Die Seele ist wie ein mit Sorgfalt möblierter Raum, der mit Empfindungen, Erinnerungen und Gedanken eingerichtet ist, um sich in ihm heimisch fühlen zu können. Das Leben selbst besteht aus unendlich vielen Räumen, die labyrinthähnlich angelegt Begegnungsstätten sind, in denen sich die Sprache wie ein Orientierungsfaden durchschlängelt. Doch Hiro hält sich nicht gerne dort auf. Er vermeidet es sogar und übt sich darin, fast inexistent zu werden. In Milena Michiko Flašars Roman "Ich nannte ihn Krawatte" begegnet man diesem Hiro, der sich zwei Jahre lang in seinem Zimmer eingeschlossen hat. Ein Zimmer, mit einem Riss in der Wand, der das Innen mit dem Außen verbindet. Wobei Flašar im Laufe des Romans immer wieder mit diesen beiden Begriffen perspektivisch spielt und deren ursprüngliche Bedeutung in ihr Gegenteil umwandelt. Denn egal, ob außen oder innen: Der 20-jährige Hiro möchte sich am liebsten im Nichts aufhalten, Nichts sein, nichts denken, nichts fühlen. In seinem Zimmer hat sich der Stillstand eingenistet. Hiro ist ein sogenannter "Hikikomori". Er zählt zu denjenigen jungen Menschen, die sich aus dem Leben zurückziehen, den Leistungs- und Erwartungshaltungen nicht mehr Stand halten und sich deshalb in ihre Zimmer zurückziehen. Dem Hikikomori- Phänomen wurde seit den 1980er-Jahren in Japan verstärkte Aufmerksamkeit entgegengebracht. Meistens handelt es sich um junge Männer, die sich in solch eine Isolation begeben. "Ich kann nicht mehr" waren Hiros letzte Worte, bevor er seine Reise zum Nichtsein antrat.
"Bei Hiro, der Hauptfigur, ist es ja so, dass er sich zurückzieht aus der Welt, weil er das Gefühl hat, er kann keine Verantwortung mehr übernehmen, er will keine mehr übernehmen.
Er will in diesen ungeschehenen Raum, sagt er ja, hinein, wo er befreit wird aus der Kette aus Ursache und Wirkung. Und das ist eine große Illusion, das er denkt, er kann sich da ausklinken und kann sich wegsperren und bewirkt nichts. Er bewirkt wohl etwas. Dadurch, dass er nicht präsent ist, dominiert er auch das Zuhause, das Elternhaus sehr stark. Macht seine Eltern auch zu Hikikomoris, die müssen ja immer zu Hause sein, für ihn da sein, zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite müssen sie ihn nach Außen hin schützen, beziehungsweise leugnen sie ja seine Anwesenheit gegenüber den Nachbarn. Da wird eine ganze Kette an Geschehnissen auch losgebrochen, dadurch, dass er sich in sich hinein zurückzieht. Mich hat das sehr berührt, dass junge Menschen derart radikal Nein sagen zu sich selbst, zu ihrem Menschsein, wobei dieser Hikikomori nicht nur diese Einzelperson ist, die sich einschließt, sondern eigentlich eine Metapher auch ist, eine exemplarische Figur, die dafür steht, Verantwortung abzugeben, nicht mehr greifbar sein zu wollen nicht mehr angreifbar. Dieses Symbolische, Exemplarische hat mich daran sehr interessiert."
Die von der Hauptfigur angestrebte Unbemerktheit ist auch eine Art Raum. Diesen möchte Hiro eines Tages mit nach draußen tragen. Denn er entschließt sich dazu, sein Zimmer zu verlassen, in dem er zwei Jahre lang tagtäglich darauf gewartet hat, dass sich sein Atem mit der Stille verbindet, dass man ihm sein Essen an die Zimmertür stellt und dass seine Eltern das Haus verlassen, damit er unbemerkt ins Bad huschen kann.
Voller Poesie sind Flašars Umschreibungen dieser verstaubten, lauten Stille des Zimmers, das Hiro auch seine dunkle Höhle nennt. Das Dunkle schlängelt sich motivisch durch den ganzen Roman, der von feinen Seidenfäden gehalten zu sein scheint und trotz der melancholischen Grundstimmung eine wunderbare Leichtigkeit besitzt.
