Angesichts der Dimension der Aufgabe, vor allem bei der Pflege von Demenzkranken, seien die Vorschläge von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe nicht mehr als "Schrittchen" in die richtige Richtung. Nur wer selbst erlebt habe, was die Versorgung von Demenzkranken bedeute, könne verstehen, dass die Aufstockung der Minutenpflege kaum eine Verbesserung bringe.
"Die Angehörigen gehen auf dem Zahnfleisch. Deshalb sind sie über jede kleine Verbesserung dankbar." Unabdingbar sei der Ausbau der Tagespflege in Anlehnung an die Kindergärten, unterstrich Fussek.
Fussek forderte, dass sich die Pflegekräfte und die Angehörigen endlich solidarisierten. Er könne nicht begreifen, warum diese Berufsgruppe ihre Macht nicht nutze. "Diese Menschen haben nie gelernt, sich zu organisieren." Dabei handele es sich um einen "absolut krisensicheren Beruf". Fussek warnte vor weiteren Versäumnissen in einer "Gesellschaft, die das Problem der Pflege kollektiv verdrängt". Die guten Pflegekräfte verließen aus Frustration den Beruf. Wenn dieser Trend nicht gestoppt werde, "werden wir als Konsequenz über aktive Sterbehilfe sprechen müssen".
Das Interview in voller Länge:
Jasper Barenberg: Am Telefon begrüße ich jetzt den Sozialpädagogen und Buchautor Claus Fussek. Schönen guten Morgen.
Claus Fussek: Guten Morgen.
Barenberg: Über den Pflegenotstand, den Sie seit vielen Jahren ja schon beklagen, wollen wir gleich noch ausführlich sprechen, Herr Fussek. Lassen Sie uns zuerst sprechen über den Kern dieser Reform. Es galt ja lange als Missstand, dass Demenzerkrankungen im Vergleich zu körperlichen Gebrechen oder Einschränkungen nicht angemessen berücksichtigt wurden. Sehen Sie bei aller Kritik am System da einen Schritt in die richtige Richtung?
Fussek: Ja. Aber wissen Sie, dieses Wort "Schritt in die richtige Richtung" kann ich nicht mehr hören. Seit 20 Jahren gehen wir mit einem Schrittchen in die richtige Richtung. Es ist immer besser als gar nichts. So etwas können Sie nur mit einer Gruppe machen, wo kein Widerstand kommt. Man muss sich vorstellen, 20 Jahre - ich schlage dieses Gesetz fürs Guinness-Buch der Rekorde vor - diskutieren wir über die Grundversorgung von pflegebedürftigen Menschen und Entlastung von Angehörigen. Die Angehörigen gehen am Zahnfleisch, das wissen wir, und dann kriegen die immer so kosmetische Verbesserungen, weil man weiß ja, die sind dankbar. Nein, wir brauchen in der Pflege eine ganz andere Dimension. Das müsste Schicksalsfrage der Nation sein. Ich verstehe das nicht, weil es betrifft ja alle. Es wird einige geben, die jetzt profitieren, vor allem in der häuslichen Pflege. Angehörige werden auch wieder dankbar sein um jeden Euro, den sie bekommen. Aber wir brauchen natürlich in dieser Dimension ganz andere Hilfen. Vor 15 Jahren hätte ich den Vorschlag von Herrn Gröhe begrüßt. Heute, muss ich sagen, bin ich eigentlich schon fast resigniert, weil dass wir über so was auch noch dankbar sein müssen nach so einer würdelosen Diskussion, das ist beschämend.
"Wir brauchen Tagespflegen wie bei Kindergärten"
Barenberg: Darüber wollen wir gleich auch noch sprechen, über die grundsätzlichen Probleme. Aber Sie würden schon erst mal sagen, wenn jetzt bei Ihnen am Telefon jemand anruft mit einem Angehörigen, der an Demenz erkrankt ist, dann können Sie ihm jetzt sagen, wenn diese Reform so kommt, wie jetzt vorgelegt, dann kann er mit einer besseren Betreuung und mit einer individuelleren Betreuung schon rechnen?
Fussek: Ja, damit kann er rechnen. Nur er findet häufig überhaupt kein Personal mehr. Und die Minutenpflege bleibt ja bestehen. Die Schwester bleibt vielleicht eine viertel Stunde länger oder so. Was wir brauchen, wären Tagespflegen wie bei Kindergärten. Wir brauchen eine weitgehende Entlastung. Die Angehörigen gehen nach wie vor am Zahnfleisch. Man muss sich mal vorstellen: Die pflegen 24 Stunden, sieben Tage in der Woche.
