, seiner Prinzipien wegen ignoriert zu werden. Bernie ist so sehr ein militanter Sozialist wie Hillary eine radikale Feministin - also nicht so sehr -, aber beide repräsentieren das jeweils weiteste Vordringen dieser beiden Traditionen auf das Gebiet des amerikanischen Liberalismus.
    Hillary Clinton und Bernie Sanders stehen nebeneinander auf einer CNN-Bühne. Clinton lacht, Sanders schaut grimmig.
    Hillary Clinton und Bernie Sanders vor einer CNN-Debatte im April 2016 in New York. (AFP/Jewel SAMAD)
    Für Clinton bedeutet das: die zweite Welle des Feminismus und der soziale Wandel der 1960er-Jahre. Für Sanders ist es die Sozialdemokratie der letzten Jahrhundertmitte mitsamt New Deal und Great Society.
    Diese beiden liberalen Traditionen – kurz gesagt Feminismus und soziale Absicherung - haben eine gemeinsame Geschichte. Und der sichtbarste Punkt, an dem sie sich in die Quere kommen, ist das Sozialwesen.
    Kontroversen über das Sozialsystem treffen den Kern der auseinanderlaufenden feministischen Strömungen in Amerika – "Gleichheits"- und "Unterschiedlichkeits"-Feministinnen –, und das Sozialwesen bestimmte Clintons Vorwahlkampagne mehr als alle anderen Themen. Schon bevor sie sich für das Sozialreformgesetz stark machte, das ihr Ehemann 1996 unterzeichnete, stellte sich Clinton auf die eine Seite der Debatte – einfach mit dem, was sie selbst darstellte, durch den Weg, den sie selbst verfolgte. Als feministische Kandidatin zeigt sie damit ihre Schwächen.
    Ein inner-feministischer Streit über das Sozialsystem in den USA begann in den Jahren nach 1910, als die amerikanische Frauenwahlrechtsbewegung Feministinnen und progressive Sozialreformer zusammenbrachte. Die radikalste Gruppierung dieser Koalition, die National Woman’s Party von Alice Paul, erwies sich als hilfreich zur Erlangung öffentlicher Unterstützung für einen Verfassungszusatz, der es verbieten sollte, Personen aufgrund ihres Geschlechts von Wahlen auszuschließen [Anm. d. Ü.]. Als Alice Paul aber auf einen weiteren Verfassungszusatz drängte, der die Rechte von Frauen auf allen Gebieten garantieren sollte, und 1923 das entsprechende Equal Rights Amendment vorlegte, sprachen ihre Verbündeten aus der Wahlrechtsbewegung sich vehement dagegen aus.
    Der Weg zu mehr Gleichberechtigung
    Die Frauen der National Consumers' League und der National Women's Trade Union League – durchaus Anhängerinnen einer progressiven Sozialreform – identifizierten sich stark mit mütterlichen Werten wie "selbstlose Fürsorge" und "Einsatz für das Wohlergehen anderer". Dies stand aber der Prämisse des Equal Rights Amendment entgegen, nämlich der bedingungslosen Gleichheit von Männern und Frauen. Die "Maternalisten", wie diese Frauen fortan genannt wurden, kämpften für Bundesgesetze, die die Zahl der Arbeitsstunden für Frauen und Kinder beschränken, sie vor gefährlichen Arbeitsbedingungen schützen sowie Witwen und ledige Mütter mit kleinen Renten versorgen sollten.
    Während Alice Paul und die Woman's Party darlegten, solch eine Gesetzgebung schaffe einen gefährlichen rechtlichen Präzedenzfall, konterten die Maternalisten, sie berücksichtige nicht die Situation von Frauen der Arbeiterklasse, einer besonders verwundbaren Gruppe mit einer Doppelverpflichtung zu Familie und Lohnerwerb, welche sie zum Arbeiten in "Doppelschichten" zwinge. Anstatt die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fordern, argumentierten sie für eine Anerkennung der Unterschiede zwischen ihnen.
    "Die unausweichlichen Fakten" seien, so Florence Kelley 1922 in der Nation, "dass Männer keine Kinder gebären, nicht die Bürde der Mutterschaft tragen und sich nicht im gleichen Maße wie Frauen den Giften aussetzen müssen, die für bestimmte Industriezweige immer charakteristischer sind - nicht zu reden von dem allgegenwärtigen Gift der Erschöpfung."