Dieser Eindruck des Schwebens kann sich auch deshalb einstellen, da Flašar dem Dunklen, den Abgründen, mit denen Hiro nichts am Hut haben will, eine Schönheit zugesteht. So ist "Ich nannte ihn Krawatte" ein "Lob des Schattens".
Doch es bedarf auch einer Konfrontation mit den Unwegsamkeiten und den Schattenseiten des Lebens. Ansonsten zerfrisst die Finsternis alles. Aber Hiro hat sich dazu entschieden, weiterhin stumm und ungreifbar durch die Welt zu gehen.
Aber dann schenkt die 1980 geborene Schriftstellerin ihrer Figur eine Parkbank. Hiro lässt sich bei seinen neuen Freigängen auf ihr nieder und begegnet einem Mann, der zu seinem Anzug eine gestreifte Krawatte trägt. Jeden Tag verbringen die beidem Männer von da an Zeit miteinander. Zunächst herrscht Schweigen. Doch dann bricht die Sehnsucht, zu sprechen auch aus Hiro heraus. Die Worte fließen.
"Das drückt auch dieses Bedürfnis aus, sich mitzuteilen, auch dieses Transformatorische, was ja im sich Mitteilen liegt. Auch das Heilsame daran."
Der fremde Krawattenträger heißt Ohara Tetsu und ist ein "Salaryman". So bezeichnet man in Japan männliche Firmenangestellte. Genauso wie Hiro birgt Tetsu dunkle Geheimnisse. Er hat seine Arbeit verloren, wovon seine Frau aber nichts weiß. Jeden Tag verlässt der 58-jährige sein Haus und sitzt auf Hiros Parkbank, anstatt im Büro.
Mit fein konturierten Sätzen lässt Milena Michiko Flašar nicht nur die Freundschaft zwischen zwei Außenseitern entstehen. Die Halbjapanerin vermag es, Worte in den Raum zu stellen, die sich dort ineinander verankern und Literatur zu fühlbaren Situationen und vorstellbaren Bildern werden lassen. Nicht umsonst bedeutet das Wort "kaku" im Japanischen gleichzeitig schreiben und malen.
"Für mich bedeutet das Schreiben hauptsächlich, Handlung in stille Bilder zu übersetzen. Darin liegt für die Poesie auch des Schreibens. Das Bildliche, das Bildhafte."
Der Leser kann die auf diese Art und Weise entworfenen Bilder genießen, da ein angenehmes Gefühl der Verlangsamung den Roman ummantelt, der in einer altmodisch klingenden Sprache geschrieben ist, die ein Zusammenspiel aus lieblicher Zartheit und herber Intonation ist.
"Ich mag Autoren, die eine gewisse Herbheit in der Sprache haben, die eine sehr klare Sprache haben. Und ich mag auch sehr gerne Bücher, in denen es einen Moment der Erkenntnis gibt."
Diese liegt für Hiro und Tetsu in der Offenbarung der wahren Motive ihrer Lebensmüdigkeit. "Die Wahrheit gestehen, ist wie Haare abschneiden", sagt Hiro gegen Ende des Romans. Milena Michiko Flašar hat kein sozialkritisches Buch geschrieben, in dem sie gesellschaftliche Phänomene wie Leistungsdruck und Versagensangst verhandeln und in einen japanisch- europäischen Vergleich stellen möchte. Vielmehr hat Flašar ein intimes Kabinettstück über Selbstverleugnung, Selbstbetrug und über den Umgang mit Schuld geschrieben. Dabei spielt das Motiv des Wegschauens eine große Rolle. Genauso wie Hiro, wandte Tetsu in entscheidenden Momenten seines Lebens den Blick ab und traute sich nicht, seinen behinderten Sohn anzuschauen. Hiro wiederum kniff in einem entscheidenden Moment die Augen zu und kam seiner Schulfreundin nicht zur Hilfe. Die beiden Männer auf der Parkband erfüllt ein permanentes Gefühl der Scham, das letztendlich das gesamte Leben lähmt, da es nie in einer notwendigen Handlung mündet. Das Miteinander Sprechen aber löst die Angst der beiden Romanfiguren, die kein "Gesicht ohne Geheimnis" mehr sein wollen.
