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Realitäten und Zustände
Wirklichkeit

Die Leute in der Höhle haben die Welt im Rücken. Alles, was sie davon sehen, sind tanzende Schatten an der Wand: Silhouetten von Menschen, Tieren, Requisiten - bloßes Kino, die Wirklichkeit als Projektion. Mit diesem Bild markierte der griechische Philosoph Platon die Grenzen der Erkenntnis.

Dirk Baecker im Gespräch mit Frank Kaspar |
    Der Soziologe und Systemtheoretiker Dirk Baecker
    Der Soziologe und Systemtheoretiker Dirk Baecker (privat)
    Sein "Höhlengleichnis" warf grundsätzliche Fragen auf: Was ist Wirklichkeit? Wie genau können wir sie erfassen? Und welche Rolle spielt die Perspektive jedes Einzelnen dabei? Ist Wirklichkeit immer auch die Wirklichkeit des Andersdenkenden?In Zeiten von "Fake News" und "alternativen Fakten" stellt der Soziologe Dirk Baecker solche Fragen neu. Von der Antike bis zur modernen Wissenschaft klopft er philosophische Krisen-Szenarien auf Antworten für heute ab. Woran kann man sich halten, wenn alte Gewissheiten sich unter dem Blick der Forschung auflösen? Wo findet man noch Orientierung, wenn seriöser Journalismus mit Falschmeldungen und Verschwörungstheorien konkurriert? Ein Gespräch über intellektuelle Lebenskunst auf schwankendem Terrain.

    Frank Kaspar: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Mit dieser Frage hat der österreichisch‑amerikanische Psychologe und Sprachforscher Paul Watzlawick weltweit ein großes Publikum erreicht. In seinem gleichnamigen Buch von 1976 hat Watzlawick an vielen Beispielen gezeigt, dass das, was wir unter Wirklichkeit verstehen, nicht so einfach gegeben ist, sondern überhaupt erst durch Kommunikation hervorgebracht wird. Dirk Baecker, mehr als 40 Jahre später klingt das ja eigentlich wieder ziemlich aktuell. In der Kulturzeitschrift "Merkur" ist vor Kurzem ein Essay von Ihnen erschienen: "Was ist noch mal Wirklichkeit?" lautet der Titel. Und im Text gehen Sie dann in weiteren Fragen ziemlich grundsätzlich ins Detail: Was ist die Wirklichkeit, wie überzeugt man sich von ihr, wie überzeugt man andere von ihr, wessen kann man gewiss sein, was ist unbezweifelbar? - Was hat Ihnen den Anstoß gegeben, diese großen, alten Fragen noch mal neu zu stellen?
    Dirk Baecker: Der Anstoß war ganz praktisch gegeben. Es gab in Basel ein Festival für Dokumentartheater, Dokumentarfilm, Dokumentarkünste aller Art, von Boris Nikitin kuratiert. Und da tauchte die Frage auf: Wie wirklich ist eigentlich das, was ein Dokumentarfilm zeigen kann? Wie stark müssen bestimmte fiktive … oder Elemente der Fiktion sein, zum Beispiel Rahmensetzungen, bestimmte Schnitte, die man in Filmen verwendet, bestimmte Kostüme, in denen man Leute auf die Bühne bringt? Also wie viel Fiktion braucht man, um den Eindruck einer echten Wirklichkeit zu erzeugen? Und das hatte den Kurator damals so sehr fasziniert, die Frage hat ihn so sehr fasziniert, dass er es sich geleistet hat, so ein, zwei Vorträge aus einer eher wissenschaftlichen Richtung in das Programm hineinzuholen. Und ich hatte sogar das Vergnügen, diesen Vortrag zum zweiten Mal zu halten, weil er mit dem Ergebnis des ersten Vortrags noch nicht so richtig zufrieden war, und beim zweiten Mal entstand dann der Text, der jetzt schließlich auch im Merkur abgedruckt worden ist.
    Die zurechtgelegte Wirklichkeit
    Kaspar: Diesen künstlerischen Kontext merkt man dem Text ja jetzt, wenn man ihn im Merkur liest, nicht unbedingt mehr an. Sie weiten eher die Frage nach der Wirklichkeit, nach dem Wirklichkeitsbezug auf die Gesellschaft, auch auf aktuelle Diskussionen, zum Beispiel über sogenannte Fake News, über Institutionen, die traditionell für unseren Wirklichkeitsbezug zuständig sind, die Wissenschaft, den Journalismus. Vielleicht bleiben wir aber auch noch einen Moment bei Watzlawick, der auf den Einzelnen oft geschaut hat und daran, also an ganz praktischen Alltagsbeispielen auch gezeigt hat, wie Menschen sich sozusagen ihre eigene Wirklichkeit kreieren! Ich habe hier ein kurzes Zitat aus seiner Anleitung zum Unglücklichsein. Da gibt es diese Geschichte mit dem Hammer.
