Diese Menschen fühlten sich von Deutschland nicht angenommen, sondern eher von der Türkei angesprochen, so Ates weiter. Die Absage der ebenfalls in Köln geplanten pro-kurdischen Demonstration wertete Ates als Zeichen der Angst. Die Menschen trauten sich nicht mehr auf die Straße. Ates sprach von massiven Einschüchterungen durch Anhänger des türkischen Staatspräsidenten. Diese wollten Andersdenkende nicht akzeptieren.
Mit Blick auf die Vorwürfe gegen die Gülen-Bewegung forderte sie Erdogan auf, Belege für eine angebliche Unterstützung der Putschisten vorzulegen. Ansonsten gelte die Unschuldsvermutung. Ates warnte in diesem Zusammenhang vor einem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Damit würden man all denjenigen in den Rücken fallen, die sich am Westen und an Rechtsstaatlickeit orientierten.
Das komplette Interview zum Nachlesen:
Bettina Klein: Und wir bleiben beim Thema und begrüßen am Telefon die deutsch-türkische Anwältin Seyran Ates, sie lebt und arbeitet in Berlin und dort erreichen wir sie auch. Hallo, Frau Ates!
Seyran Ates: Hallo, Frau Klein!
Klein: Wir müssen erst mal eine kleine Begriffsklärung vornehmen, glaube ich. Wir sprechen davon, das sei hier in Köln eine Pro-Erdogan-Demonstration, dem wir im Augenblick massiv Demokratieabbau vorwerfen. Die Demonstranten, die Veranstalter selbst sprechen von einer Pro-Demokratie-Demonstration. Was ist es denn nun?
Ates: Ja. Na ja, das kommt ein bisschen lächerlich rüber leider, auch wenn von den 30.000 noch so sehr behauptet wird, dass es für die Demokratie wäre, wenn man sich anschaut, was für ein Demokratieverständnis diese Leute haben und Rechtsstaatlichkeitsverständnis diese Leute haben. Ganz viele Leute aus dieser Gruppe beschimpfen zurzeit auch die sozialen Medien, unter anderem mich auch, als Hure, Schlampe, Fotze, man müsste mich umbringen, weil ich eine andere Meinung habe. Also, sehr viele Demokraten erwarte ich da leider Gottes nicht. Ich würde mich freuen, wenn das eine Pro-Demokratie-Demonstration wäre. Ähnlich verhält es sich in der Türkei, wenn Sie die Bilder sehen. Also, da laufen teilweise sehr islamistisch gekleidete Männer, vor allem Männer eben, und rufen "Demokratie", und das wirkt schon sehr irritierend. Es ist definitiv eine …
Klein: Was verstehen die unter Demokratie, Frau Ates?
Ates: Na ja, die verstehen unter Demokratie: Erdogan ist zu 52 Prozent gewählt und das, was er jetzt sagt, ist richtig und man darf ihn nicht mehr kritisieren. Wir müssen jetzt alle, alle, das gesamte türkische Volk oder die auch alle dort geboren wurden oder irgendwie mit der Türkei irgendwie in Verbindung stehen, alle die … Niemand darf überhaupt Kritik üben, alle, die türkisch sind, müssen ihn lieben. Das verstehen sie unter Demokratie. Weil er so gut ist für die Türkei.
Klein: Ja, und Erdogan – ich höre da eine gewisse Ironie in Ihrer Stimme –, Erdogan selber wirft Europa jetzt auch vor, wir würden hier die Putschisten unterstützen.