"Ich habe auch keine Anführungszeichen gesetzt in diesem Buch, einfach auch dieses 'Wer spricht da jetzt?', 'wer ist da grad gemeint', um das auch deutlich zu machen, wie ähnlich die beiden einander eigentlich sind, sonst könnten sie sich einander auch nicht anvertrauen. Sie sind sich darin ähnlich, dass sie sich beide so eine eigene Welt erschaffen haben und dabei zuschauen, wie ihnen alles dabei entgleitet und schon entglitten ist."
Damit das Schuldgefühl sie nicht länger wie ein "Giant" - wie ein Riese verfolgt, finden Hiro und Tetsu unterschiedliche Lösungen. Am Ende des Romans hält Hiro die Krawatte nicht mehr in den Händen. Die Frau seines Freundes hat sie inzwischen. Hiro sagt seinen Eltern "Gute Nacht".
Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte, Roman, Klaus Wagenbach Verlag 2012, 144 Seiten, 16,90 Euro.
"Bei Hiro, der Hauptfigur, ist es ja so, dass er sich zurückzieht aus der Welt, weil er das Gefühl hat, er kann keine Verantwortung mehr übernehmen, er will keine mehr übernehmen.
Er will in diesen ungeschehenen Raum, sagt er ja, hinein, wo er befreit wird aus der Kette aus Ursache und Wirkung. Und das ist eine große Illusion, das er denkt, er kann sich da ausklinken und kann sich wegsperren und bewirkt nichts. Er bewirkt wohl etwas. Dadurch, dass er nicht präsent ist, dominiert er auch das Zuhause, das Elternhaus sehr stark. Macht seine Eltern auch zu Hikikomoris, die müssen ja immer zu Hause sein, für ihn da sein, zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite müssen sie ihn nach Außen hin schützen, beziehungsweise leugnen sie ja seine Anwesenheit gegenüber den Nachbarn. Da wird eine ganze Kette an Geschehnissen auch losgebrochen, dadurch, dass er sich in sich hinein zurückzieht. Mich hat das sehr berührt, dass junge Menschen derart radikal Nein sagen zu sich selbst, zu ihrem Menschsein, wobei dieser Hikikomori nicht nur diese Einzelperson ist, die sich einschließt, sondern eigentlich eine Metapher auch ist, eine exemplarische Figur, die dafür steht, Verantwortung abzugeben, nicht mehr greifbar sein zu wollen nicht mehr angreifbar. Dieses Symbolische, Exemplarische hat mich daran sehr interessiert."
Die von der Hauptfigur angestrebte Unbemerktheit ist auch eine Art Raum. Diesen möchte Hiro eines Tages mit nach draußen tragen. Denn er entschließt sich dazu, sein Zimmer zu verlassen, in dem er zwei Jahre lang tagtäglich darauf gewartet hat, dass sich sein Atem mit der Stille verbindet, dass man ihm sein Essen an die Zimmertür stellt und dass seine Eltern das Haus verlassen, damit er unbemerkt ins Bad huschen kann.
Voller Poesie sind Flašars Umschreibungen dieser verstaubten, lauten Stille des Zimmers, das Hiro auch seine dunkle Höhle nennt. Das Dunkle schlängelt sich motivisch durch den ganzen Roman, der von feinen Seidenfäden gehalten zu sein scheint und trotz der melancholischen Grundstimmung eine wunderbare Leichtigkeit besitzt.
Dieser Eindruck des Schwebens kann sich auch deshalb einstellen, da Flašar dem Dunklen, den Abgründen, mit denen Hiro nichts am Hut haben will, eine Schönheit zugesteht. So ist "Ich nannte ihn Krawatte" ein "Lob des Schattens".
Doch es bedarf auch einer Konfrontation mit den Unwegsamkeiten und den Schattenseiten des Lebens. Ansonsten zerfrisst die Finsternis alles. Aber Hiro hat sich dazu entschieden, weiterhin stumm und ungreifbar durch die Welt zu gehen.
Aber dann schenkt die 1980 geborene Schriftstellerin ihrer Figur eine Parkbank. Hiro lässt sich bei seinen neuen Freigängen auf ihr nieder und begegnet einem Mann, der zu seinem Anzug eine gestreifte Krawatte trägt. Jeden Tag verbringen die beidem Männer von da an Zeit miteinander. Zunächst herrscht Schweigen. Doch dann bricht die Sehnsucht, zu sprechen auch aus Hiro heraus. Die Worte fließen.