    "Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile, aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan. Der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben!"
    Kaspar: Man ahnt schon, wie die Geschichte ausgeht, der Mann steigert sich in seine Vorstellung immer mehr herein, dann klingelt er schließlich bei seinem Nachbarn und, noch bevor der guten Tag sagen kann, brüllt er ihn an: Behalten Sie doch Ihren verdammten Hammer! Wenn wir das jetzt mal so als soziologische Fallstudie in einer denkbar kleinen Besetzung nehmen, was meinen Sie, Dirk Baecker: Ist denn diese Geschichte noch ein gutes Beispiel dafür, wie Menschen sich ihre eigene Wirklichkeit zurechtlegen?
    Das Unglück der Selbstreferenz
    Baecker: Watzlawick war ein extrem raffinierter Wissenschaftler und ein extrem raffinierter Geschichtenerzähler. In der Geschichte geht es ja gar nicht unbedingt um Wirklichkeit, sondern es geht darum, wie man sich in einen Zweifel an etwas verstricken kann, ohne daraus wieder herauszufinden. Und natürlich wusste Paul Watzlawick, warum er diese Geschichte erzählte, nämlich er erzählte diese Geschichte, weil es um das Unglück der Selbstreferenz geht, das heißt den Verzicht darauf, mal für eine Sekunde anzuhalten und zu überlegen: Könnte ich vielleicht mal meine Annahme, warum dieser Nachbar mir so entgegengekommen ist, überprüfen, bevor ich mich so hineinsteigere? Die Pointe daran ist allerdings nicht die, dass Watzlawick nun dafür wirbt, grundsätzlich mit offenen Augen durch die Wirklichkeit zu gehen und jeden Zweifel für sich zu behalten, weil er eben solche gefährlichen Selbstverstrickungen hat, sondern im Gegenteil, er wirbt dafür, diesen Zweifel zu dosieren, also durchaus im Hinterkopf zu behalten - es könnte sein, dass der Nachbar nicht bereit ist, mir diesen Hammer zu leihen -, aber zunächst einmal zu überprüfen, ob die Annahme überhaupt stimmt. Und ich glaube, darin stecken nach wie vor viele Gründe, warum es sich lohnt, Watzlawick zu lesen, und darin steckt auch vieles von dem, was wir heute wissen müssen. Nämlich: Wirklichkeit ist nichts, was uns pur gegeben ist, sondern was immer aus dem Wechsel zwischen Annahmen auf der einen Seite und Beobachtungen auf der anderen Seite entsteht, und beide haben etwas möglicherweise Illusorisches. Meine Annahmen können täuschen, meine Beobachtungen können täuschen, ich habe aber nichts anderes als beides und vor allem den Wechsel zwischen beidem, um meiner Wirklichkeit für den Moment auf die Spur zu kommen.
    Kaspar: In Ihrem Essay im Merkur beschreiben Sie, wenn ich es richtig verstehe, ja schon so etwas wie eine Krise der Wirklichkeit oder unseres Wirklichkeitsbezugs. Und Sie greifen sehr weit zurück, also noch viel weiter in der Geschichte der Philosophie als bis zu Watzlawick, nämlich bis in die griechische Antike. Eines der bekanntesten Motive aus dieser Zeit ist ja das Höhlengleichnis von Platon. In dem Dialog Politeia, in dem Platon dieses Höhlengleichnis schildert, beschreibt Sokrates seinem Gesprächspartner Glaukon, wie Menschen als Gefangene in einer Höhle sitzen.
    "In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, sodass sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen [...] Licht aber haben sie von einem Feuer, welches [...] hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen [...] sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen."
    Die Wirklichkeitsauffassung hinterfragen
    Kaspar: Also die Situation ist, die Menschen sitzen mit dem Rücken zu einer Art Kasperltheater. Über den Rand der Mauer, von der Sokrates hier gesprochen hat, werden Nachbildungen von Menschen und Tieren, irgendwie Puppen in die Höhe gehalten. Das Feuer strahlt diese Puppen von hinten an und wirft ihre Schatten wie ein Filmprojektor über die Köpfe der Menschen hinweg an die Höhlenwand, sodass vor den Augen der Menschen so eine Art Schattentheater, oder wenn man will, ein Lichtspiel zu sehen ist. Aber die Wirklichkeit selbst, und das ist ja etwas, was Sie in Ihrem Text ganz stark machen, die Wirklichkeit selbst entzieht sich.