Ates: Na ja, das ist genauso absurd. Das hat Herr Erdogan ja schon immer gemacht, dass er fremde Kräfte und Mächte vermutet. Die Verschwörungstheorien in der Türkei, das ist fast in der DNA, würde ich sagen, also, die gibt es, seit es die Türkei gibt, dass es Kräfte gibt. Und da mag ja auch was dran sein, das kennen wir ja aus anderen Ländern auch, dass durchaus auch fremde Interessen dazu beitragen, dass Länder dann sich plötzlich im Krieg befinden. Da ist ja auch ein Teil der Wahrheit da. Also, es ist gar nicht so absurd. Aber dass Putschisten unterstützt würden, das ist nicht nachgewiesen. Und da sehen wir auch wieder, dass es keine Demo für die Demokratie ist, weil, diese Leute haben nicht begriffen, dass es eine Rechtsstaatlichkeit gibt. Und Rechtsstaatlichkeit bedeutet Unschuldsvermutung. Herr Erdogan sagt, ich habe ausgemacht, dass Fethullah Gülen und seine Anhänger diesen Putschversuch initiiert haben. Das kann ja richtig sein, wir wollen es ihm auch abnehmen und glauben, wenn er die Beweise dafür liefert. Ich bin Juristin und erwarte, dass die Unschuldsvermutung auch in der Türkei gilt. Und auch bei diesen vermeintlich für die Demokratie demonstrierenden Menschen, die uns auf Facebook beleidigen und uns Drohungen aussprechen. Ich sage doch nicht, dass ich Fethullah-Gülen-Anhängerin bin, ich will nur, dass es bewiesen wird.
Klein: Ja. Frau Ates, Unschuldsvermutung nannten Sie gerade als ein Beispiel für Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. Gleichzeitig sagen Sie auch, 52 Prozent der Türken haben für Erdogan gestimmt und für die Mehrheit der Türken immerhin noch ist das Demokratie und ist er demokratisch gewählt. Wir machen uns hier viele Sorgen, viele Gedanken, führen viele Interviews zu dem Thema, auch heute Mittag wieder mit Ihnen. Sollten wir uns dann also hier im Westen, in der Bundesrepublik Deutschland etwas zurückhalten mit unseren Sorgen und unserer Kritik an der Türkei?
Ates: Wahlen sind noch lange keine Garantie für echte Demokratie
Ates: Nein, das können wir nicht, weil wir ja sehen, was für eine Verhaftungswelle durch die Türkei durchgeht. Und wir machen uns doch auch Sorge, wenn in Nordkorea diese Regierung unsere Welt gefährdet. Und wir machen uns Sorgen, wenn Putin wieder Dinge macht, die uns sehr feindlich sind, aber auch die USA macht nicht alles richtig. Das ist doch falsch, zu sagen, da ist jetzt eine demokratisch gewählte Regierung und das ist dann damit alles geklärt. Es gibt viele demokratisch gewählte Regierungen, die uns Sorgen machen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Berlusconi, Hitler, also alte und neue, Stalin, da sind so viele Beispiele in der Vergangenheit, Leute, die dieser Welt nicht gutgetan haben, die demokratisch gewählt wurden. In Ägypten gab es ein Aufruhr, Mursi, Sisi jetzt … Also, demokratische Wahlen so, wie wir sie kennen, dass man an die Wahlurnen geht, ist doch noch lange keine Garantie für eine echte Demokratie. Und das verstehen diese Leute.
Klein: Klar, Frau Ates, aber um da noch mal nachzufragen: Wir verwenden hier schon auch relativ viel Zeit und Energie auf dieses Thema. Ich glaube, seit dem Putsch in der Türkei überproportional viel. Gleichzeitig erleben wir, dass auf unseren Straßen eben möglicherweise 30.000 Menschen für denjenigen auf die Straße gehen, die das sehr gut finden, was Erdogan eben macht, und nicht Leute, die sich also ähnliche Sorgen machen wie zum Beispiel Journalisten hier im Deutschlandfunk.
Ates: Wie wir.
Klein: Also, da ist doch eine Diskrepanz?
