Friedbert Meurer: Ziemlich genau ein Jahr vor der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien befindet sich das Land in einem regelrechten Aufruhr. Aus allen Städten des Landes werden Demonstrationen und Proteste gemeldet. In Rio de Janeiro waren eine Million Brasilianer auf den Beinen. Die Wut ist im Augenblick erheblich größer als die berühmte Fußball-Leidenschaft der Brasilianer. Korruption, Vetternwirtschaft, Preiserhöhungen für Bus-Tickets, das treibt alles im Moment die Millionen um und nicht die teueren neuen oder renovierten Fußball-Stadien, in denen Millionäre beim Confederations Cup vor einem Publikum kicken, das sich die hohen Kartenpreise auch leisten kann. In Rio de Janeiro hat es in der Nacht wieder Straßenschlachten gegeben, viele Verletzte und einen Toten jetzt auch.
Erstmals nach über einem halben Jahrhundert findet in Brasilien nächstes Jahr wieder eine Fußball-Weltmeisterschaft statt. Atmosphäre und Stimmung sollten alles in den Schatten stellen, was bisher da war: Südafrika, auch das Sommermärchen in Deutschland 2006. Und jetzt? Von märchenhaften Verhältnissen ist Brasilien offenbar weit entfernt. – Astrid Prange de Oliveira ist Brasilien-Redaktion der Deutschen Welle. Guten Tag nach Bonn!
Astrid Prange de Oliveira: Guten Tag!
Meurer: Warum sind die Demonstranten auf einmal so wütend geworden auf die Fußball-Weltmeisterschaft?
Prange de Oliveira: Das hört sich erst mal wirklich paradox an. Das Klischee vom fußballbegeisterten und sambawütigen Brasilianer ist jetzt auf jeden Fall nicht bestätigt worden. Für die Wut gibt es unterschiedliche Gründe.
Ein großer Teil ist, glaube ich, die Enttäuschung über die PT, die Arbeiterpartei, die seit zehn Jahren dieses Land regiert. Viele haben einfach den Übervater Lula und auch seine Nachfolgerin satt, sind enttäuscht, weil Brasilien sich eigentlich nicht verändert hat. Die Leute haben mehr Geld in der Tasche, das stimmt, die Sozialprogramme haben viele Leute aus der Armut befreit. Aber alles, was Brasilien beklagt und was die Demonstranten jetzt beklagen, nämlich Korruption, ein Gesundheitssystem, was nicht funktioniert, Straßen, ein öffentlicher Nahverkehr, der nicht funktioniert, das alles sind strukturelle Reformen, die die Partei, die angetreten ist, um das zu verändern, eben nicht verändert hat, und da hat sich jetzt enorm was zusammengestaut.
Meurer: Frau Prange de Oliveira, sind das die Ärmsten der Armen aus den Favelas, aus den Armenvierteln, die jetzt demonstrieren, oder ist das die Mittelschicht, sind das junge Studenten, wer ist da auf der Straße?
Prange de Oliveira: Die Armen sind es zum großen Teil nicht. Es ist die unter und die mittlere Mittelschicht, denn die sind eigentlich auch am meisten davon betroffen, dass diese Defizite bei den strukturellen Reformen nicht angegangen worden sind. Deren Einkommen hat sich ja nicht erhöht. Im Gegenteil: Die Preise explodieren. Die Steuerreform, die schon lange ansteht, die stagniert auch. Der Höchststeuersatz in Brasilien ist 27 Prozent, alles andere sind indirekte Steuern. Das heißt, wer wenig oder mittel verdient, bezahlt sehr viele Steuern, wer mehr verdient, da sinkt die Steuerlast. Zusätzlich kommen Ausgaben für private Schulen, für eine private Gesundheitsversorgung, und das alles ist in den letzten Jahren enorm viel teurer geworden und daher kommt die Wut.
Meurer: Wir haben ja hier in Deutschland das Bild, dass in Brasilien gerade unter Präsident Lula da Silva und auch unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff sehr viel Wert auf die soziale Entwicklung gelegt worden ist. Wer hat denn wirklich von der Politik der letzten Jahre profitiert?
Prange de Oliveira: Ich glaube, man kann uneingeschränkt sagen – und das muss man auch wirklich konzedieren und anrechnen -, dass viele Menschen im unteren Einkommensniveau, also viele arme Brasilianer, definitiv in die untere Mittelschicht aufgestiegen sind. Dieser Traum von Präsident Lula, dass jeder Brasilianer sich einmal am Tag ein warmes Essen leisten kann, der ist für viele in Erfüllung gegangen.
Über diese rein materielle Grundversorgung hinaus ist wenig passiert, und das ist das entscheidende Problem, nämlich die Gesundheitsversorgung ist wirklich schlimm. Man muss wirklich Glück haben. Die Ärzte sind gut, aber man muss erst mal vorgelassen werden zu einem Arzt. Es kann sein, dass man bis dahin schon gestorben ist. Wenn man auf die öffentliche Schule geht, sind die Chancen, dass man mal eine Uni von innen sieht, auch sehr gering, und das Geld für eine private Schule haben auch diejenigen, die in die untere Mittelschicht aufgestiegen sind, definitiv nicht.