    Baecker: Man vergisst bei dieser Parabel immer die Leute, die die Gerätschaften hin und her tragen. Man müsste mal nach deren Wirklichkeitsauffassung fragen. Das ist eine hochgradig raffinierte Parabel, die Platon, aus der heutigen Sicht formuliert, im Wesentlichen deswegen in die Welt gesetzt hat, weil er Leute, also seine Zuhörer, seine Gesprächspartner auffordern, einladen wollte, der Art und Weise, wie Wirklichkeitseindrücke zustande kommen, einfach mal nachzugehen. Ihr nicht mit einem beruhigten oder vielleicht sogar panikartigen Evidenzgefühl entgegenzukommen, dieser Wirklichkeit, sondern zu fragen, warum denke ich jetzt dieses, warum glaubte ich jenes zu sehen, warum reagiere ich so. Das ist eine Frage, die von Platons Höhlengleichnis bis zu Descartes‘ Meditationen bis zu Kants Kritik der reinen und der praktischen Vernunft und vor allem bis zu Husserls Bewusstseinsphilosophie die Philosophie beschäftigt hat. Der springende Punkt ist auch hier wieder der, dass der Art und Weise - und das ist die Watzlawicksche Frage -, dass der Art und Weise, wie Wirklichkeit konstruiert werden soll, nachgeforscht wird, ohne damit per se, von vornherein die Annahme zu verbinden, dass wir immer schon in Illusionen unterwegs sind. Im Gegenteil, die Auffassung ist, wir leben in der Wirklichkeit, die uns gegeben ist. Für die Leute, die in der Höhle sitzen und sich diese Schattenbilder anschauen, wie wir heute vor unseren Fernsehgeräten oder im Kino, ist das, was sie sehen, die Wirklichkeit. Und sie haben gar keinen Grund, daran zu zweifeln. Der Trick ist, sie aus dieser Naivität herauszuholen, einen Moment gleichsam aus dem Rahmen heraussteigen zu lassen und zu schauen, wer bin ich eigentlich, dass ich das und das von der und der Wirklichkeit glaube. Es geht nur um das Setzen eines Zweifels und um die Aufforderung, überprüf doch mal, wie du jetzt zu diesem Eindruck kommst. Wenn ich das noch sagen darf, die Pointe dabei ist natürlich, dass wir sofort auf dem Schlauch stehen, dass wir sofort nicht mehr wissen, wie soll ich das denn überprüfen, und dann sagen okay, ich drehe mich mal um, oder ich denke morgen noch mal drüber nach oder ich frage meine Partnerin, was sie davon hält. Und wir kommen auf mehr oder minder hilflose Reaktionen, die aber, und das ist jetzt wieder Watzlawick, die einzigen Reaktionen, die einzigen Hilfestellungen, die uns dabei helfen können, unseren Zweifel zu überwinden, sind. Das heißt, wir betten uns in die Praxis ein, in der wir sowieso leben.
    Irritationen durch Sinnesdaten
    Kaspar: Es hat mich überrascht, was Sie dann in Ihrem Essay daraus machen, denn Sie schreiben ja, gerade die Tatsache, dass nach dieser Geschichte, wie sie uns da geschildert wird, es keinen direkten Kontakt mit der Wirklichkeit, keinen direkten Zugriff gibt, gerade dadurch werden wir frei oder werden Philosophen und Forscher frei zu spekulieren, die Wirklichkeit zu erforschen, zu erproben, zu gestalten. Anderenfalls, wenn sie sich offenbaren würde, dann, schreiben Sie, wären wir quasi gefesselt oder wären wir festgenagelt in einem Ah und Oh des Moments, in dem man nur staunen kann und sonst nichts.
