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Reformation quergedacht
Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat

Staat und protestantische Kirche möchten die Reformation gerne als Teil der europäischen Freiheitsgeschichte feiern. Diese Einschätzung entspricht jedoch nicht dem Stand der Wissenschaft, wie der Sammelband "Weltwirkung der Reformation" zeigt, herausgegeben von Udo di Fabio und Johannes Schilling.

Von Christoph Fleischmann |
    Wie kann man einer säkularen Gesellschaft den Ursprung einer neuen religiösen Glaubensrichtung schmackhaft machen? Indem man auf die kulturelle Breitenwirkung der Entwicklung hinweist.
    "Als Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung hat die Reformation nicht allein Kirche und Theologie, sondern das gesamt private und öffentliche Leben verändert und bis in die Gegenwart (mit) geprägt."
    So steht es in der Programmschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Reformationsjubiläum. Und damit diese Breitenwirkung der Reformation auch positiv konnotiert ist, stellt die EKD sie als wesentliches Element der europäischen Freiheitsgeschichte dar.
    "Der Begriff der christlichen Freiheit, wie Luther ihn verwendet, ist nicht einfach bruchlos mit einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis zu identifizieren und steht doch in enger Beziehung zur europäischen Freiheitsgeschichte."
    In dem vorliegenden Sammelband ist es die Hamburger Historikerin Ulrike Jureit, die diese Aktualisierung der Reformation kritisiert, indem sie darauf hinweist, dass die Reformation nicht glorreicher Auftakt einer europäischen Freiheitsgeschichte, sondern vielmehr eine verstörende und in weiten Teilen gewalthaft verlaufende Konfliktgeschichte gewesen sei.
    Luther in der Geschichte des "liberalen Westens"
    Herausgeber Udo di Fabio weist in seinem Vorwort darauf hin, dass Geschichtspolitik und historische Forschung unterschiedliche Interessen hätten. Aber er will durchaus aus dem Raum der Forschung auch etwas zum "geschichtspolitischen Großformat" Reformationsjubiläum – also zu Aktualisierungen und Identitätsstiftungen – beitragen.
    Di Fabio selber tut dies in einem Aufsatz, in dem er den Ursprung der europäischen Freiheit noch deutlich vor Luther ansiedelt im Bürgerhumanismus der Renaissance:
    "Wenn man die Neuzeit verstehen will, dann wird man immer wieder ins 15., vielleicht sogar ins 14. Jahrhundert zurückgehen und nach den Wurzeln unseres Menschenbildes fragen, unsere Idee vom Menschen. Und was die Renaissance eigentlich wollte, wenn sie über den Menschen gesprochen hat: Diesen bürgerlichen, langweiligen Menschen, der aber deshalb spannend ist, weil er einzigartig ist, weil er individuell ist."
    Die Reformation wird vom rheinischen Katholiken Udo di Fabio dann als "Epiphänomen der Renaissance" eingereiht; Luther habe Gedanken der Renaissance popularisiert, aber auch inhaltlich auf das Religiöse verengt. Dabei übersieht di Fabio aber, dass es auch keine bruchlose Linie von dem Ideal des sich frei bildenden und sich selbst disziplinierenden Menschen der Renaissance zu heutigen liberalen Vorstellungen gibt. Schon am Ausgang der Renaissance stand das sehr pessimistische Menschenbild des Niccolò Machiavelli, wonach die Menschen "undankbar, wankelmütig, falsch, feige in Gefahren und gewinnsüchtig" seien. Eine Einschätzung, die Machiavelli mit seinem sonst ganz anders gestrickten Zeitgenossen Martin Luther teilte, weswegen beide der Überzeugung waren, dass die Menschen von starken Kräften außerhalb ihrer selbst gezähmt und diszipliniert werden müssten.
    Die Moderne begann im Mittelalter
    Die im städtischen Bürgertum anhebende Geschichte der Disziplinierung des modernen Menschen kann di Fabio aber nur als notwendige Bindung der Freiheit verbuchen.
    "Typische Ambivalenz der Neuzeit, eine typische konstruktive Spannungslage: dass die Freiheit des Einzelnen die Ordnung verlangt."
    So aber bleibt sein Versuch zu einer anderen als der kirchlichen Identitätskonstruktion, nämlich der eines liberalen Westens, letztlich genauso angreifbar.
    Wesentlich überzeugender und differenzierter ist der Versuch des Soziologen Detlef Pollack, die Reformation in die Geschichte der Moderne einzupassen. Grundzüge der Moderne – wie die funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Bereiche, die Individualisierung und auch die Einrichtung von offenen Wettbewerben – hätten ihren Ursprung weit vor Luther in der mittelalterlichen Gesellschaft, argumentiert Pollack plausibel. Luther habe zu diesen Prozessen etwas beigetragen, aber keineswegs so eindeutig wie oft behauptet: Die zu Beginn der Reformation betonte Trennung der Kompetenzen von Staat und Kirche endete im Landesherrlichen Kirchenregiment, also der staatlichen Aufsicht über die Kirche; und die Einforderung von Gewissensfreiheit gegenüber der katholischen Kirchenautorität mündete in der Unterwerfung des Einzelnen unter das Bekenntnis des Fürsten; bzw. unter konkurrierende protestantische Glaubenslehren.
    "Insgesamt ist der Beitrag der Reformation zur Herausbildung der modernen Welt also eher gering. Im Gefolge der Reformation wurden die im Mittelalter und in der Reformationszeit angelegten Modernisierungstendenzen sogar noch einmal zurückgedrängt."
    Freiheit als "nicht-intendierte" Folge
    Pollacks sorgfältige und ausgewogene Studie ist zweifellos das Herzstück des Sammelbandes. Er verfolgt die Modernisierungsprozesse noch bis ins 18. Jahrhundert, als sich Staat und Kirche immer deutlicher entkoppelten und sich so erst allmählich eine tolerierte Vielfalt an Bekenntnissen etablierte.
    "Die Umwälzung aller Lebensverhältnisse im nachkonfessionellen Zeitalter kann wohl kaum auf direkte Wirkungen der Reformation zurückgeführt werden. Am Stärksten hat sie auf diesen Umwälzungsprozess wahrscheinlich durch die Zersprengung der Einheit der römischen Kirche und damit auf nicht-intendierte Weise beigetragen. Erst die religiöse Konkurrenz mit ihren zerstörerischen Folgen in blutigen Bürgerkriegen machte neue, moderne Arrangements von Staat und Konfession nötig."
    Die Historikerin Ulrike Jureit folgt Pollack in dieser Wahrnehmung und formuliert dieses späte und indirekte Ergebnis der Reformation so:
    "Dass Glaubensfragen in einer säkularen Ordnung als staatlich garantierte Rechtsverhältnisse zu fassen sind und gleichzeitig Konsens darüber herrscht, dass religiöse und kulturelle Vielfalt in einem freiheitlichen Europa jedem Einzelnen auch zumutbar ist."
    Gerade hierin sieht Jureit Potenzial für eine Vergegenwärtigung der Reformation, weil Europa auch heute von konkurrierenden Wahrheitsansprüchen und kultureller Pluralisierung herausgefordert sei. Auch wenn dieser Wunsch fürs Reformationsjubiläum wohl weitgehend ungehört geblieben ist; der Band Weltwirkung der Reformation ist sehr anregend, wenn es darum geht, die Reformation in der großen Geschichte der Moderne einzuordnen.
    Rezension zu Udo di Fabio / Johannes Schilling (Hg.):
    "Die Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat"
    C.H.Beck, München 2017, 216 Seiten, 16,95 Euro.