Barenberg: Wenn jetzt der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, sagt, wenn mehr Geld in die Pflege kommt, fünf Milliarden, dann verbessert sich auch die Qualität, was antworten Sie ihm dann?
Fussek: Das ist natürlich ein Blödsinn! Mehr Geld ins System - entschuldigen Sie den Vergleich -, das ist so wie immer mehr Geld nach Griechenland. Wir müssen für mehr Transparenz in diesem System sorgen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Leistungen bei den Angehörigen ankommen und vor allem auch bei den Betroffenen und bei den Pflegebedürftigen. Wir können noch mehr Milliarden in ein Gesundheitssystem, in ein Pflegesystem geben, wo sehr viele Heimträger ja an der Börse spekulieren. Im System ist genug Geld; bei den Angehörigen, bei den Pflegebedürftigen kommt zu wenig an.
Pflegekräfte und Angehörige müssten sich solidarisieren
Barenberg: Wie könnte das denn gelingen?
Fussek: Sie haben es in Ihren Vorinformationen gehört; immer wieder hören Sie das Wort "ehrlich", wir müssen ehrlich sein. Ja genau, wir müssen ehrlich sein. Erstens müssten mal die verschiedenen politischen Vertreter und auch die Pflegefunktionäre selbst erfahren, wie das läuft. Die sollen unangemeldet in Pflegeheime gehen, die sollen mal zuhause bei jemandem 24 Stunden pflegen, dass sie das mal selbst erleben. Es gibt den Satz, wer es nicht selbst erlebt hat, kann es nicht nachvollziehen.
Das Zweite ist: Die pflegenden Angehörigen müssten mehr Unterstützung von den Pflegekräften haben. Es ist immer das Klima der Angst, man darf nichts laut sagen und so weiter. Ich fordere gebetsmühlenartig die Pflegekräfte auf, sich endlich mit den Angehörigen zu solidarisieren. Sie haben ein gemeinsames Anliegen. Dann kommt der Satz von mir: Dann seid ihr eigentlich mächtiger wie alle Lokomotivführer.
Barenberg: Es wundert ja schon ein bisschen, wenn man hört, mit wie vielen Klagen Sie es in Ihrer täglichen Arbeit zu tun haben, dass die Angehörigen, die Betroffenen und auch die Pflegekräfte, die das alles stemmen müssen, ihre Macht, die sie ja offenbar haben, gar nicht nutzen.
"Wir müssen bald über aktive Sterbehilfe reden"
Fussek: Man begreift es nicht. Ich sehe, die Erzieher, die Lokomotivführer, die gehen auf die Straße. Ich kann Ihnen schon sagen warum. Zum einen ist das natürlich eine besondere Berufsgruppe. Viele Pflegekräfte haben nie gelernt, sich politisch zu organisieren. Die sind zu 13 Prozent organisiert, die Müllarbeiter, glaube ich, zu 90 Prozent. Das ist das eine. Und bei den Angehörigen, die haben keine Kraft mehr. Und außerdem, das geht ja mir auch schon so: Man resigniert langsam. Man versteht ja auch nicht, wie das Thema nicht in der Öffentlichkeit ist. Das Thema ist jetzt heute und morgen in der Öffentlichkeit und dann ist es wieder vorbei. Es interessiert niemand, eine gesamte Gesellschaft verdrängt dieses System kollektiv. Aber auf der anderen Seite müssen wir ehrlich zugeben: Es ist ein Milliardengeschäft. Und die Pflegekräfte verstehe ich nicht. Ihr habt einen Beruf, der ist absolut krisensicher. Es ist ein Beruf, wo heute eigentlich man mit Arbeitsplatzgarantie kommen kann. Aber wir haben natürlich ein großes Problem, dass wir seit vielen Jahren dieses Problem schön geredet haben, relativiert, weggeschaut haben. In der Pflege arbeiten inzwischen so viele Menschen, die in diesen Beruf nicht gehören. Ich sage immer: Die der Tierpark wegen fehlender Empathie nicht nimmt, die gehen in die Altenpflege, werden vom Arbeitsamt dort hineingedrückt. Und dann haben Sie den Teufelskreis. Die guten, die engagierten Pflegekräfte verlassen den Beruf, die anderen bleiben und dann kollabiert das System. Und ich verspreche Ihnen ganz sicher: Wenn wir dieses Thema nicht endlich in den Griff kriegen gemeinsam, dann werden wir sehr bald in diesem Land offensiv und ehrlich über aktive Sterbehilfe reden müssen, weil niemand mehr da ist, der pflegt.
Barenberg: Die düstere Einschätzung von Claus Fussek, dem bekannten Pflegekritiker und Buchautor. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen, Herr Fussek.
Fussek: Gern geschehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.