    Baecker: Ja. Ich meine, wenn man drüber nachdenkt, wie unsere mentale Wirklichkeit, also die Wirklichkeit, die wir bewusst vor Augen stehen haben, zustande kommt, dann kann die ja nur in unserer Gedankenwelt zustande kommen. Jetzt frage ich Sie, haben Sie schon mal mit Ihren Gedanken rausgedacht aus Ihrem Kopf, oder haben Sie schon mal irgendeine Figur - das Nachdenken über ein Fernsehgerät, eine Tasse Wasser, einen Kugelschreiber aus der Wirklichkeit in Ihren Kopf hineingeholt? Mit anderen Worten, Sie können gar nicht anders, wenn Sie denken, als in Ihrem Kopf eingeschlossen in den Schädel, eingeschlossen in die mentalen Strukturen Ihres Bewusstseins zu denken. Und das, was man im 19. Jahrhundert in der Neurophysiologie geradezu atemlos staunend und atemlos erschrocken entdeckt hat, war diese Geschlossenheit, die Fähigkeit der Gedanken, auf Gedanken zu reagieren. Die schwierigste Figur, die uns das 19. Jahrhundert auf das Tablett gelegt hat, ist: Nur die Geschlossenheit des Bewusstseins, die sich selbst unterbricht anhand der Irritationen durch Sinnesdaten, ist die Voraussetzung dafür, dass wir so etwas wie eine Wirklichkeitsauffassung erwerben können. Ich kenne viele Wissenschaftler, die 20, 30, 40 Jahre, angefangen mit Helmholtz zum Beispiel, 30, 40 Jahre ihres Lebens darüber meditiert haben, wie das eine oder das andere der Fall sein kann. Und die meisten haben es nicht geschafft. Der Gedanke, dass wir in der Lage sind, Wirklichkeit zu sehen und sie von außen nach innen zu holen, ist für uns so stark, dass wir daraus überhaupt nicht aussteigen können.
    Eine mit Sicherheit so niemals stattgefundene Wirklichkeit
    Kaspar: Sie verfolgen die Geschichte unseres Wirklichkeitsbezugs ja dann weiter, und solange ich denke oder voraussetze, dass die Wirklichkeit verstellt sein kann, kann ich den Ehrgeiz haben, mich ihr immer mehr anzunähern. Aber dann kommt es zu einer Entwicklung, und die würde ich Sie bitten, ein bisschen zu skizzieren, in der die Möglichkeit, sich als Forscher zum Beispiel der Wirklichkeit immer mehr zu nähern, eigentlich ausgeschlossen wird. Es kommt zu einer Entwicklung, die dann am Ende dazu führt, wie Sie schreiben, dass wir heute Wirklichkeit eigentlich nur noch als Perspektivendifferenz oder -divergenz wahrnehmen können.
    Baecker: Ja, was heißt, nur noch? Das ist ja eigentlich eine starke Sache. Die Entwicklung, auf die Sie anspielen, ist vornehmlich die auf der einen Seite der Wissenschaft, und auf der anderen Seite der Künste. Wir haben eine Form der empirischen Überprüfung von Wirklichkeit in der Wissenschaft, die besteht vor allem darin, dass man sich in der Wissenschaft Kollegen sucht, die auch sehen, was man selbst sieht, und dann denkt man, ja, okay, objektiv vorhanden. Und wenn es drei und vier und fünf sind, umso besser. Und wenn einer sagt, nee, sehe ich nicht, hat man schon ein Problem. Und in der Kunst ist die Entwicklung vielleicht ein bisschen raffinierter geworden, deswegen war ja dieser Vortrag auch in einem Kunstkontext gehalten. Die Kunst ist in der Lage, Fiktionen auf die Bühne zu stellen oder in den Text zu bringen, von denen man weiß, dass sie Fiktionen sind, von denen man weiß, dass sie erfundene Wirklichkeiten, erfundene Welten sind, die aber irgendwie den Eindruck einer Wirklichkeit machen. Das heißt, Künstler sind Leute, die mit ihren Werken eine mit Sicherheit so niemals stattgefundene Wirklichkeit so in den Text oder so auf die Bühne oder auch so in die Oper bringen, dass man daneben, sozusagen wie aus den Augenwinkeln zu ahnen beginnt, worin die wirkliche Wirklichkeit besteht, von der man aber nichts anderes hat als den Eindruck. Die Fiktion kann sie nicht sein. Was sie dann aber in Wirklichkeit ist, weiß ich nicht. Und der springende Punkt ist, ich glaube, seit Platon, seit diesem Höhlengleichnis, dass dieses Erahnen von dem, was sich den produzierten Wirklichkeitseindrücken entzieht, was gerade mit Sicherheit nicht Fiktion ist, das Einzige ist, was wir tatsächlich für eine Wirklichkeit halten. Und da kann man nichts anderes sagen, als, sobald ich die mir genauer anschauen würde, wäre die wieder eine Fiktion. Das heißt, die Wirklichkeit, wie sie wirklich, in Wirklichkeit ist, ist eine Wirklichkeit, die sich mir entzieht.
    Monopolansprüche auf Wissen
    Kaspar: Ich glaube, wir erleben doch seit einer Weile einen Vertrauensverlust, den zwei gesellschaftliche Institutionen erleiden, die für unseren Wirklichkeitsbezug traditionell immer zuständig waren.
