Ann-Kathrin Büüsker: Das Platzen der Jamaika-Sondierungen, das hat in Berlin so einiges durcheinandergewirbelt und verlangt jetzt ein ordentliches Maß an Flexibilität, insbesondere von der SPD, die sich ja eigentlich schon auf Opposition eingestellt hatte. Nun wird aber wohl doch wieder über eine Große Koalition verhandelt, zumindest aber gesprochen. Aber auch die Möglichkeit einer Minderheitsregierung ist noch nicht so ganz vom Tisch.
Über die Optionen, die derzeit im Raum stehen, und ihre Konsequenzen möchte ich jetzt mit Albrecht von Lucke sprechen, Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik". Guten Tag, Herr von Lucke.
Albrecht von Lucke: Guten Tag, Frau Büüsker.
Büüsker: Herr von Lucke, wenn Sie jetzt derjenige wären, der entscheiden kann, was für eine Regierung Deutschland in Zukunft führen soll, mal ganz hypothetisch gefragt, welches Modell wäre aus Ihrer Sicht besser für Deutschland, eine Große Koalition oder eine Minderheitsregierung?
"Sigmar Gabriel hat die Gunst der Stunde erkannt"
von Lucke: Man muss es leider sagen, denn es ist gewissermaßen die Wiederauflage, aber unbedingt eine Große Koalition. Das ist momentan die Sachlage. Und es ist ja bemerkenswert, dass Sigmar Gabriel, der über acht Wochen lang geschwiegen hat, jetzt plötzlich diese Position vertritt, denn man sieht natürlich, er hat die Gunst der Stunde erkannt. Die Große Koalition wird meines Erachtens aufgrund des äußeren Drucks, der Tatsache, dass dieses Land in der Tat stabil sein muss, dass es eine Rolle spielt in Europa, die ja größer kaum sein könnte, gerade in diesen Krisenzeiten Europas, übrigens auch globalen Krisenzeiten, wenn wir an Donald Trump denken, dieser äußere Druck spricht für die Große Koalition, aber vor allem spricht auch der innere Druck für die Große Koalition. Ich bin ganz sicher, dass in absehbarer Zeit die SPD übrigens willentlich diesem Druck erliegen wird.
Büüsker: Gucken wir vielleicht erst mal auf die äußeren Faktoren, weil Sie die zuerst angesprochen haben. Warum genau muss denn Deutschland unbedingt der Stabilitätsanker in Europa sein? Beziehungsweise anders gefragt: Warum soll uns Europa mehr interessieren als unsere eigenen Belange?
Zusammenspiel mit Frankreich wiederherstellen
von Lucke: Na ja, die Frage ist meines Erachtens falsch gestellt. Wir haben lernen müssen – und das ist vielleicht der Lernprozess der letzten fast 70 Jahre -, dass die europäischen Angelegenheiten deutsche Angelegenheiten sind. Kein Land hat wie Deutschland derartiges Interesse an einer Stabilität Europas. Das ist in den letzten Jahren evident geworden und gerade noch einmal evident geworden. Gerade eine zu große Rolle Deutschlands hat ein Problem bedeutet und jetzt ist das Momentum da, wo die deutsch-französische Achse, das Zusammenspiel mit Macron wiederhergestellt werden kann. Hier drängt jemand aus Frankreich und Deutschland ist kaum in der Lage, diesem Drängen nachzugeben und eine Restabilisierung zu leisten. Und wir wissen doch alle: Wir haben gerade in England eine Situation, die dramatisch ist. Der Brexit tritt noch auf der Schwelle, aber das macht die Verhandlungen nicht leichter. – Das ist die eine Seite und nach wie vor ist die Eurokrise nicht in dem Maße überwunden.
Wir haben viele, viele Baustellen, und das in einer hoch dramatischen globalen Lage, wo Europa letztlich geschlossen sein muss, mit einer Stimme sprechen muss, und deswegen ist es natürlich unabdingbar, dass das stärkste Land Europas, Deutschland, auch wieder eine stabile Rolle spielt.
Büüsker: Aber wäre jetzt nicht der Moment, wo auch wichtige Bausteine gelegt werden müssen für eine zukünftige Entwicklung, tatsächlich auch mal politisch etwas zu verändern? Damit ist die Große Koalition zuletzt nicht unbedingt aufgefallen.
