"Die Position des katholischen Lehramtes ist eindeutig und klar. Sie besagt, dass bereits die befruchtete menschliche Eizelle auf eine volle menschliche Person angelegt ist, der Moment der Zeugung ist für die Kirche der entscheidende Ausgangspunkt ihrer Urteile. Die Präimplantationsdiagnostik ist in jeder Hinsicht und von vorneherein auf Selektion von menschlichem Leben ausgerichtet, und daher ist ihr aus ethischer Sicht entschieden zu widersprechen."
Der katholische Bischof von Fulda, Heinz Josef Algermissen spricht öffentlich über die umstrittene Präimplantationsdiagnostik, noch bevor sie der deutsche Bundestag im Jahr 2011 mit Einschränkungen zugelassen hat. Dass sich religiöse Akteure, in diesem Fall ein katholischer Bischof, in eine bioethische Debatte einschalten, wird in der Öffentlichkeit nicht hinterfragt – für ethische Fragestellungen scheinen Kirchen geradezu der ideale Ansprechpartner zu sein, selbst wenn es im Grunde genommen um eine politische Entscheidung geht.
"Wenn man jetzt auf Deutschland guckt und betrachtet jetzt speziell die Debatte um Klonen oder Stammzellenforschung, dann kann man schon sagen, dass religiöse Argumente eine recht große Rolle spielen, weil einmal natürlich die großen religiösen Akteure, die beiden christlichen Kirchen sich sehr stark in die Diskussion eingebracht haben."
Sagt die Politikwissenschaftlerin Mirjam Weiberg-Salzmann. Sie hat die Verwendung religiöser Argumente und die Rolle religiöser Akteure in bioethischen Debatten untersucht. Diese Akteure sind in Deutschland – und nicht nur hier – Teil des politischen Diskurses. In gewisser Weise sind auch sie Interessenverbände, wie etwa Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände. Der zentrale Unterschied: Religiöse Argumente stehen auf einem religiösen Fundament – auf dem aber nicht jeder Bürger in einem pluralistischen Staat steht. Das gilt auch, wenn es nicht die Vertreter der Religionsgemeinschaften selbst sind, die so argumentieren, sondern etwa gewählte Politiker wie Claudia Lücking-Michel. Sie sagte im Novembervergangenen Jahres im Bundestag:
"Als Christin bin ich selbst überzeugt, dass unser aller Leben ein Geschenk Gottes ist. Ich bin überzeugt, dass wir als Abbild Gottes geschaffen sind und deshalb mit einer unveräußerlichen Würde ausgestattet sind."
Also, religiöse Argumente im Bundestag – in einem Parlament, das auch von Menschen gewählt ist, die religiöse Argumente nicht akzeptieren. Geht das? Das fragten sich auch die Teilnehmer der international besetzten Tagung an der Uni Münster.
"Also, der Witz der Tagung ist, dass es eine lange Erfahrung in der Moderne, in der westlichen Philosophie gibt, die sagt, wir müssen Staaten, Gesetzgebung ganz neutral gegenüber religiösen, theologischen Argumenten halten. Die sollen also generell vom Platz gestellt werden. Wenn man so eine starke Behauptung macht, muss man gute Argumente haben."
Michael Quante, Philosophie-Professor an der Uni Münster. Aber sind religiöse Argumente in einer politischen Debatte so gut wie alle anderen auch?
"Sie sind jedenfalls nicht unzugänglich und in einer pluralistischen Gesellschaft sind sie nicht weniger zustimmungsfähig als andere Gründe, die auf anderen moralischen Grundüberzeugungen beruhen."
Meint Ulrich Willems, Politikwissenschaftler und neben Quante einer der Organisatoren der Tagung. Dass auch die moderne, plurale Gesellschaft gerade in bioethischen Fragen immer auf die Haltung der Religionsgemeinschaften schaut, ist für Quante nicht verwunderlich:
"Wir sind dort, auch diejenigen, die sich gerade von der religiös-christlichen Tradition emanzipiert haben, sehr schnell doch wieder in Bildern und Sprachen der Selbstbeschreibung, die aus diesem Kontext kommen. Und die Fragen, um die es dort geht, betreffen Sterben und Tod und Umgestaltung der menschlichen Natur, die gehören zum Kernbestand des menschlichen Selbsterfahrens und damit zum Kernbestand dessen, was Religion und Theologie versucht haben zu artikulieren."
Und in der Art, wie sie sich in politische Debatten einbringen, erkennt Quante zwei wiederkehrende Muster:
"Das eine nenne ich kategorische Argumente, da wird also versucht zu sagen, hier gibt es ein Prinzip X, wie Menschenwürde oder Heiligkeit des Lebens, aus dem folgt kategorisch, dass man darüber nicht reden darf, die Tabuisierung der Debatte. Das andere ist zu sagen, ja das sieht ja alles ganz human aus, aber wenn wir das zulassen, geraten wir automatisch auf eine schiefe Ebene, die in eine Katastrophe führt."
Übertragen auf das Beispiel Präimplantationsdiagnostik heißt das: 1. Die Heiligkeit des Lebens ist ein Prinzip, das mit der Tötung von Embryonen verletzt werde und 2. Wenn man die Präimplantationsdiagnostik in Ausnahmefällen erlaubt, dann führe das zu einer Selektion von vermeintlich gutem und schlechtem Leben. Auch Politiker bedienen sich dieser Argumentationsmuster in bioethischen Debatten, allerdings in Deutschland nicht so offen religiös wie in anderen Ländern, meint Mirjam Weiberg-Salzmann.
"Wenn man in die USA guckt, wo das halt gängig ist, dass man sich zu seinem Glauben bekennt, auch aus seinem Glauben heraus bestimmte Positionen ableitet und seine Argumente damit grundiert. Da ist es sogar so, wenn man keiner Glaubensgemeinschaft angehört, und keine konkrete Position bezieht, dann wirkt das eher seltsam."
In Deutschland tauchen religiöse Argumente meist in Debatten über Beginn und Wert menschlichen Lebens auf, in den USA dagegen wird dieser sogenannte God Talk vor allem benutzt, wenn es um das Potenzial der Biomedizin und genetischer Manipulationen geht, meint der Soziologe John Evans von University of California, San Diego.
"Das religiöse Argument lautet hier: Die Menschen sind nach dem Bild Gottes entstanden. Das suggeriert: Der Mensch ist von seiner Natur her unveränderlich. Der Einfluss von religiösen Argumenten ist also besonders groß, wenn es darum geht, die Möglichkeiten einzuschränken, den Menschen durch Gentechnik zu verändern."
Die Tagung zeigt: Vertretern von Religionsgemeinschaften die Teilnahme an der Debatte zu verbieten oder religiöse Argumente von ihr auszuschließen, dafür gibt es keine überzeugenden Gründe, auch und gerade in einer säkularen Gesellschaft. Aber, schränkt Michael Quante ein:
"Sie haben ein Mitspracherecht, aber sie haben nicht das letzte Wort. Und in einer pluralen Gesellschaft kann man nicht in diese Entscheidungen mit der Forderung gehen, a: das ist unverhandelbar – und b: das hat akzeptiert zu werden. Diese, ich sage mal, bischöfliche Haltung gegenüber mündigen Menschen, die ist einer Demokratie und die ist auch der Menschenwürde nicht würdig."