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Reaktionen auf Erdogans Auftreten
"Viele Menschen sind eingeschüchtert von der Staatsmacht"

Der türkische Staatspräsident Erdogan habe mit seinen unsäglichen Vorwürfen jede Grenze überschritten, sagte die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im DLF. Trotzdem wäre es falsch, jegliche Verbindungen zur Türkei zu kappen. Auch dort gebe es viele Menschen, die dieses Hetzen und Provozieren nicht verstehen könnten.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin der FDP, auf dem Bundesparteitag der FDP in Berlin.
    Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser Schnarrenberger (FDP). (imago / IPON)
    Jasper Barenberg: Ruhe bewahren, nicht provozieren lassen, das Gespräch suchen, an dieser Strategie hält die Bundesregierung, hält auch Kanzlerin Angela Merkel im Großen und Ganzen fest, seit sich Präsident Erdogan gegenüber Deutschland, aber auch gegenüber den Niederlanden in immer drastischeren Aussagen oder besser gesagt Ausfällen versteigt. Zum Beispiel: Der Geist des Faschismus wüte auf den Straßen Europas. Oder: Angela Merkel unterstütze Terroristen.
    Vor der Volksabstimmung über das gewünschte Präsidialsystem scheint Erdogan und seinen Vertrauten vieles an scharfer Rhetorik nur recht, was man bis vor Kurzem keinem Staatspräsidenten zugetraut hätte, um für ein politisches System zu werben, das für Kritiker wichtige Bestandteile von Demokratie weiter gefährden und aushebeln könnte: Unabhängigkeit der Justiz, Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte.
    Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die ehemalige Bundesjustizministerin, hat in den vergangenen Tagen viele Gespräche in Ankara und Istanbul geführt, eben über solche Themen: über Pressefreiheit, Minderheitenrechte, Menschenrechtsverletzungen, die Beziehungen zur Europäischen Union. Zurück in Bayern ist sie jetzt am Telefon. Einen schönen guten Morgen.
    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich grüße Sie. Guten Morgen.
    Barenberg: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, haben Sie in der Türkei Menschen getroffen, denen die Entwicklung des Landes, denen das martialische Auftreten Erdogans Angst macht, politisch, aber möglicherweise auch ganz persönlich?
    "Erdogan ist hoch nervös"
    Leutheusser-Schnarrenberger: Ja. Ich habe viele Menschen getroffen in der Türkei, die dieses Auftreten, dieses Hetzen, dieses absichtlich Provozieren von Erdogan überhaupt nicht verstehen können, die sich dadurch auch nicht angesprochen fühlen, die sich in vielen Initiativen in der Gesellschaft einsetzen für gerade auch eine Offenheit zu Europa, für Pressefreiheit, für auch Versammlungsfreiheit. Und viele Menschen, habe ich den Eindruck, sind wirklich auch eingeschüchtert, so wie die Staatsmacht auftritt.
    Barenberg: Jetzt höre ich schon viele Hörerinnen und Hörer, die möglicherweise sagen, das muss aber ein ganz schiefes Bild sein, was Sie da mitbekommen haben, denn die große Mehrheit der Türken steht doch zu ihrem Staatspräsidenten und bejubelt und beklatscht auch seine harten Worte in diesen Tagen.
    Leutheusser-Schnarrenberger: Nein, ich denke nicht, dass das ein schiefes Bild ist. Das, was wir in den Medien erleben, auch diese inszenierten Veranstaltungen, dieses Fahne schwenken, rote Fahne schwenken, ist eine Seite. Aber warum agiert denn Erdogan in dieser Art und Weise? Weil er hoch nervös ist, weil die AKP, die Partei, wo er mal Parteivorsitzender war, wo er aber so tut, als sei er das immer noch, noch längst nicht sich sicher ist, ob sie das Referendum gewinnen wird. Deshalb versucht er ja, mit dieser Strategie jetzt die Menschen für sich zu gewinnen als der nationale starke Leader, der für alles eine Lösung hat. Der Ausnahmezustand zeigt, wie die Gesellschaft gespalten ist, und vor allen Dingen, wohin es führt, wenn das Referendum mit Ja beschlossen wird. Dann wird es nämlich für viele Menschen kaum eine Möglichkeit geben, noch irgendwo ihre Rechte verteidigen zu können.
