Dirk Müller: Der Staatschef muss binnen 24 Stunden zurücktreten, sagen, fordern die Anführer der Protestbewegung auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Zehntausende harren dort aus, immer noch, trotz der Eiseskälte. Nach der Eskalation der Anti-Regierungs-Proteste in der Ukraine stellt die Opposition also Präsident Wiktor Janukowytsch ein Ultimatum. Die Nachrichtenagenturen sprechen inzwischen von mindestens fünf Menschen, die bei den Protesten umgekommen sind.
Wir bleiben beim Thema Kiew, die Gewalt in der Ukraine. Meine Kollegin Christine Heuer hat darüber mit der Grünen-Europaabgeordneten Rebecca Harms gesprochen. Tote und Verletzte in Kiew, das ist eine neue Dimension des Konflikts. Wie beurteilen Sie die Lage?
"Furchtbarer Schritt rückwärts in die Diktatur"
Rebecca Harms: Erst mal ist das meiner Meinung nach der traurigste Tag in der Geschichte der Auseinandersetzung um den demokratischen Weg der Ukraine. Das ist nicht nur ein Weg, der in Gang gekommen ist durch das Assoziierungsabkommen, sondern das ist ein Weg mit vielen Aufs und Abs, der 1992 in der Ukraine begonnen hat. Eine wichtige Wegmarke war 2004 und wir haben jetzt eine Zuspitzung erreicht, die für viele derjenigen, die in der Ukraine für die Demokratie gekämpft haben in dieser langen Zeit, so aussieht, als würde es einen furchtbaren Schritt rückwärts in die Diktatur geben.
Christine Heuer: Es gibt aber, Frau Harms, auch einige Demonstranten, die gewalttätig sind. Was sind das für Leute? Ist das ein echter Teil der Opposition, oder glauben Sie, das sind U-Boote, die eingeschleust werden, um die Lage absichtlich weiter zu eskalieren?
Harms: Ich versuche seit Tagen, eigentlich die ganze Zeit immer, mir weiter ein echtes Bild zu machen. Ich bin bis zum 3. Januar eine Woche lang in Kiew gewesen und bin in engem Kontakt mit vielen Leuten, auch vielen Intellektuellen, Juri Andruchowytsch, einem preisgekrönten Schriftsteller zum Beispiel, die alle auf dem Euro-Majdan sind. Und das, was sich für mich als Einschätzung ergibt, das unterscheidet sich von der Interpretation, die ich in vielen europäischen Medien lese. Ich glaube, es gibt wirklich echte Provokateure. Es wird immer wieder gesprochen von den Ultras, einer Gruppe von militanten, radikalen Russen, die als Provokateure aktiv sind.
Heuer: Werden die geschickt, oder sind die einfach da und handeln sozusagen auf eigene Rechnung?
Harms: Solche Gruppen sind nicht einfach da, sondern das Auftauchen dieser Gruppen, das ist auch Teil der Eskalationsstrategie der Regierung unter Präsident Janukowytsch. Ich glaube, dass man in Europa, im Westen, sich nicht wundern darf, wenn dann auch auf einem Platz, der bisher völlig gewaltfrei seine Strategien gemacht hat, es Leute gibt, die Steine schmeißen, die Stöcke haben und die sich hinter Schildern bereit machen, diesen Platz auch zu verteidigen.
Weil wenn man erlebt, wie auf die Freunde, die auf dem Platz seit Wochen leben und gewesen sind, geschossen wird, wie Menschen sterben in dieser Auseinandersetzung durch Polizeieinsätze der Regierung, organisiert von der Regierung, dann gibt es immer auch Reaktionen. Die Eskalation, von der gesprochen wird, die findet nicht gleichmäßig auf beiden Seiten statt, sondern die geht ganz systematisch von der Regierung aus.
"Ultras sind Teil der Eskalationsstrategie von Janukowytsch"
Heuer: Janukowytsch hat ja gesagt, er sei bereit, über die Rücknahme der umstrittenen jüngsten Gesetze und auch über einen Rücktritt der Regierung nachzudenken. Wie glaubwürdig finden Sie ihn? Spielt er nur auf Zeit?
Harms: Das Hin und Her von Präsident Janukowytsch, das ist sehr beeindruckend. Das kennen wir jetzt ja aus der Debatte um das Assoziierungsabkommen. Ich glaube, dass Präsident Janukowytsch weiß, wenn er weiter nur auf Eskalation setzt, dass dann das nicht unbedingt für ihn ausgeht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Präsident Janukowytsch mit seinem Clan, der ja sehr in der Kritik steht wegen Korruption, dass der in der Lage ist, wirklich die gesamte Polizei des Landes oder die Armee hinter sich zu versammeln.
Heuer: Sie sind also der Meinung, Janukowytsch selbst hat auch ein Interesse daran, dass es tatsächlich zu Verhandlungen und zu einer Einigung kommt?
Harms: Ich glaube, dass er in seiner Partei, in der Partei der Regionen, nicht alle hinter sich hat. Ich weiß, dass die großen Oligarchen, die Wirtschaftskapitäne, sehr hin- und hergerissen sind über die Frage, soll man diesen Mann weiter unterstützen oder nicht. Und die Perspektive, mit dem Mann zurückzugehen unter den Schirm Moskaus und Präsident Putins, diese Perspektive, die ist auch für diese Leute überhaupt nicht attraktiv.
Heuer: Wer, Frau Harms, soll dann verhandeln und wer könnte solche Verhandlungen vermitteln?
"Europäer müssen zu ihrem Versprechen stehen"
Harms: Ich denke, dass wir als Europäer sehr gute Kontakte in die Ukraine, auch in die Regierung, zur Regierung, zu den Mächtigen im Land haben, und ich glaube, dass es jetzt wirklich darauf ankommt, zu den Versprechen, dem Land bei einer europäischen Perspektive zu helfen, zu diesen Versprechen zu stehen. Das bedeutet jetzt, dass man mit guten Leuten, mit starken Leuten sich dort engagiert, Klitschko und Jazenjuk unterstützt bei der Forderung zu verhandeln.
Ich weiß, dass das in den Ohren der Leute auf dem Euro-Majdan immer wieder schrill klingt, wenn man das in so einer zugespitzten Situation sagt, aber das ist jetzt die wichtigste Aufgabe der Europäischen Union, auch gegen Moskau, weil Moskau hatte ein Interesse, dass der Euro-Majdan geräumt wird, dass diese Bewegung der Zivilgesellschaft, dass die erstickt wird, weil Moskau fürchtet eine Ansteckung im eigenen Land.
Müller: Meine Kollegin Christine Heuer im Gespräch mit der Grünen-Fraktionschefin im Europaparlament, Rebecca Harms.
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