    Baecker: Kirche und Staat.
    Kaspar: Wissenschaft und Journalismus.
    Baecker: Ach so!
    Kaspar: Ein Beispiel: Im Frühjahr 2017 fand auch in Deutschland der March for Science statt. Wissenschaftler haben protestiert gegen dem Eindruck, dass es so etwas gibt wie ein doch zumindest mehr und mehr öffentlich artikuliertes Misstrauen wissenschaftlichen Fakten generell gegenüber.
    Baecker: Ich würde das ein bisschen runterkochen. Ich glaube, da sind keine Wissenschaftler auf die Straße gegangen in diesem March for Science, sondern da sind Universitätsleute auf die Straße gegangen, Leute, die um die Autorität ihrer Institution und vor allem die Monopolansprüche auf Wissen gefürchtet haben - allerdings vor dem Hintergrund einer sehr berechtigten Sorge, nämlich vor dem Hintergrund der Sorge, dass nun nicht der Journalismus - der ist ja auf allen möglichen Feldern unterwegs, sowohl solide als auch unsolide -, sondern die Politik, die amerikanische Politik sich auf eine Art und Weise über wissenschaftliche Erkenntnisse hinwegsetzt beziehungsweise die Nase rümpft, dass man diese eine Instanz, die als Streit über Wahrheit die Wahrheit vertritt, schlicht und ergreifend negiert, schlicht und ergreifend ihr die Ressourcen abzieht, schlicht und ergreifend die Leute diffamiert als ideologisch gefärbt et cetera pp. Das ist eine Sorge, die Wissenschaftler umtreibt, die Universitätsleute umtreibt, die aber nichts mit der Gefährdung von Wissenschaft selbst zu tun hat.
    Tiefenschärfen heruntersetzen
    Kaspar: Aber was denken Sie, woher kommt diese doch immer wieder und eben unter anderem in der amerikanischen Politik der letzten Monate so massiv formulierte Skepsis gegenüber Experten, gegenüber Eliten?
    Baecker: Ich glaube, das ist die entscheidende Frage. Woher kommt diese Bereitschaft eines großen Teils der Wahlbevölkerung, jemandem, einem Politiker die Stimme zu geben, der auf diese Art und Weise sich über wissenschaftliche Forschung und über alles andere, was irgendwie anerkannt ist, hinwegsetzt. Wenn man sich das jetzt aus einer soziologischen Perspektive anschaut, würde man sagen, diese Leute sind im höchsten Maße beunruhigt durch die Auflösung ihres Weltbilds. Und zwar nicht nur davon, dass man nicht mehr genau weiß, welche wirtschaftlichen, welche politischen, welche klimatischen, welche familiären Verhältnisse umgeben uns, worauf kann ich mich verlassen, was kann ich meinen Kindern erzählen, was erwarte ich von mir selbst noch und so weiter und so fort, sondern die sogar einen Agenten sehen, nämlich die Wissenschaft selbst, die hochgradig in der Lage ist, Wirklichkeiten aufzulösen. Die Atomphysik, die Quantenmechanik, die kosmologische Forschung, also astronomische Forschung, die soziologische Forschung, wenn man sie noch zur Kenntnis nimmt, die neurophysiologische Forschung sind alle in einem extremen Maß in der Lage, ihren Gegenstand aufzulösen, also ihn in solche Tiefenschärfen herunterzusetzen, dass niemand mehr versteht, was da eigentlich vor sich geht. Und dann denkt man, haben wir das eigentlich nötig, also als Bürger denkt man, haben wir das nötig, so Leute vor sich hinforschen zu lassen, die alles, worauf wir irgendwie zu stehen glauben, worauf wir unsere Hände legen können, woran wir uns festhalten zu können glauben, derartig auflösen können und irgendwie auch auflösen zu müssen glauben. Das ist natürlich ein Gefühl, eine Stimmung, die sich da breitmacht. Das war ja bis in die ‘50er-, ‘60er-Jahre, ‘70er-Jahre des letzten Jahrhunderts so, dass man sich diese ganze Wissenschaft leisten konnte, weil der Rest der Welt, wenn ich das mal so sagen darf, stabil war. Da kannte man seinen Beruf, seine Kneipe und seine Einkaufswege. Das kennt man alles heute nicht mehr. Und wenn Sie nur noch umgeben sind von Wirklichkeiten, die irgendwie zerbröseln, die granular werden, wie man so schön sagt, je genauer Sie hinschauen, dann sucht man dafür irgendeinen Schuldigen. Und den findet man natürlich da, wo Leute sagen, ich stehe für Forschung, ich stehe für was Neues, ich stehe für Disruption, für disruptive Innovationen. Wenn man dann Wissenschaft technologisch umsetzt in Internet- und sonstige Computergeschichten, da ist die Wissenschaft ein Sündenbock. Und da hilft es auch natürlich nicht, auf die Straße zu gehen.