Ates: Absolute Diskrepanz. Die Leute, die das nicht unterstützen, sitzen gerade sehr viel zu Hause und haben Angst. Ich sage Ihnen, dass ich ständig hören muss: Halt endlich den Mund, sonst bist du auch gefährdet. In der Türkei sieht das genauso aus, die Leute haben Angst vor dieser hoch emotionalen Gruppe von Menschen, die sind bereit, Häuser anzuzünden, bereit, Leute zu verprügeln. Man hat Angst, definitiv Angst, jetzt auf die Straße zu gehen. Wenn jetzt die kurdische … prokurdisch oder ich weiß nicht, wie sie sich nennen, Demo abgesagt wurde, um da nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, ist das doch ein Zeichen dafür, dass es Leute gibt in der Opposition, friedliche Leute, die Angst haben. Das hört man auch aus der Türkei. Also, der Satz: Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden, das ist der Satz von Rosa Luxemburg, der mir immer wieder einfällt, wenn ich diese Leute reden und diskutieren höre. Die wollen keine Andersdenkenden. Und das ist das Problem. Und die Andersdenkenden haben gerade unglaubliche Angst, dass sie diskreditiert werden, als Gülen-Anhänger dargestellt werden, als PKK-Anhänger und vor allem als Vaterlandsverräter. Gestern habe ich ein Interview, was einigermaßen objektiv ist, was ich denke, dass ich es tue, und kriege auf Facebook und auf Twitter sofort eine Nachricht, dass ich eine Hure bin, dass ich eine Schlampe bin und eine Vaterlandsverräterin, diese Frau ist eine Türkei-Hasserin. Kriege ich durchgängig.
Klein: Frau Ates, das ist äußerst bedauerlich, auf der anderen Seite haben wir dieses Phänomen der Hasskommentare und der Unverschämtheit natürlich in sozialen Netzwerken immer mal wieder bei bestimmten Themen.
Ates: Ständig, ja.
Klein: Wenn ich da noch mal nachfragen darf: Wir haben jetzt wenig Einfluss natürlich, was in der Türkei sich abspielt, der deutsche Rechtsstaat hat natürlich Einfluss darauf, was sich hier in Deutschland abspielt, wenn auch nicht so sehr viel Einfluss auf das, was auf Facebook sich da tut. Was wäre Ihr Wunsch … Also, wir hören ja immer wieder davon, dass sich eben auch einige in der deutsch-türkischen Community eben hier eingeschüchtert fühlen, wie Sie das gerade geschildert haben, auch aus eigener leidgeprüfter Erfahrung. Was wäre Ihr Wunsch oder Ihre Forderung an den deutschen Rechtsstaat, um da einzugreifen? Oder ist das eigentlich gar nicht möglich?
Ates: Folge verfehlter Integrationspolitik
Ates: Natürlich ist das möglich und vor allem müssen wir auch über die Verantwortung Deutschlands dafür natürlich reden. Das sind leider die letzten Minuten. Deutschland hat mit dazu beigetragen, dass jetzt 30.000 Leute da für Erdogan auf die Straße gehen und nicht für Herrn Gauck oder für Frau Merkel auf die Straße gehen.
Klein: Inwiefern dazu beigetragen?
Ates: Das ist die verfehlte Integrationspolitik hier. Ganz klar ist, dass diese Leute sich nicht von diesem Land angesprochen fühlen als angenommen und integriert, sondern eher nach wie vor von der Türkei angesprochen fühlen. Insofern bin ich absolut der Ansicht wie Herr Can Dünlar, dass auf keinen Fall die Verhandlungen im Hinblick auf die Türkei jetzt abgebrochen werden dürfen. Damit würde man allen Menschen, die westorientiert, modern und rechtsstaatlich orientiert sind, in den Rücken fallen.
Klein: Die deutsch-türkische Anwältin Seyran Ates heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk, Frau Ates, haben Sie vielen Dank für Ihre Einschätzungen und für Ihre Schilderungen und vielen Dank für Ihre Zeit heute Mittag!
Ates: Danke, gerne, Frau Klein!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.