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Reformation quergedacht
"Das Wirtschaftsleben war geprägt durch traditionelle Vorstellungen"

Früher sei das Wirtschaftssystem durch Religion und Sozialbeziehungen geprägt gewesen, sagte die Wirtschaftssoziologin Andrea Maurer im Dlf. Luther sei die "Berufsidee" zuzuschreiben und die damit verbundene Vorstellung, dass der gläubige Protestant in seinem Alltagsleben einem festen Beruf nachgehen solle.

Andrea Maurer im Gespräch mit Günter Hetzke |
    Günter Hetzke: Welche Auswirkungen hatte und hat die Reformation auf die Wirtschaft? Zwei Aspekte haben wir in der Wirtschaftsredaktion – im Rahmen einer Themenwoche im Deutschlandfunk - bereits beleuchtet, der Protestantismus und der Sozialstaat sowie die Arbeitsethik. Heute folgt nun der Gesichtspunkt: Protestantismus und Kapitalismus. Dazu habe ich im Vorfeld der Sendung ein Interview mit Andrea Maurer geführt, Wirtschaftssoziologin an der Universität Trier.
    So mancher von uns hat ja durchaus ein vages Bild vor Augen, wie das Wirtschaftsleben im frühen 16. Jahrhundert war, geprägt beispielsweise durch Filme oder durch Literatur, also Romane über diese Zeit – wobei wir womöglich letztendlich gar nicht wissen, in welchem Jahrhundert genau spielte nun noch mal die Geschichte. Deshalb habe ich Frau Maurer zur Einstimmung gebeten, doch mal unser Bild zu schärfen: Wie sah das Wirtschaftsleben zu Lebzeiten Luthers aus? Was waren prägende Elemente?
    Andrea Maurer: Das Wirtschaftsleben war geprägt durch traditionelle Vorstellungen. Der strukturelle Rahmen war das Feudalsystem. Es war eine landwirtschaftlich dominierte Produktion. Die Bauern waren Leibeigene. Das ganze Wirtschaftssystem war im Grunde genommen durch Religion und durch Sozialbeziehungen geprägt und alles, was wir für das moderne Wirtschaften heute beschreiben würden, fehlte seinerzeit.
    Hetzke: Wenn Sie sagen, das Leben war durch Religion geprägt und durch Sozialgefüge, hat nun das Wirken von Luther damals das Wirtschaftsleben geändert? Hat der Protestantismus neue Elemente gesetzt oder zumindest in Bewegung gebracht?
    Maurer: Ja. Eine der entscheidenden Ideen, die wir Martin Luther heute zuschreiben, ist die Berufsidee, damit verbunden die Vorstellung, dass der gläubige Protestant in seinem Alltagsleben einem festen Beruf nachgehen soll. Damit auch bei Luther auf der anderen Seite der Gedanke gekoppelt, dass jeder an der Stelle in dem Beruf verbleiben möge, in den ihn Gott gestellt hat. Und mit dieser Berufsidee bekommen wir eine ganz neue Vorstellung auch von wirtschaftlichem Handeln, nämlich dauerhaft und systematisch.
    "Ein sehr einsame Religion"
    Hetzke: Diese Berufsidee, die aufgekommen ist – Luther wird ja oft mit Kapitalismus in Verbindung gebracht. Wo sind denn da die Parallelen zwischen Kapitalismus und dem Aufkommen des Berufsbildes?
    Maurer: Ja. Innerhalb der Soziologie verfolgen wir die These, dass wir mit Beginn des 16. und 17. Jahrhunderts das Herausbrechen der Wirtschaft aus der Gesellschaft beobachten können und dass wir spätestens ab dem 17., 18. Jahrhundert die Entstehung eines völlig neuen Wirtschaftssystems zu konstatieren haben. Dieses Wirtschaftssystem nennen wir Kapitalismus oder präziser marktwirtschaftlicher Kapitalismus, und die neuen Elemente in dieser Wirtschaftsform bestehen darin, dass private Personen Kapital in feste Betriebe investieren, um Gewinn zu machen.