"SPD hat momentan nicht einmal einen tauglichen Spitzenkandidaten"
von Lucke: Die Große Koalition hat eine Menge verändert. Auch das interessanterweise übrigens zu Gunsten der SPD. Und das ist mit ein Grund, der jetzt wieder die Begehrlichkeiten größer werden lässt. Die SPD hat in der letzten Legislaturperiode viele Veränderungen vorgenommen. Sie hat die haltlosen und heillosen Punkte der Agenda 2010 korrigiert, in erheblichem Maße, im Bereich des Mindestlohns und vielen anderen Bereichen. Das heißt, sie hat durchaus Etliches geschafft. Und wir müssen uns ja auch eines bewusst machen: Dass die Wirtschaftslage so glänzend ist, wird ein bisschen dann doch auch von der Politik abhängen. So schlecht kann die Regierung, die Große Koalition durchaus nicht gewesen sein.
Wir haben ein anderes Problem, und das war der kategorische Grund der Absage von Martin Schulz nach der Wahl. Natürlich: Große Koalitionen lassen die Ränder wachsen. Das haben wir erlebt. Wir müssen es zuspitzen. Wir haben es ja gar nicht mehr mit einer Großen Koalition im Wortsinne zu tun. Wir haben es bei dieser schwarz-roten Konstellation von SPD und CDU/CSU mit der letzten verbliebenen Kleinen Koalition zu tun. Das müssen wir uns bewusst machen. Wir haben nur noch 53 Prozent, die auf diese beiden Parteien entfallen. Das heißt, es ist die letzte Konstellation, die als Zweierkonstellation überhaupt funktionieren kann. Nachdem wir das Scheitern von Jamaika erlebt haben, übrigens auch das Zustandekommen von Jamaika, wenn es denn vonstattengegangen wäre, wäre eine höchst fragile Angelegenheit gewesen. Wir haben ja erlebt, welche Kontroversen aufgebrochen sind. Nachdem wir dieses Scheitern erlebt haben, muss die Konsequenz sein, in diesem Falle, in dieser Situation seitens der SPD die Lage klar zu analysieren, was Martin Schulz leider am Tag nach dem Scheitern von Jamaika gerade nicht gemacht hat, um dann zu der Feststellung zu kommen, man kann eine Menge in den Verhandlungen rausholen und hat dann übrigens genau die vier Jahre Zeit, die die Partei gerade händeringend braucht, um sich besser aufzustellen in vier Jahren. Denn machen wir uns doch nichts vor: Gegenwärtig hätte die SPD noch nicht einmal einen tauglichen Spitzenkandidaten für eine Neuwahl.
Büüsker: Herr von Lucke, dann kommen wir aber nicht aus der Problematik heraus, dass eine Große Koalition die Ränder wachsen lässt. In der derzeitigen politischen Situation mit einer AfD, über 90 Abgeordnete im Deutschen Bundestag, kann es da im demokratischen Interesse der Bundesrepublik sein, wenn die Ränder weiter wachsen?
von Lucke: Das ist immer interessant, dass wir dabei eine Hypothese tätigen, dass sie zwangsläufig erweise wachsen. Ich mahne hier an dem Punkt zu sehr viel mehr Gelassenheit. Wir müssen uns eines bewusst machen: Verglichen mit anderen Situationen – denken wir an die 60er-Jahre -, da gab es eine überragend große Koalition, in der tatsächlich dann die APO, die übrigens interessanterweise von links wie von rechts kam – damals, müssen wir uns erinnern, ist die NPD nur knapp am Einzug ins Parlament gescheitert -, dann starke Zugewinne hatte. Jetzt haben wir bereits die AfD im Parlament und wir müssen doch eines uns bewusst machen: Wir werden, übrigens genau wie das in Baden-Württemberg der Fall ist, massive Auseinandersetzungen innerhalb der AfD erleben. Die AfD ist ein derartig heteronomes Gebilde. Ich spitze zu: Die APO (Entschuldigung! Ich sage schon die APO). Die AfD wird die beste Opposition ihrer selbst sein.