    Mit Liebe und Arbeit und Beruf
    Kaspar: Wie viel von solchen Auflösungserscheinungen kann die Gesellschaft vertragen, kann auch die Mediengesellschaft vertragen? Ich würde vielleicht noch ein Zitat mit an den Tisch holen von Niklas Luhmann aus seinem Buch Die Realität der Massenmedien. Da beschreibt er nicht direkt für die Wissenschaft, sondern eher für den Bereich der Medien, durch die wir ja Wirklichkeit in hohem Maße heute wahrnehmen, etwas ganz Ähnliches, also eine ganz ähnliche Erfahrung von Bodenlosigkeit.
    "Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen."
    Kaspar: Wie tragfähig sind solche Wissensgebäude?
    Baecker: Wissen Sie, alles, was wir tun als Menschen, sei es Wissenschaft, sei es Liebe, sei es Sport, sei es Kindererziehung, ist genauso tragfähig, wie es in der Lage ist, sich auf sich selbst zu beziehen. Eine Erziehung, die weiß, dass sie Erziehung ist, eine Wissenschaft, die weiß, dass sie Wissenschaft ist, eine Liebe, die weiß, dass sie Liebe ist und in sich jeweils ihre Sicherheiten findet, ist etwas, was wir pflegen können, was wir verändern können, was wir austauschen können mit unserem Partner, was wir abgleichen können mit anderen Erwartungen, worauf wir uns verlassen können. Wenn wir glauben, dass wir aus irgendeinem kosmologischen Hintergrund, aus irgendeiner Weisheit der Geschichte, aus irgendeinem evolutionären Raffinement oder durch Gottes Gnade mit Liebe und Arbeit und Beruf irgendwie beschenkt seien, als käme das von außen, kann ich nur sagen, der nächste Zweifel wird einen umhauen. Man steht vor einer dunklen Wand, man blickt in ein schwarzes Loch und weiß nicht weiter. Schon die deutschen Idealisten, Kant, Fichte, Hegel haben gesagt, die Reflexion zieht uns zwar den Boden unter den Füßen weg, aber wenn dieser Boden, der christliche, der kosmologische, wenn dieser Boden mal nicht mehr da ist, dann sehen wir, was wir in unserem Leben anrichten können, wofür wir in unserem Leben selber verantwortlich sind und wofür wir selber frei sind zu unserem Leben. Ich sage nicht, dass das ein einfacher Gedanke ist, der jetzt jedem sofort über die Lippen geht. Im Gegenteil, er ist schwer errungen und er ist auch schwer zu leben. Aber das ist die einzige Antwort, die ich auf Ihre Frage geben kann. Es ist die Reflexion, die uns trägt, und nicht der Stein des Weisen.
    Extrem skeptisch gegenüber Management und Geld
    Kaspar: Sie haben schon vor 25 Jahren ungefähr in Ihrem Essayband "Postheroisches Management" geschrieben, "Management ist die Fähigkeit, mit Ungewissheit auf eine Art und Weise umzugehen, die diese bearbeitbar macht, ohne das Ergebnis mit Gewissheit zu verwechseln." Gilt das also auch für den Umgang mit der Wirklichkeit und heißt das so viel wie Schwimmen lernen?