    Alice Paul war eine führende US-amerikanische Suffragette und Frauenrechtlerin.
    Alice Paul war eine führende US-amerikanische Suffragette und Frauenrechtlerin. (AP)
    Frauen forderten wirtschaftliche Sicherheit
    Was die meisten Frauen bräuchten, behaupteten sie, sei keine pauschale Garantie einer politischen und rechtlichen Gleichstellung mit den Männern, sondern die wirtschaftliche Sicherheit, die eine Sozialschutz-Gesetzgebung ihnen bieten würde.
    Beide Seiten erhielten Unterstützung von männlichen Mitstreitern. Die Woman's Party machte gemeinsame Sache mit Geschäftsleuten, die von einem unregulierten Zugang zu billigen weiblichen Arbeitskräften profitieren würden; die Maternalisten wurden von Gewerkschaftern unterstützt. Diese betrachteten potenzielle Arbeitsschutzgesetze als geeignete Maßnahme, um Frauen davon abzuhalten, den Männern die Arbeitsplätze wegzunehmen. Als 1933 Franklin Delano Roosevelt zum Präsidenten gewählt wurde, berief er viele bekannte Maternalistinnen in seine Regierung, darunter Arbeitsministerin Frances Perkins, und ermöglichte ihnen dadurch, an der Ausgestaltung des föderalen Sozialstaates entscheidend mitzuwirken.
    So legte die Sozialschutz-Gesetzgebung der Maternalisten zwar den Grundstein für die nationalen Arbeitsregulierungen des New Deal, doch die Details überließ man den Männern. Viele der Sozialleistungen, die der New Deal beinhaltete, waren an Erwerbsarbeit gebunden, wobei die Verfasser allerdings sorgfältig zwischen verschiedenen Arten von Arbeit unterschieden. Renten- und Arbeitslosenversicherungen der Social Security erreichten viele Niedriglohnarbeiter nicht, darunter Farmarbeiter, Dienstmädchen, Hausangestellte, Wäscherinnen, Erzieherinnen und Gesellschafterinnen. So wurden die meisten Frauen, wie auch schwarze Männer, von der finanziellen Sicherheit und der politischen Anerkennung ausgeschlossen, welche diese Gesetze der weißen, männlichen industriellen Arbeiterklasse boten.
    Unterdessen konzentrierten sich die Anstrengungen der Maternalisten auf eine ergänzende Form der sozialen Unterstützung, die sich Aid to Dependent Children, Hilfe für Kinder, nannte - die Ursprünge dessen, was heute meist einfach "Sozialhilfe" genannt wird. Hilfe für Kinder war als staatliche Beihilfe zu dem Geld gedacht, das die Einzelstaaten für ihre eigenen Hilfsprogramme ausgaben. Bezieherinnen dieser Renten mussten beweisen, dass sie sowohl tatsächlich bedürftig als auch "moralisch befähigt" waren. Die Leistungsberechtigten, viele von ihnen eingewanderte Mütter, mussten in längeren Prüfungsprozessen nachweisen, dass ihre Einkommen nicht ausreichten. Sie wurden instruiert, Englischkurse zu besuchen, in die Kirche zu gehen und nicht mehr mit Knoblauch zu kochen. Die Renten wurden absichtlich niedrig angesetzt, um das Lebensmodell der ledigen Mutter abschreckend zu gestalten.
    Die Woman's Party hatte 1923 warnend darauf hingewiesen, dass die Sozialschutz‑Gesetzgebung dafür verwendet werden könnte,Frauen an die "niederste, am schlechtesten bezahlte Arbeit" zu binden. Ihre Befürchtungen erwiesen sich als wohlbegründet: Wollten weiße Frauen in den 1940er- und 1950er-Jahren in die Nachkriegs-Mittelschicht aufsteigen, war der sicherste Weg dorthin nicht die Arbeit, sondern eine Heirat; schwarze Frauen hatten nicht einmal diese Option, da schwarze Männer ebenfalls von der Sozialleistung ausgeschlossen waren. Bis weit in die 1960er-Jahre hinein waren die Stellenanzeigen der Zeitungen in Männer- und Frauenspalten unterteilt und spiegelten so die Unterschiede hinsichtlich Aufstiegschancen, Sicherheit und Einkommen wider. Jobs für ledige Frauen wurden unter der Annahme besetzt, dass sie jeden Moment heiraten und kündigen könnten; Jobs für verheiratete Frauen unter der Annahme, dass sie jeden Moment schwanger werden und kündigen könnten. Schwangere Frauen, die durchblicken ließen, ihren Job nicht aufgeben zu wollen, wurden oft ohne Arbeitslosenunterstützung vor die Tür gesetzt. Ein Mann mit High-School-Abschluss verdiente im Durchschnitt mehr als eine Frau mit Bachelor-Examen.