Insofern glaube ich, die Situation ist eine völlig andere. Das Argument von Martin Schulz nach dem Tage der Wahl hatte eine Berechtigung. Damals konnte die SPD mit Fug und Recht sagen, wir sind nicht sofort wieder bereit, die Große Koalition auf Dauer zu stellen. Denn in der Tat: Vor allem ist die SPD ja immer kleiner geworden – ein berechtigtes Argument.
Nach dem Scheitern von Jamaika – und das haben wir nun erlebt – ist aber die zwingende Aufgabe aller Parteien zu überlegen, wie wir in stabile Verhältnisse kommen, und damit ist die SPD in einer anderen Lage. Und ich glaube, es ist eine Chance für die SPD. Es fehlt bloß in Teilen der Partei noch die Einsicht, dass vier Jahre jetzt zu gewinnen die wesentlich größere Chance für die SPD ist, als völlig unvorbereitet in Neuwahlen gehen zu müssen, die überhaupt keine Chance hätten, die SPD stärker zu machen. Im Gegenteil: Sie würde verlieren.
"Wir brauchen sukzessive andere Formen des Regierens"
Büüsker: Nun steht ja noch eine zweite Option zur Regierungsbildung im Raum. Das ist eine mögliche Minderheitsregierung. Und es gibt Beobachter, die sagen, dass so eine Minderheitsregierung, eine Regierung, die sich immer neue Mehrheiten im Bundestag suchen müsste, dass das durchaus eine Stärkung der Demokratie sein könnte, weil dadurch der Austausch innerhalb des Parlaments viel stärker gefördert würde. Wie beurteilen Sie das?
von Lucke: Ja, das ist vom Prinzip durchaus richtig. Ich bin deswegen auch kein absoluter Gegner von Minderheitsregierungen. Im Gegenteil! Ich glaube, dass wir sukzessive andere Formen des Regierens brauchen könnten, um dieser misslichen Lage, die wir ja gegenwärtig erleben, dass unsere Volksparteien, die bisher für die Stabilität der Demokratie maßgeblich verantwortlich gewesen sind, dass sie schrumpfen. Aber es sei noch mal gesagt: Eine Minderheitsregierung ist nicht per se die bessere Institution. Sie hat gewaltige Nachteile. Erstens macht sie sich gerade mehr abhängig zum Teil von populistischen Strömungen. Sie macht sich mehr abhängig – das sehen wir in Skandinavien, wo Rechtspopulisten massiven Einfluss haben auf das Gelingen und das Misslingen von Minderheitsregierungen.
Auch das Beispiel NRW, das wir hatten, ist ja nicht eines, was nur für die Minderheitsregierung spricht, abgesehen davon, dass es eine Landesregierung war, und selbst die war nicht in absolutem Maße stabil. Das heißt, gerade in diesen Zeiten müsste sich eine Regierung, die nach außen hin doch in hohem Maße Verantwortung übernehmen müsste, regelmäßig ihre Mehrheiten suchen. Das ist vom parlamentarischen Gedanken, von der Aufwertung des Parlaments durchaus richtig, aber es schwächt die Regierung, und das halte ich für falsch.
Ein Letztes kommt noch hinzu. Wir werden – das müssen wir uns bewusst machen – im nächsten Jahr ein völlig anderes Parlament erleben als zu den klassischen Zeiten der Großen Koalition in den 60er-Jahren. Damals gab es faktisch überhaupt keine parlamentarische Opposition. Es gab eine FDP von vielleicht acht, neun Prozent im Bundestag. Das heißt, die Große Koalition versammelte über 90 Prozent der Stimmen auf sich.
Gegenwärtig haben wir wie gesagt eine Große Koalition, die den Namen nicht mehr verdient. Sie ist bei 53 Prozent. Und wir haben eine massive Opposition im Parlament. Das heißt, die Debatten im Parlament werden hoch spannend werden. Wir werden vier sehr, sehr spannende Jahre erleben mit zwei eher rechts-mittigen Parteien, AfD und FDP, die sich vehement am Anfang in die parlamentarischen Debatten schlagen werden und die daraufhin Antworten von Grünen und Linkspartei bekommen werden. Das heißt, wir werden hoch spannende parlamentarische Debatten bekommen. Da bedarf es keiner Minderheitsregierung, um diese noch spannender zu machen.
Büüsker: … sagt Albrecht von Lucke, Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik". Danke für das Gespräch heute hier im Deutschlandfunk.
von Lucke: Ich danke Ihnen!
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