"Das drückt auch dieses Bedürfnis aus, sich mitzuteilen, auch dieses Transformatorische, was ja im sich Mitteilen liegt. Auch das Heilsame daran."
Der fremde Krawattenträger heißt Ohara Tetsu und ist ein "Salaryman". So bezeichnet man in Japan männliche Firmenangestellte. Genauso wie Hiro birgt Tetsu dunkle Geheimnisse. Er hat seine Arbeit verloren, wovon seine Frau aber nichts weiß. Jeden Tag verlässt der 58-jährige sein Haus und sitzt auf Hiros Parkbank, anstatt im Büro.
Mit fein konturierten Sätzen lässt Milena Michiko Flašar nicht nur die Freundschaft zwischen zwei Außenseitern entstehen. Die Halbjapanerin vermag es, Worte in den Raum zu stellen, die sich dort ineinander verankern und Literatur zu fühlbaren Situationen und vorstellbaren Bildern werden lassen. Nicht umsonst bedeutet das Wort "kaku" im Japanischen gleichzeitig schreiben und malen.
"Für mich bedeutet das Schreiben hauptsächlich, Handlung in stille Bilder zu übersetzen. Darin liegt für die Poesie auch des Schreibens. Das Bildliche, das Bildhafte."
Der Leser kann die auf diese Art und Weise entworfenen Bilder genießen, da ein angenehmes Gefühl der Verlangsamung den Roman ummantelt, der in einer altmodisch klingenden Sprache geschrieben ist, die ein Zusammenspiel aus lieblicher Zartheit und herber Intonation ist.
"Ich mag Autoren, die eine gewisse Herbheit in der Sprache haben, die eine sehr klare Sprache haben. Und ich mag auch sehr gerne Bücher, in denen es einen Moment der Erkenntnis gibt."
Diese liegt für Hiro und Tetsu in der Offenbarung der wahren Motive ihrer Lebensmüdigkeit. "Die Wahrheit gestehen, ist wie Haare abschneiden", sagt Hiro gegen Ende des Romans. Milena Michiko Flašar hat kein sozialkritisches Buch geschrieben, in dem sie gesellschaftliche Phänomene wie Leistungsdruck und Versagensangst verhandeln und in einen japanisch- europäischen Vergleich stellen möchte. Vielmehr hat Flašar ein intimes Kabinettstück über Selbstverleugnung, Selbstbetrug und über den Umgang mit Schuld geschrieben. Dabei spielt das Motiv des Wegschauens eine große Rolle. Genauso wie Hiro, wandte Tetsu in entscheidenden Momenten seines Lebens den Blick ab und traute sich nicht, seinen behinderten Sohn anzuschauen. Hiro wiederum kniff in einem entscheidenden Moment die Augen zu und kam seiner Schulfreundin nicht zur Hilfe. Die beiden Männer auf der Parkband erfüllt ein permanentes Gefühl der Scham, das letztendlich das gesamte Leben lähmt, da es nie in einer notwendigen Handlung mündet. Das Miteinander Sprechen aber löst die Angst der beiden Romanfiguren, die kein "Gesicht ohne Geheimnis" mehr sein wollen.
"Ich habe auch keine Anführungszeichen gesetzt in diesem Buch, einfach auch dieses 'Wer spricht da jetzt?', 'wer ist da grad gemeint', um das auch deutlich zu machen, wie ähnlich die beiden einander eigentlich sind, sonst könnten sie sich einander auch nicht anvertrauen. Sie sind sich darin ähnlich, dass sie sich beide so eine eigene Welt erschaffen haben und dabei zuschauen, wie ihnen alles dabei entgleitet und schon entglitten ist."
Damit das Schuldgefühl sie nicht länger wie ein "Giant" - wie ein Riese verfolgt, finden Hiro und Tetsu unterschiedliche Lösungen. Am Ende des Romans hält Hiro die Krawatte nicht mehr in den Händen. Die Frau seines Freundes hat sie inzwischen. Hiro sagt seinen Eltern "Gute Nacht".
Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte, Roman, Klaus Wagenbach Verlag 2012, 144 Seiten, 16,90 Euro.