    Sozialschutzgesetzgebung wurde gekippt
    Als in den 1960er-Jahren die zweite Welle des Feminismus losbrach, geschah dies mit der ganzen Wucht der vorhergehenden jahrzehntelangen Ablehnung und Unterdrückung. Die Ideen, die radikal erschienen waren, als sich Alice Paul dafür stark machte, wurden plötzlich von Hunderttausenden Vorstadt-Hausfrauen begeistert angenommen: Frauen verdienten es, als Individuen behandelt zu werden, nicht nur als Ehefrauen und Mütter, und dass sie den Männern in allen Bereichen des Lebens gleichgestellt sein sollten. Ein Großteil der politischen Energie der Bewegung wurde darauf verwendet, die formalen Hürden niederzureißen, die die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt verhinderten. Und so brachten es einige ihrer bedeutendsten Erfolge mit sich, dass die Sozialschutzgesetzgebung, die die Maternalisten einst auf den Weg gebracht hatten, gekippt wurde.
    Hillary Clinton: Nutznießerin des Wandels
    Heute, über 40 Jahre später, ist Hillary Clinton die vielleicht bekannteste Nutznießerin dieses sozialen Wandels. Sie ist die mit Abstand mächtigste Frau in der amerikanischen Politik. Anders als ihr Vorbild Eleanor Roosevelt wurde sie nicht in eine Politikdynastie hineingeboren. Stattdessen ist sie – wie schon die letzten beiden demokratischen Präsidenten – ein Produkt des amerikanischen Nachkriegs‑Universitätssystems. Ihr Erfolg zeigt eindrücklich die Kluft zwischen der alten Ordnung und den neuen Möglichkeiten, die den Frauen offenstanden, die sie zu ergreifen wussten.
    Hillary Clinton, Präsidentschaftskandidatin der US-Demokraten (31.10.2016).
    Hillary Clinton, Präsidentschaftskandidatin der US-Demokraten. (dpa / picture alliance / Erik S. Lesser)
    Hillary war eine von 27 Frauen, die 1969 aus einem Jahrgang von über 200 Absolventen zur Yale Law School zugelassen wurden. 1978 war sie die erste weibliche Vorsitzende der Legal Services Corporation, 2001 die erste weibliche Senatorin des Staates New York, und heute ist sie die erste weibliche Präsidentschaftskandidatin einer der großen amerikanischen Parteien ein Meilenstein, wie man ihn sich in ihrem Geburtsjahr 1947 noch kaum hätte vorstellen können.
    Typische Baby-boomer-Geschichte
    Hillary Clintons Werdegang gilt heute als typische Geschichte der Baby-boomer-Generation. Sie wurde in Chicago geboren und wuchs in der Nachkriegs-Vorstadt auf, als Tochter einer Hausfrau mit High-School-Abschluss und eines tyrannischen Vaters, der seine Kinder schlug und die Familienfinanzen streng unter Kontrolle hielt. Als Hillary nach Wellesley aufs College ging, war sie noch Republikanerin. Als sie 1969 Examen machte, war sie Mitglied der Neuen Linken, hatte bei der studentischen Antikriegsbewegung mitgemacht, war für Bürgerrechte auf die Straße gegangen, hatte ihre Abschlussarbeit über den Bürgerrechtler Saul Alinsky geschrieben, hatte auf ihr College eingewirkt, nicht mehr als "stellvertretende Erziehungsberechtigte" aufzutreten. Und sie hatte als erste Studentin eine Rede auf der Abschlussfeier gehalten, in der sie für eine "direktere, ekstatischere und tiefer gehende Art zu leben" plädierte.
    Nach dem College zog sie nach Berkeley und machte ein Praktikum in Robert Treuhafts radikaler Anwaltskanzlei, zog für George McGovern in den Wahlkampf und begann, sich in der linksgerichteten Bewegung für Kinderrechte zu engagieren, die forderte, Kinder als autonome juristische Personen anzusehen, nicht nur als Abhängige ihrer Eltern.