    Baecker: Der Merve-Verlag, der das Buch "Postheroisches Management" herausgebracht hat, hat mich ja damals mit dem Eindruck überrascht, du hast dort Glossen für eine Wirtschaftszeitung geschrieben, in Wirklichkeit handelt es sich um Lebenskunde. Ich hab das nicht so recht glauben können, hab mich dann aber überzeugen lassen, dass was dran ist. Ja, der Manager, die Managerin sind Leute, die dank der Entwicklung des Marktes, dank eigener Produktideen, dank der Unruhe der Mitarbeiter mit dem vertraut sind, was wir in der Philosophie und in der Soziologie Kontingenz nennen, das heißt, das Wissen darum, dass alles, was sich uns darstellt als Wirklichkeit, aus einem anderen Blickwinkel und zu einem anderen Zeitpunkt auch anders sein könnte, wenn auch nicht anders sein muss. Der Manager, die Managerin sind uns insofern etwas voraus, als sie mit diesem Andersseinkönnen produktiv arbeiten. Sie sagen nämlich, der Betrieb muss schneller werden, die Produkte müssen günstiger werden, die Kunden müssen besser erreicht werden, also übersetzen jede aktuelle Wirklichkeit in eine Optimierungsvorstellung. Optimieren heißt auf Deutsch, die Wirklichkeit, die man gerade hat, hinter sich lassen und eine neue bauen. Wir sind deswegen gerade in der deutschen Geisteskultur extrem skeptisch gegenüber Management und Geld und solchen wirtschaftlichen Fragestellungen, weil wir irgendwie es habituell und stimmungsmäßig noch nicht so raushaben mit der Kontingenz, das muss man so salopp sagen. Aber tatsächlich ist das Management hier nichts anderes als ein Vorbote dessen, was uns allen bevorsteht, und zwar auch ein Vorbote dessen, wie man mit dieser Kontingenz umgehen kann. Ein guter Manager, eine gute Managerin wissen nämlich, sie können ihren Betrieb nur optimieren, wenn sie ihn zugleich stark machen. Sie können ihre Mitarbeiter nur kreativer, produktiver, einfallsreicher, ich weiß nicht was machen, wenn sie sie zugleich in ihrem Selbstvertrauen stärken. Wer also laufend durch die Gegend läuft und sagt, das muss alles anders werden, radiert die Wirklichkeit aus. Wer aber sagt, super, was ihr macht, können wir da nicht was anderes machen, fängt an, in der Wirklichkeit produktiv zu arbeiten. Und ich kann Ihnen sagen, so werden Sie von Ihren Kindern behandelt, so werden wir von unseren Frauen behandelt, die dauernd einerseits unser Selbstvertrauen stärken und andererseits uns sagen, aber hör mal, den Müll kannst du trotzdem mal runter bringen.
    "Das können Sie nicht mehr sortieren"
    Kaspar: Ich würde gern noch mal auf die Medien schauen. Das Zitat von Niklas Luhmann geht ja noch weiter. Hören wir mal noch einen Satz:
    "Die Lösung des Problems kann nicht wie in den Schauerromanen des 18. Jahrhunderts in einem geheimen Drahtzieher im Hintergrund gefunden werden, so gern selbst Soziologen daran glauben möchten."
    Kaspar: So ist das mit dem Umgang mit Unsicherheit, mit Skepsis gegenüber den Medien. Dirk Baecker, müssen wir heute nicht aber doch auch über geheime Drahtzieher reden, die zum Beispiel auf neue Weise sehr erfolgreich Falschmeldungen in Umlauf bringen? Hier haben wir es doch tatsächlich mit Angriffen auf die Wirklichkeit zu tun.
    Baecker: Ja, aber was nutzt mir es, dies zu wissen? Es gibt ja diesen schönen Spruch, der Umstand, dass ich nicht an Strippenzieher glaube, heißt nicht, dass ich nicht an Strippen hänge. Die Frage ist ja, welche Eindrücke von welcher möglicherweise fiktional produzierten Wirklichkeit nehme ich aus welchen Gründen ernst. Wenn ich anfange, an Verschwörungen zu glauben, wird es mir ein Leichtes sein, das zeigen ja Verschwörungstheorien, dazu jedes erdenkliche Faktum der Wirklichkeit so mir zurechtzubiegen oder zurechtbiegen zu lassen, dass es hineinpasst. Das ist genau das, was Watzlawick mit der Hammergeschichte erzählt hat. Wenn ich an Verschwörungen glauben möchte, weil mir das mein eigenes Leben erleichtert, weil ich Gründe habe, daran zu glauben, woher auch immer die kommen, es wird mir gelingen. Wenn ich nicht an Verschwörungen glaube, wird mir auch das gelingen. Und diese beiden Seiten muss ich mir doch vor Augen halten. Es gibt das schöne Wort von Hegel, "Wir brauchen morgens nicht mehr zu beten, weil wir die Tageszeitung haben." Anfang des 18. Jahrhunderts formuliert, wenn ich mich nicht ganz täusche. Was ist eine Tageszeitung? Eine Tageszeitung ist eine bunte Mischung von allen möglichen aktuellen Nachrichten - die Nachrichten von gestern sind alt, die Nachrichten