    Hetzke: Wenn private Personen so eine große Rolle spielen, heißt das, der Protestantismus war sozusagen ein Schritt in die Richtung Individualisierung der Gesellschaft? Ist das Individuum dadurch eine treibende Kraft des Wirtschaftssystems geworden?
    Maurer: Ja, auf zwei Ebenen. Der Protestantismus schon bei Luther, aber dann auch in der Form des asketischen Protestantismus bei Calvin ist eine sehr einsame Religion. Es ist der Einzelne, der mit seinem Gott ins Gespräch kommt, der für sich die Frage entscheiden muss, bin ich auserwählt, bin ich erlöst.
    Und die zweite Idee, die für den Protestantismus, insbesondere für den asketischen Protestantismus wichtig wird, ist, dass die protestantische Ethik den Menschen in ihrem Alltagsleben bestimmte Verhaltensnormen auferlegt. Und eine der drei Verhaltensregelungen des Protestantismus ist die Regel, jeder solle da, wo er kann, Reichtum mehren zu Gottes Ehre. Und Sie sehen schon, hier haben Sie im Grunde genommen die Figur des kapitalistischen Unternehmers definiert und natürlich auch durch eine religiöse Ethik legitimiert.
    "Es gibt alternative solidarische Wirtschaftsformen"
    Hetzke: Nun erleben wir den Kapitalismus, diesen Individualismus heute ja von einer Seite, die kaum Grenzen aufweist. Ich meine damit das blinde Spekulieren, die ungezügelte Gier, das Anhäufen von Reichtum. Ist das eigentlich noch im Sinne des Protestantismus?
    Maurer: Nein, auf keinen Fall. Und es gibt einen sehr bekannten Soziologen, Max Weber, der den modernen Kapitalismus dadurch kennzeichnet, dass es eben nicht mehr darum geht, wie im Handelskapitalismus, im Abenteuerkapitalismus oder auch bei politischen Oligarchen beliebig Geld zu maximieren - Sie können an Piraterie denken, an Raubzüge -, sondern das Kennzeichen des modernen westlichen Kapitalismus ist das systematische Streben nach Gewinn in stehenden Betrieben mit rationalen Verfahren, also eher eine gezügelte, aber durchaus rational organisierte Form des Gewinnstrebens.
    Hetzke: Um das noch mal zu vertiefen, wenn Sie sich reinversetzen in die Gedankenwelt von Luther. Das heißt, er wäre mit den Ausprägungen des Kapitalismus, wie wir ihn heute erleben, gar nicht einverstanden?
    Maurer: Wahrscheinlich nicht, und ich kann sie noch mal verstärken. Wenn wir uns den zweiten großen Reformator angucken, Calvin, dann können wir ganz sicher sagen, dass zügelloses Gewinnstreben, blinde Spekulation an Börsen auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber auch beliebiger Massenkonsum den Ideen der Reformation völlig entgegensteht, nämlich die zweite Maxime des Protestantismus ist ja die asketische Lebensführung. Konsum soll vermieden werden. Es ist die asketische Körperdisziplinierung, die dem Protestanten am besten steht.
    Hetzke: Um es mal auf den Punkt zu bringen: Zu Luthers Zeiten hat die Religion die Gesellschaft geprägt, heute ist es der Kapitalismus. Die Frage liegt auf der Hand: Hat der Kapitalismus die Religion ersetzt?
    Maurer: Ja, wir können zumindest davon ausgehen, dass in weiten Bereichen wirtschaftlichen Handelns religiös-ethische Vorstellungen an Bedeutung verloren haben. Wir sehen auch Gegenbewegungen inzwischen. Es gibt so etwas wie alternative solidarische Wirtschaftsformen, die durchaus wieder an ethische Überlegungen anschließen. Aber Sie haben vollkommen recht: Das Wirtschaftssystem an sich ist völlig losgelöst von religiösen oder sonstigen sozialethischen Vorstellungen.
    Hetzke: Frau Maurer, vielen Dank!
    Maurer: Danke an Sie!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.