Meurer: Welche Rolle spielt überhaupt die Fußball-Weltmeisterschaft für die Proteste jetzt?
Prange de Oliveira: Ich glaube, dass die Demonstranten schon sehr genau wissen, dass das jetzt der Moment ist, wo die öffentliche Aufmerksamkeit auf Brasilien sich richtet, dass natürlich auch zu diesem Zeitpunkt ihre Proteste mehr Druck, mehr politischen Druck verursachen, und natürlich ist dieser Zeitpunkt bewusst gewählt.
Meurer: Jetzt hat auch noch die Fußball-Ikone Brasiliens, Pelé, sich zu Wort gemeldet und nicht das gesagt, was die Demonstranten hören wollten. Er hat gefordert, all die Aufregung, all diese Proteste zu vergessen und sich auf den Fußball zu konzentrieren. Steht das Idol Pelé auf der falschen Seite?
Prange de Oliveira: Ich glaube nicht. Er hat ja noch nachgelegt. Nachdem er gemerkt hat, dass diese Bemerkung etwas unglücklich war, hat er gesagt, dass er das sehr wohl versteht, die Anliegen der Demonstranten, und hat das wieder abgeschwächt. Ich glaube, er wird keinen größeren Schaden davon nehmen.
Das ist ja das Paradoxe: Eigentlich sind ja alle auf der Seite der Demonstranten. Auch der Ex-Präsident Lula hat sich schon zu Wort gemeldet und hat gesagt, jeder der irgendwie einen gesunden Menschenverstand hat, muss diese Forderungen akzeptieren, und so versucht die Regierung ja auch, Wind aus dieser Situation rauszunehmen und die Lage wieder zu beruhigen. Aber es steht sehr auf der Kippe. Man weiß nicht, ob ihr das gelingt.
Meurer: Es gibt ja auch Solidaritätsadressen, jetzt nicht von Pelé, oder vielleicht jetzt auch von Pelé, aber von aktiven Fußball-Spielern. Werden die geglaubt in Brasilien, werden die Millionäre sagen, wir sind solidarisch?
Prange de Oliveira: Doch, auf jeden Fall. Dante hat es ja gesagt. Wenn die Selecao sagt, wir sind auf eurer Seite, die Nationalmannschaft ist das Volk – das hat ja auch der Trainer gesagt -, dann würde ich sagen, das genießt absolute Glaubwürdigkeit. Fußballspieler sind halt Stars und darüber gibt es meines Wissens keine Debatte in Brasilien, dass deren hohe Millionengehälter kritisiert werden. Das nicht.
Meurer: Proteste und sozialer Aufruhr in Brasilien, ein Jahr vor der Fußball-Weltmeisterschaft – Astrid Prange de Oliveira von der Brasilien-Redaktion der Deutschen Welle. Vielen Dank nach Bonn und einen schönen Tag noch.
Prange de Oliveira: Gleichfalls – danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Erstmals nach über einem halben Jahrhundert findet in Brasilien nächstes Jahr wieder eine Fußball-Weltmeisterschaft statt. Atmosphäre und Stimmung sollten alles in den Schatten stellen, was bisher da war: Südafrika, auch das Sommermärchen in Deutschland 2006. Und jetzt? Von märchenhaften Verhältnissen ist Brasilien offenbar weit entfernt. – Astrid Prange de Oliveira ist Brasilien-Redaktion der Deutschen Welle. Guten Tag nach Bonn!
Astrid Prange de Oliveira: Guten Tag!
Meurer: Warum sind die Demonstranten auf einmal so wütend geworden auf die Fußball-Weltmeisterschaft?
Prange de Oliveira: Das hört sich erst mal wirklich paradox an. Das Klischee vom fußballbegeisterten und sambawütigen Brasilianer ist jetzt auf jeden Fall nicht bestätigt worden. Für die Wut gibt es unterschiedliche Gründe.
Ein großer Teil ist, glaube ich, die Enttäuschung über die PT, die Arbeiterpartei, die seit zehn Jahren dieses Land regiert. Viele haben einfach den Übervater Lula und auch seine Nachfolgerin satt, sind enttäuscht, weil Brasilien sich eigentlich nicht verändert hat. Die Leute haben mehr Geld in der Tasche, das stimmt, die Sozialprogramme haben viele Leute aus der Armut befreit. Aber alles, was Brasilien beklagt und was die Demonstranten jetzt beklagen, nämlich Korruption, ein Gesundheitssystem, was nicht funktioniert, Straßen, ein öffentlicher Nahverkehr, der nicht funktioniert, das alles sind strukturelle Reformen, die die Partei, die angetreten ist, um das zu verändern, eben nicht verändert hat, und da hat sich jetzt enorm was zusammengestaut.
Meurer: Frau Prange de Oliveira, sind das die Ärmsten der Armen aus den Favelas, aus den Armenvierteln, die jetzt demonstrieren, oder ist das die Mittelschicht, sind das junge Studenten, wer ist da auf der Straße?