von heute sind aktuell, die Nachrichten von morgen kennt man noch nicht -, die wunderbar sortiert sind in einen Politikteil, einen Wirtschaftsteil, die Börsennachrichten, ein Feuilleton, wenn man Glück hat, die Sportnachrichten, und dann noch die berühmten Faits-divers, die vermischten Nachrichten. Das heißt, Sie haben einen bunten Kosmos von einem ereignisreichen Zusammenhang der Welt, der gleichzeitig geordnet daherkommt. Wie in einer Bibliothek haben Sie Regale, in Bibliotheken, in der Tageszeitung haben Sie Rubriken. Sie wissen Politik von Wirtschaft zu unterscheiden. Versuchen Sie mal heute auf einer x-beliebigen Internetplattform eine solche Rubrizierung, Klassifizierung von Nachrichten welcher Art auch immer hinzubekommen. Es wird Ihnen nicht gelingen. Wenn wir also heute, viele von uns, morgens keine Tageszeitung mehr lesen, sondern als Erstes ihre Plattformnews checken, dann werden sie mit einem hochgradig banalisierten, hochgradig chaotischen, hochgradig unklassifizierbaren Universum von nur noch vermischten Nachrichten konfrontiert. Weil auch die letzten Sätze von Trump sind eine vermischte Nachricht, ein Fait-divers. Das können Sie nicht mehr sortieren. Das können Sie nur noch auf eine einzige Art und Weise in Ordnung bringen, nämlich, indem Sie sich auf dieselbe hochgradig im Sekundentakt arbeitende Rhythmik einlassen, wie diese Nachrichten auch. Das heißt, Sie müssen sich hysterisieren. Sie müssen schneller sein als die schnellen Nachrichten. Wird Ihnen das gelingen? Nein, es wird Ihnen nicht gelingen. Wie können Sie darauf reagieren? Sie können darauf reagieren mit dem, was wir in der Wissenschaft immer so schön Medienkritik nennen. Also schlicht und ergreifend sich mal einen Moment Zeit zu nehmen und zu überlegen, was war das eigentlich, eine Tageszeitung? Was war das eigentlich, die Bibel? Was war das eigentlich, der Koran? Und was ist das, meine von mir hochgradig geschätzte Plattform, auf der ich meine Freundesnachrichten sammle? Welche Art und Weise der Informationsvermittlung über welche Sachverhalte in welchem Rhythmus in welchem Zusammenhang stürzen da auf mich ein? Wenn Sie anfangen, dies zu beobachten, gebe ich Ihnen Brief und Siegel, werden Sie anfangen, dazu eine minimale Distanz zu entwickeln und das zu entwickeln, was wir auch Hygiene nennen - morgens ja, abends nein, jede zweite Stunde mal ausschalten, vielleicht auch mal drei Wochen gar nicht und so weiter und so fort, wenn man das hinkriegt. Sie werden merken, dass Sie auch dann, wenn Sie mit Ihren Displays durch die Welt laufen, gleichzeitig durch eine Welt laufen, die nicht nur Display ist. Und da machen Sie wieder das, was für Watzlawick so wichtig ist: Sie wechseln zwischen der einen Wirklichkeitsproduktion auf dem Display und der anderen Wirklichkeitsproduktion auf der Straße, am Familientisch, im Gespräch unter den Kollegen, hin und her. Und wiederum ist es dieses Hin- und Her-Wechseln, das die einzige Sicherheit, die einzige wirkliche mögliche Sicherheit in Ihr Leben bringt. Sonst gibt es da gar nichts.
    Unglaublich viel Erregung
    Kaspar: Vielleicht zum Schluss noch ein persönlicher Blick. Sie selbst, Dirk Baecker, schreiben auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mit dem Absender @ImTunnel. Was ist das für ein Tunnel? Sehen Sie da vor allem flackernde Schatten, oder gibt es auch Licht am Ende des Tunnels?
    Baecker: Ach, da gibt es alles Mögliche. Da gibt es vor allem unglaublich viel Erregung, da gibt es aber auch sehr viel Informationsaustausch. Für mich ist Twitter interessant, weil dieser Kanal die Kunst des Aphorismus wieder zu pflegen erlaubt, indem ich auf eine ironische, eine rätselhafte, eine mysteriöse, vielleicht auch eine witzige, eine alberne Art und Weise irgendein Fundstück im Netz aufgreifen, verlinken, kommentieren und weitersenden kann und damit an diesem dann doch irgendwie auch hochgradig lustvollen und intelligenten und witzigen Spiel der Beobachtung der Welt durch sich selbst in den elektronischen Medien teilzunehmen. Wenn es uns nicht gelingt, in diesem Medium den Funken der Intelligenz sprühen zu lassen, dann können wir wegpacken, dann können wir unsere Intelligenz wegpacken.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Dirk Baecker ist Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört der digitale Wandel der Gesellschaft.
    Frank Kaspar arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist für das Deutschlandradio und die ARD.