    Aushängeschild der Frauenbewegung
    Drei Jahrzehnte lang war Clinton ein Aushängeschild der Neuen Frauenbewegung. Auf sie konzentrierten sich die Attacken der Konservativen, seit Pat Buchanan sie 1992 beim Parteitag der Republikaner zum Herzstück seiner berühmten "Kulturkampf"-Rede gemacht hatte:
    "Was glaubt Hillary Clinton? Nun, Hillary glaubt, dass 12-Jährige das Recht haben sollten, ihre Eltern zu verklagen. Und Hillary hat die Institutionen Ehe und Familie mit Sklaverei und dem Leben in einem Indianerreservat verglichen. Das, meine Freunde – das ist radikaler Feminismus."
    Aus all den Bedenken, die ihr als Karrierefrau der 1980er- und 1990er-Jahre entgegenschlugen, könnte man eine Collage der Momentaufnahmen ihres Lebens zusammenstellen: ihre Unschlüssigkeit, den Nachnamen ihres Mannes anzunehmen, ihre Entscheidung, das Kinderkriegen bis in die Dreißiger zu verschieben, ihre Hosenanzüge, ihre Frisuren.
    "Vermutlich hätte ich auch zuhause bleiben und Plätzchen backen können."
    "Ich bin nicht so eine kleine Frau, die ihren Mann unterstützt."
    Auf dem Weg in Richtung Mainstream-Politik modulierte Hillary Clinton ihre Meinungen, beharrte aber stets darauf, Frauen könnten sich nur durch die Teilnahme am bezahlten Arbeitsmarkt aus traditionellen Strukturen befreien. Diese Vision – den Markt als willkommenes Instrument für die Emanzipation der Frauen zu betrachten – ist die Basis ihrer Allianz mit den New Democrats und ihres Rufes als Vorkämpferin für weibliches Unternehmertum. Diese Vision war es, mit der sie 1991 ihre Unterstützung für das Wahlversprechen ihres Mannes gab den "Wohlfahrtsstaat in seiner gegenwärtigen Form abzuschaffen".
    Bill Clinton stellte seinen Plan, die Sozialhilfe (inzwischen Aid to Families with Dependent Children genannt) abzuschaffen, schon im Herbst 1991 in seinem Wahlkampf vor. In einer Ansprache vor Studenten in Georgetown legte er dar, dass der "Neue Bund", den er dem amerikanischen Volk anbiete, "den Kreislauf der Sozialhilfe durchbrechen" könne:
    "Ich möchte das Stigma der Sozialhilfe endgültig ausradieren, indem ich ein einfaches, aber ehrwürdiges Prinzip wiederbelebe: Niemand, der arbeitsfähig ist, kann für immer Sozialhilfe beziehen. Wir geben ihnen alle Unterstützung, die sie brauchen, für bis zu zwei Jahre, aber danach müssen alle, die arbeitsfähig sind, arbeiten gehen, entweder im privaten Sektor oder in einem gemeinnützigen Job. Das ist das Ende der Sozialhilfe als Lebensweise."
    Damals war die Aid to Families with Dependent Children bereits das vermutlich meistgeschmähte Programm der Regierungsgeschichte. Seit seiner Verabschiedung 1935 stand es stellvertretend für alles, was an den staatlichen Umverteilungsprogrammen ungerecht war. Unter den lautstärksten Kritikern waren die Sozialhilfeempfänger selbst, die eine ganze Batterie moralischer Prüfungen durchlaufen mussten und denen sowohl die Würde als auch die Bezeichnung "arbeitender Mensch" versagt wurde, egal wie viel unbezahlte Hausarbeit und Kinderbetreuung sie leisteten.
