Pantheon, Kolosseum, Trajanssäule - jeder Rombesucher steht auch heute noch staunend vor den steinernen Zeugen einstiger Macht und Größe Roms. Die Schulbücher erzählen, wie die Stadt aus kleinsten, dörflichen Anfängen auf sieben Hügeln in Latium zur alles beherrschenden Zentrale der größten Weltmacht der Antike wuchs. Aber: vor allzu simplen Vorstellungen von der universalen Macht der römischen Zentralregierung sollte man sich hüten. Das meint jedenfalls Clifford Ando von der University of Chicago.
"Sie hatten eine sehr große Armee. Aber die war ausschließlich an den Grenzen des Reiches stationiert. Und im Inneren des Reiches gab es nur sehr wenige Regierungsvertreter. Deshalb halten viele sowohl den Anspruch als auch die wirkliche Macht der Regierung für eher gering."
Tatsächlich lebten 85 Prozent der Bevölkerung des Reiches in Dörfern oder Kleinstädten, weit entfernt von Rom oder auch nur der jeweiligen Provinzhauptstadt. Stand die Macht der Zentralregierung deshalb außerhalb Roms und der Grenzbefestigungen tatsächlich auf tönernen Füßen? Um diese Frage zu beantworten, so Ando, müsse man Gedanken aus der modernen Politikwissenschaft aufgreifen. Das Konzept der sogenannten infrastrukturellen Macht sei da hilfreich.
"Ich wurde an das Konzept durch einen Aufsatz über das amerikanische Regierungssystem erinnert, der vor fünf Jahren erschien. Viele Amerikaner glauben, dass ihre Regierung schwach ist, weil - ähnlich übrigens, wie in Deutschland - viel Macht in den Händen der einzelnen Bundesstaaten liegt. Der Historiker William Novak schrieb damals einen Artikel, in dem er das Gegenteil behauptete. Wenn man nämlich nicht die Unterschiede der verschiedenen Regierungsebenen betone, sondern ihr Zusammenwirken und ihren Effekt auf das Leben jedes Einzelnen, dann sei der amerikanische Staat sehr stark."
Ein Beispiel für diesen symbiotischen Zusammenhang der verschiedenen Verwaltungsebenen sei das berühmte System der römischen Straßen. Die seien zwar anfangs von der Zentralregierung gebaut worden, aber:
"Die römische Regierung hatte kein Verkehrsministerium, das die Straßen instandhielt. Wie heute in vielen Kleinstädten, in denen die Entfernung von Schnee auf den Straßen in der Verantwortung der Leute liegt, die an der Straße wohnen, war es in römischer Zeit die Verantwortung der einzelnen Siedlungen an der Straße, diese instandzuhalten. So wurde die Aufgabe, eine zentrale Säule römischer Macht aufrechtzuerhalten an die Untertanen übertragen. Und das wurde zur Quelle ständigen Streites und Widerstandes, aber auch gegenseitiger Zusammenarbeit und Unterstützung."
Auch die berühmte Volkszählung des Kaisers Augustus, auf die das Lukas-Evangelium hinweist, sei diesem Muster gefolgt. Die römische Zentralregierung habe ein starkes Interesse an dieser Volkszählung gehabt, aber keinesfalls genug Leute, um sie durchzuführen. Also mussten lokale Offizielle in die Bresche springen und das machen. Die Zentrale sei also schwach an Personal, aber keineswegs schwach in der Durchsetzung ihrer Interessen gewesen. Und das, so Ando, wirke doch insgesamt sehr modern.
Für die Einbeziehung neuerer politikwissenschaftlicher Konzepte in die Analyse antiker Herrschaft plädiert auch der Bonner Historiker Matthias Becher. Das sei nötig, um beispielsweise die Gesellschaften zu verstehen, die sich aus der Konkursmasse des weströmischen Reiches gebildet haben. Im Unterschied zum römischen Imperium sei diesen lange Zeit jede Form von Staatlichkeit abgesprochen worden. Gemäß der klassischen Definition gehören zu einem Staat drei Elemente: ein einheitliches Staatsgebiet, ein einheitliches Staatsvolk und das Gewaltmonopol des Staates. Weil den Herrschaftsgebieten der Franken, Vandalen, Westgoten und anderer Germanenstämme all das fehlte, sei insbesondere die deutsche Geschichtswissenschaft immer von einem radikalen Bruch zwischen spätrömischer Staatlichkeit und germanischen Herrschaftsverbänden ausgegangen. Neuere Ansätze aus der Governance-Forschung befassen sich aber mit gescheiterten oder in Auflösung begriffenen Staaten, sogenannten failed oder failing states. Matthias Becher:
„Um sich von bestimmten alten Denkkategorien lösen zu können, ist es hilfreich, auch mal in heutiger Zeit über den Tellerrand hinauszuschauen und zu fragen: wie funktionieren Gesellschaften, in denen der Staat relativ schwach entwickelt ist und wir sehr starke Eliten haben, teilweise militärische Eliten, Warlords, die dem Staat in gewissem Sinne Konkurrenz machen? Strukturell, würde ich sagen, ist das schon eine Situation, die dem untergehenden Römischen Reich vergleichbar ist. Und aus diesen konkurrierenden Herrschaftsträgern erwachsen dann, wenn man so will, neue staatliche Einheiten in der Spätantike."
Becher hat sich das am Beispiel des merowingischen Frankenreiches einmal angeschaut. Hier genossen die ersten Könige durchaus eine herausragende Stellung, die weit mehr bedeutete, als nur Erster unter Gleichen zu sein. Der König hatte das alleinige Recht Steuern zu erheben. Er verfügte - teilweise noch als Erbe des spätrömischen Staates - über einen nicht unbeträchtlichen Beamtenapparat, Schätzungen gehen von rund 3.000 königlichen Beamten am Anfang des sechsten Jahrhunderts aus. Und mit dem fiscus, also dem Staatsland, das aus Höfen und Ländereien, aus Jagdgebieten und Wäldern bestand, sowie aus Königspalästen und Pfalzen, verfügte der König über ein enormes Vermögen. Diese herausgehobene Stellung konnten die ersten Merowingerherrscher nutzen, um ihre Macht zu stabilisieren.
„Der König versucht dann meinetwegen, diese Warlords durch die Einbindung in die Hierarchie seines Reiches einzubinden. Indem er sie zu Grafen oder zum Herzog macht, kommt er ihnen eben ein Stück weit entgegen. Und sie kommen ihm auch ein Stück entgegen und akzeptieren ihn als König. Und kommen eben nicht auf die Idee, selbst ein Königreich auszurufen, was in diesen sehr bewegten Zeiten durchaus eine Möglichkeit gewesen wäre. Also es ist ein sehr kompliziertes Beziehungsgefüge zwischen dem König und den Großen, das immer neu austariert werden muss."