Prange de Oliveira: Die Armen sind es zum großen Teil nicht. Es ist die unter und die mittlere Mittelschicht, denn die sind eigentlich auch am meisten davon betroffen, dass diese Defizite bei den strukturellen Reformen nicht angegangen worden sind. Deren Einkommen hat sich ja nicht erhöht. Im Gegenteil: Die Preise explodieren. Die Steuerreform, die schon lange ansteht, die stagniert auch. Der Höchststeuersatz in Brasilien ist 27 Prozent, alles andere sind indirekte Steuern. Das heißt, wer wenig oder mittel verdient, bezahlt sehr viele Steuern, wer mehr verdient, da sinkt die Steuerlast. Zusätzlich kommen Ausgaben für private Schulen, für eine private Gesundheitsversorgung, und das alles ist in den letzten Jahren enorm viel teurer geworden und daher kommt die Wut.
Meurer: Wir haben ja hier in Deutschland das Bild, dass in Brasilien gerade unter Präsident Lula da Silva und auch unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff sehr viel Wert auf die soziale Entwicklung gelegt worden ist. Wer hat denn wirklich von der Politik der letzten Jahre profitiert?
Prange de Oliveira: Ich glaube, man kann uneingeschränkt sagen – und das muss man auch wirklich konzedieren und anrechnen -, dass viele Menschen im unteren Einkommensniveau, also viele arme Brasilianer, definitiv in die untere Mittelschicht aufgestiegen sind. Dieser Traum von Präsident Lula, dass jeder Brasilianer sich einmal am Tag ein warmes Essen leisten kann, der ist für viele in Erfüllung gegangen.
Über diese rein materielle Grundversorgung hinaus ist wenig passiert, und das ist das entscheidende Problem, nämlich die Gesundheitsversorgung ist wirklich schlimm. Man muss wirklich Glück haben. Die Ärzte sind gut, aber man muss erst mal vorgelassen werden zu einem Arzt. Es kann sein, dass man bis dahin schon gestorben ist. Wenn man auf die öffentliche Schule geht, sind die Chancen, dass man mal eine Uni von innen sieht, auch sehr gering, und das Geld für eine private Schule haben auch diejenigen, die in die untere Mittelschicht aufgestiegen sind, definitiv nicht.
Meurer: Welche Rolle spielt überhaupt die Fußball-Weltmeisterschaft für die Proteste jetzt?
Prange de Oliveira: Ich glaube, dass die Demonstranten schon sehr genau wissen, dass das jetzt der Moment ist, wo die öffentliche Aufmerksamkeit auf Brasilien sich richtet, dass natürlich auch zu diesem Zeitpunkt ihre Proteste mehr Druck, mehr politischen Druck verursachen, und natürlich ist dieser Zeitpunkt bewusst gewählt.
Meurer: Jetzt hat auch noch die Fußball-Ikone Brasiliens, Pelé, sich zu Wort gemeldet und nicht das gesagt, was die Demonstranten hören wollten. Er hat gefordert, all die Aufregung, all diese Proteste zu vergessen und sich auf den Fußball zu konzentrieren. Steht das Idol Pelé auf der falschen Seite?
Prange de Oliveira: Ich glaube nicht. Er hat ja noch nachgelegt. Nachdem er gemerkt hat, dass diese Bemerkung etwas unglücklich war, hat er gesagt, dass er das sehr wohl versteht, die Anliegen der Demonstranten, und hat das wieder abgeschwächt. Ich glaube, er wird keinen größeren Schaden davon nehmen.
Das ist ja das Paradoxe: Eigentlich sind ja alle auf der Seite der Demonstranten. Auch der Ex-Präsident Lula hat sich schon zu Wort gemeldet und hat gesagt, jeder der irgendwie einen gesunden Menschenverstand hat, muss diese Forderungen akzeptieren, und so versucht die Regierung ja auch, Wind aus dieser Situation rauszunehmen und die Lage wieder zu beruhigen. Aber es steht sehr auf der Kippe. Man weiß nicht, ob ihr das gelingt.
Meurer: Es gibt ja auch Solidaritätsadressen, jetzt nicht von Pelé, oder vielleicht jetzt auch von Pelé, aber von aktiven Fußball-Spielern. Werden die geglaubt in Brasilien, werden die Millionäre sagen, wir sind solidarisch?
Prange de Oliveira: Doch, auf jeden Fall. Dante hat es ja gesagt. Wenn die Selecao sagt, wir sind auf eurer Seite, die Nationalmannschaft ist das Volk – das hat ja auch der Trainer gesagt -, dann würde ich sagen, das genießt absolute Glaubwürdigkeit. Fußballspieler sind halt Stars und darüber gibt es meines Wissens keine Debatte in Brasilien, dass deren hohe Millionengehälter kritisiert werden. Das nicht.
Meurer: Proteste und sozialer Aufruhr in Brasilien, ein Jahr vor der Fußball-Weltmeisterschaft – Astrid Prange de Oliveira von der Brasilien-Redaktion der Deutschen Welle. Vielen Dank nach Bonn und einen schönen Tag noch.
Prange de Oliveira: Gleichfalls – danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.