    Je nach Region unterschiedlich strenge Gesetze
    Obwohl laut AFDC eigentlich alle arbeitslosen Mütter ein Anrecht auf Sozialleistungen hatten, konnten die Einzelstaaten zusätzliche Berechtigungsbeschränkungen einführen, und viele taten das auch. 1943 war Louisiana der erste Staat, der ein im ländlichen Süden sehr populäres "arbeitsfähige-Mutter-Gesetz" auflegte, das die Sozialleistungen an Mütter zu Pflanz- und Erntezeiten aussetzte. Weitere Gesetze wie "suitable home" ("angemessenes Heim"), "man in the house" ("Mann im Haus") und "substitute father" ("Ersatzvater") stoppten Leistungen an Mütter, deren Sozialarbeiter nachweisen konnten, dass sie regelmäßig Sex hatten. Dabei waren die Regeln so weit gefasst, dass "regelmäßig" alles von "einmal pro Woche" bis "alle sechs Monate" bedeuten konnte. Sozialarbeiter wurden häufig ausgesandt, um die Häuser von Sozialhilfeempfängerinnen in Augenschein zu nehmen, nach schmutzigem Geschirr und ungemachten Betten zu suchen. Wie man behandelt wurde, hing ganz davon ab, wo man lebte: Die Gesetze tendierten dazu, in Regionen mit mehr schwarzen Sozialhilfemüttern strenger zu sein. Geldleistungen waren im Süden durchschnittlich halb so hoch wie in anderen Landesteilen. Zogen schwarze Amerikaner daraufhin in die Industriestädte des Nordens, wurden auch dort die Sozialgesetze restriktiver.
    1967 gründeten Bürgerrechtler und Sozialhilfe empfangende Mütter die National Welfare Rights Organization (NWRO), um das soziale Netz, das seit Langem eher als Form der Nächstenliebe gesehen wurde, nun als berechtigten Anspruch festzuschreiben. Die Aktivisten setzten sich dafür ein, unbezahlte Hausarbeit als Form der Arbeit zu würdigen. Sozialhilfe sei ein Recht, kein Almosen. Statt stigmatisierter, bürokratisch verwalteter Zahlungen forderte die Organisation ein universelles, garantiertes, adäquates Grundeinkommen für bedürftige Männer, Frauen und Kinder, unabhängig von Ehestand und Stellung auf dem Arbeitsmarkt.
    Die Initiatoren der Bewegung sahen Sozialhilfe als etwas, das alle Frauen anging. Mütter, wie schon die Maternalisten festgestellt hatten, besaßen eine schwächere Verhandlungsposition als andere Arbeiter; ihnen fehlten die Bewegungsfreiheit und Flexibilität der alleinstehenden Männer. Aus dieser Perspektive könnte man die Sozialhilfe als eine Art Arbeitslosenversicherung für die verwundbarsten Mitglieder der Arbeiterschaft betrachten. Sie ermöglichte es Frauen unter anderem, auf bessere Jobs zu warten und Beziehungen, in denen sie misshandelt wurden, zu beenden. Doch diese Erkenntnis wurde von der breiteren Frauenbewegung nicht berücksichtigt. Obwohl prominente Feministinnen Sozialhilferechte ausdrücklich unterstützten, blieb der zentrale Fokus der Frauenbewegung die formale Gleichberechtigung am Arbeitsplatz. Als Frauen aus Regierung und Gewerkschaften, die bis dahin maternalistische Standpunkte favorisiert hatten, sich hinter diesen Mainstream-Kampf für Gleichberechtigung stellten, wurde die Sozialhilfe mehr und mehr zum Spielball konservativer Politiker, die für immer strengere Auflagen und Sanktionen plädierten.
    Die meisten Feministinnen der Neuen Frauenbewegung besaßen, nachdem sie die sentimentale Sichtweise der Maternalisten von der Mutterschaft als "heiliger Berufung" hinter sich gelassen hatten, keine Argumente mehr, mit denen sich Einkommensunterstützungen an arme Mütter überzeugend rechtfertigen ließen. Andere Frauen gingen arbeiten – warum sollten diese das nicht auch tun? Was sie dabei übersahen: Für Frauen aus der Mittelschicht bedeutete Arbeit öffentliche Anerkennung, Selbstbestimmung, das Recht, als autonome Individuen angesehen zu werden und am bürgerlichen Leben teilzunehmen. Für Sozialhilfemütter, besonders schwarze Frauen, die 1960 zwei Drittel aller Hausangestellten ausmachten, bedeutete Arbeit hingegen, die Kinder anderer Frauen zu hüten, ihr Essen zu kochen und ihre Böden zu schrubben – Dienste, auf die berufstätige Frauen immer stärker angewiesen waren, als sie in immer größerer Zahl auf den Arbeitsmarkt drängten.