    Barenberg: Sie haben das Referendum angesprochen und den möglichen Ausgang. Würden Sie sagen, die Türkei ist auf dem Weg damit, mit diesem Präsidialsystem, oder wäre dann auf dem Weg in eine Diktatur, in eine Despotie?
    "Viele sind aber auch ihrer Existenz beraubt"
    Leutheusser-Schnarrenberger: Ja. Ich würde ganz klar sagen, dass sich dann die Türkei natürlich von jedem demokratischen Prozess entfernt oder ihm absagt, denn Konzentration von Macht dann in einer Hand, es gibt keinen Regierungspräsidenten mehr, aber auch dann natürlich die Schwächung der Justiz, weil die meisten wichtigen Verfassungsrichter dann vom Präsidenten und der einen Partei, die regiert, ernannt werden wird, und der Ausnahmezustand zeigt ja, da sind jetzt schon viele Rechte außer Kraft gesetzt worden, um Minderheiten in dem Land, die von Erdogan massiv bekämpft werden, möglichst aus der Sicht der Öffentlichkeit ganz verschwinden zu lassen, zum Teil auch in Gefängnissen, oder indem man ihnen die Existenz nimmt.
    Barenberg: Nun sagen uns ja viele türkische Politiker, mit denen wir im Gespräch sind, auch hier im Deutschlandfunk in diesen Tagen, denkt mal an den Putschversuch vom 15. Juli und was das für unser Land bedeutet hat, und sie nehmen diesen Putsch und die Reaktionen von Erdogan und des türkischen Staates darauf als Begründung, diese Säuberung, diese Verhaftung, die Entlassung von Zehntausenden aus dem öffentlichen Dienst. Haben wir dafür zu wenig Verständnis? Können wir das zu wenig nachvollziehen?
    Leutheusser-Schnarrenberger: Aber natürlich! Ein Putsch und dann hier jetzt dieser Putschversuch, die Staatsmacht zu stürzen, eine andere Regierung, ein anderes System zu etablieren mit Gewalt, das erschüttert und das ist nichts, was wir auch nur ansatzweise unterstützen können. Und natürlich müssen wir auch diese Sichtweise sehen. Wir müssen sie nicht in der Reaktion darauf in allen Fassetten auch verstehen, denn die Reaktion darauf ist jetzt, dass Säuberungsaktionen in weitem Umfang in der Türkei erfolgen. Über 100.000 entlassen, über die Journalisten wissen wir, über 150 sind in Haft. Viele sind aber auch ihrer Existenz beraubt, weil in diesem Ausnahmezustand Eigentum beschlagnahmt wird, nicht der Zugang zu Konten besteht, wenn man seinen Job verloren hat, der Pass eingezogen ist, sie also keine Perspektive haben, fast rechtlos gestellt werden. Das ist dann aber auch nicht eine akzeptable Reaktion.
    Barenberg: Unter den 150 Journalisten in etwa, die in Haft sitzen, zählt – und das berührt uns hier in Deutschland natürlich am meisten – auch Deniz Yücel. Ist es ein politisches Strafverfahren, das die Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit mit Füßen tritt?
    "Deutlich machen, dass wir uns hier auf ihre Strategie nicht einlassen"
    Leutheusser-Schnarrenberger: Ja. Ich denke, dass dieses Urteil schon zustimmt, denn es geht ja um einige Artikel, auch ein Interview, die Herr Deniz Yücel veröffentlicht hat. Jetzt wird nicht nur ihm gegenüber, auch gerade aber ihm gegenüber zum Anlass genommen, diese Artikel zu sagen, das ist Propaganda, damit Unterstützung auch für Terrororganisationen. Mit diesem Vorwurf ist man jetzt ganz, ganz schnell an der Hand. Das wird alles sehr, sehr weit ausgelegt, weil einem einfach diese Form der Berichterstattung nicht gefällt.
    Barenberg: Was nun die Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsmitglieder und Politiker hier in Deutschland angeht, da erleben wir ja gerade eine harte Auseinandersetzung. Jetzt hat FDP-Parteichef Christian Lindner gesagt, die Einreise und die Auftritte türkischer Minister müssten einfach verboten werden. Teilen Sie diese Einschätzung?
    Leutheusser-Schnarrenberger: Natürlich müssen wir gegenüber der Türkei deutlich machen, auch den Ministern und Herrn Erdogan, dass wir uns hier auf ihre Strategie nicht einlassen und dass man hier nicht aufwiegeln und gefährliche Situationen, gefährlich für die Sicherheit erzeugen kann. Das ist das eine. Das hat Christian Lindner damit gemacht. Ich denke aber, dass man sich gerade auf diese Strategie von Erdogan nicht einlassen soll, indem man sagt, jetzt machen wir hier unser Land dicht, sondern dass wir genau wissen müssen, auch nach dem 16. April - dann ist der Tag des Referendums - braucht es doch noch Gesprächsebenen auf verschiedenen Plattformen mit der Türkei. Wir wollen nicht, dass sie komplett abdriftet. Es ist unsicher, wie das Referendum ausgeht. Von daher, denke ich, ist auch ein Stück weit Zurückhaltung sehr wohl angebracht und nicht pauschal generell jede Einreise zu verbieten, sondern die sollen sagen, wo sie auftreten, wie das mit Sicherheit vereinbar ist, aber auch klar sagen, wohin sie kommen, und nicht irgendwelche falschen Tatsachen vorschieben. Aber ich empfehle da doch nach meinen Eindrücken, nicht mit solchen Äußerungen jetzt total vielleicht auch die Linien zu der Türkei zu kappen.
    Barenberg: Ich verstehe Sie richtig: Sie wollen eher noch Brücken bauen. Wie kann denn diese Brücke aussehen, die gleichzeitig wehrhaft ist, was unsere Demokratie angeht, wie Christian Lindner das ja auch gesagt hat, und trotzdem hart in der Sache?
    "Erdogan will immer weiter aufstacheln und andere ins Unrecht versetzen"
    Leutheusser-Schnarrenberger: Hart in der Sache ist natürlich ganz klar, dass Erdogan hier mit seinen unsäglichen Vorwürfen, die jede Grenze überschreiten, dass er damit ganz klar hier eine Absage erhält und dass man deutlich macht, jeder hier deutlich macht, egal ob Regierung oder Opposition, dass das absolut inakzeptabel ist. Aber Erdogan will ja gerade mit dieser Strategie erreichen, dass er Menschen, die Wahlrecht haben in der Türkei, auch hier in Deutschland hinter sich bringt, und will immer weiter aufstacheln und andere ins Unrecht versetzen. Und da deutlich zu machen, wir könnten zwar allen die Einreise verbieten – das Bundesverfassungsgericht hat ja hier sehr klar gemacht, dass türkische Minister keinen Anspruch haben auf Auftritt -, dass aber im richtigen Rahmen, auch in geschlossenen Veranstaltungen sehr wohl wir hier ermöglichen, dass türkische Vertreter das Referendum erklären, aber wir nicht die Bürgerinnen und Bürger aufwiegeln lassen.
    Barenberg: … sagt die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, gerade zurück von einem Besuch in der Türkei und zahlreichen Gesprächen dort. Danke für das Gespräch heute Morgen.
    Leutheusser-Schnarrenberger: Ich bedanke mich!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.