    Tiefe Risse innerhalb der Neuen Frauenbewegung
    Die Sozialhilfereform, wie Bill Clinton sie sich vorgestellt hatte, war viel großzügiger gewesen als das Gesetz, das schließlich 1996 vom republikanisch dominierten Kongress verabschiedet wurde. Hillarys Unterstützung dieses Gesetzes deckt die tiefen Risse auf, die sich entlang der Klassen- und Rassengrenzen innerhalb der Neuen Frauenbewegung auftaten, als weiße Mittelschichtfrauen ihre Unabhängigkeit von der Hausarbeit dadurch erkauften, dass sie die Bürde an afroamerikanische Arbeiterinnen weitergaben.
    Hillary und Bill-Clinton im Wahlkampf
    Hillary und Bill-Clinton im Wahlkampf (Timothy A. Clary / afp)
    Die Sozialhilfereform, die schließlich Gesetz wurde, beendete de facto jedwede auf direkten Geldzahlungen basierende öffentliche Hilfe. Hatten frühere Sozialhilfeprogramme zwar die Aufforderung zu arbeiten umfasst, dann aber stillschweigend jene Empfänger geschützt, die keinen Job finden konnten, so gab es nun strenge zeitliche Begrenzungen.
    "Das Gesetz verschließt die Augen vor sämtlichen Fakten und Komplexitäten der realen Welt und sagt den Sozialhilfeempfängern einfach 'Finde einen Job!'", schrieb Bill Clintons früherer stellvertretender Gesundheitsminister Peter Edelman in einem viel beachteten Artikel namens "The Worst Thing Bill Clinton Has Done" – "Das Schlimmste, was Bill Clinton gemacht hat".
    20 Jahre später sind die katastrophalen Auswirkungen des Gesetzes offensichtlich. Die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben - von weniger als zwei Dollar am Tag – stieg von 636.000 im Jahr 1996 auf 1,65 Millionen im Jahr 2011, woraufhin die "Financial Times" die Vereinigten Staaten zu deren Ungunsten mit Russland, Jordanien und dem Westjordanland verglich. Die Rückkehr zu einem ausschließlich von den Einzelstaaten verwalteten Modell führte außerdem zu mehr Rassendiskriminierung: Oregon zum Beispiel, wo 80 Prozent der Sozialhilfeempfänger Weiße sind, hat eine der großzügigsten Sozialgesetzgebungen; die in Louisiana, wo über 80 Prozent Afroamerikaner sind, ist dagegen besonders streng.
    Wirtschaftliche Teilhabe von Frauen war ein Grundgedanke der Politik Clintons
    Hinzu kommt, dass der Kongress, um Geld zu sparen, die Sozialhilfegelder nicht an die Inflationsrate koppelte, sodass ihr realer Wert inzwischen bereits um ein Drittel gesunken ist. Um einige dieser Einschnitte abzufedern, erhöhte Clinton die Freibeträge bei der Einkommensteuer, doch diese Erleichterung kam wieder einmal nur den regulär Beschäftigten zugute. Als Folge gab es – wenn auch die "working poor", also die trotz Arbeit armen Menschen, einigermaßen abgesichert waren - fast keine finanzielle Unterstützung mehr für Menschen ohne regelmäßiges Einkommen, was wiederum überproportional Frauen und besonders Alleinerziehende traf.
    In ihrer Autobiografie "Gelebte Geschichte", die 2003 erschien, als die Sozialhilfereform noch weithin als Erfolg gesehen wurde, beanspruchte Hillary es als Verdienst für sich, den Kongress dazu gebracht zu haben, für das neue Sozialgesetz zu stimmen. Ihre Unterstützung der Sozialhilfereform war eingebettet in ihre übliche Rhetorik, wonach Frauen allein durch Arbeit Selbst- und Mitbestimmung erreichen.
    Die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen war ein Grundgedanke der Politik Hillary Clintons in den Neunzigern; sie ist auch ein Grundgedanke ihrer Message im Jahr 2016. Doch ihre Forderung, "mehr wirtschaftliche Einflussmöglichkeiten für Frauen systematisch und unerbittlich einzufordern", wie sie es vor einigen Jahren in einer Rede vor der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft formulierte, ist zu den jüngeren Frauen nicht durchgedrungen:
    Diese votierten bei den Vorwahlen der Demokraten in großer Zahl gegen sie. Die Überzeugung, die ihre politische Karriere jahrzehntelang befeuert hat, nämlich dass das Beste für den Markt automatisch auch das Beste für die Frauen sei, hat viel von ihrer Strahlkraft verloren, und die Versprechungen dieser Art von Feminismus klingen heute immer fadenscheiniger.
    Frauen stellen inzwischen die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung, sind aber immer noch in überwältigendem Maße in den am schlechtesten bezahlten und unsichersten Jobs vertreten. Quer durch alle Berufszweige verdienen sie durchweg weniger als Männer, und sie konzentrieren sich nach wie vor in weiblich dominierten Berufen. Besonders Mütter müssen mit gravierenden wirtschaftlichen Nachteilen rechnen. Ein Kind zu bekommen, so eine Studie von Elizabeth Warren aus dem Jahr 2003, war der sicherste Vorhersagefaktor dafür, dass eine Frau später Privatinsolvenz anmelden würde.
    Doch während die politische Ordnung, für die Hillary Clinton steht, Zeichen der Ermüdung zeigt, ist noch keine neue Ordnung in Sicht. Bei den Vorwahlen der Demokraten beschwor Bernie Sanders im Kampf gegen Clinton ein idyllisches Bild des Sozialstaates der 1950er-Jahre herauf.
    Nirgends jedoch werden die Grenzen des Sanderschen Bildes vom Sozialstaat klarer als in seiner Haltung zur Sozialhilfe selbst. Seine offizielle Position zum Thema Sozialhilfe war, dass "niemand, der 40 Stunden die Woche arbeitet, in Armut leben sollte", und seine bevorzugten Formen öffentlicher Sozialleistungen waren, wie bei Clinton auch, an Vollzeitbeschäftigung gebunden. Sanders‘ Ruf nach einem freien Zugang zu höherer Bildung ohne Studiengebühren und einer allgemeinen Krankenversicherung hat zwar dazu geführt, beides wieder mehr als Anrecht denn als Wirtschaftsgüter zu betrachten, doch für die Sozialhilfe hat er nichts dergleichen gefordert.
    Frasers Lösungsvorschlag eines "universelles Betreuungs-/Pflegepersonen-Modell"
    In einem ihrer frühen Essays stellt die politische Philosophin Nancy Fraser die These auf, dass alle existierenden Sozialstaaten bei der Frage versagen, welche Rolle den Frauen zugedacht wird. So lange Frauen einen überproportional großen Teil der Fortpflanzungsarbeit leisten, werden, so Fraser, alle Umverteilungsprogramme, die ausschließlich auf Erwerbsarbeit basieren, Männer begünstigen - sogar, wenn sie von Vollbeschäftigungsprogrammen und umfassender Kinderbetreuung begleitet werden. Doch die Alternative – Menschen, die in der Hauptsache ihre Kinder oder pflegebedürftige Eltern betreuen, als eigene, geschützte Klasse zu betrachten – ist nicht besser. Selbst wenn Leistungen für Betreuung und Pflege offiziell geschlechtsneutral wären – die Empfänger dieser Leistungen wären immer noch hauptsächlich Frauen, was wieder die Teilung der Arbeit nach Geschlecht festschreiben und Frauen im öffentlichen Leben unterrepräsentieren würde. Beide Möglichkeiten sind schlecht, und keine davon, sagt Fraser, verlangt, dass sich bei den Männern etwas ändert.
    Frasers Lösungsvorschlag ist ein "universelles Betreuungs-/Pflegepersonen-Modell", das auf der Annahme beruht, dass alle, die arbeiten, gleichzeitig Betreuungspersonen sind und alle Betreuungspersonen gleichzeitig arbeiten. Einen ganz neuen Sozialstaat zu schaffen, der auf diesem Modell fußt, würde unter anderem bedeuten, die Länge eines Arbeitstages zu überdenken, die Kinderbetreuung zu verstaatlichen, Renten und Krankenversicherungen von der Erwerbsarbeit zu entkoppeln und zu der Forderung der Sozialrechtsbewegung nach einem garantierten Mindesteinkommen zurückzukehren.
    Vor allem würde es bedeuten, feministische Erkenntnisse und Belange in den Mittelpunkt und nicht an den Rand jeder Art linker Politik zu stellen. Wenn die Bewegung, die von Sanders' Wahlkampf losgetreten wurde, den Geist einer neuen Revolution verkörpern soll, wäre dies ein guter Ausgangspunkt.