Jens Notroff: "Das war mein erster Besuch im Orient, im klassischen Orient. Das war sehr heiß, sehr trocken, staubig, schon das klassische Ausgrabungsbild."
Göbekli Tepe, der gebauchte Berg. Abgelegen in Südanatolien, keine Quellen, nur rote Erde über weißem Kalkstein. Auf dem Plateau: ein Hügel, 300 Meter Durchmesser, 15 Meter hoch. Der Bauch: Aufgeschüttet vor 12.000 Jahren. Heute ausgegraben von Archäologen. Kreise aus steinernen Pfeilern mit Armen. Jens Notroff:
"Also wenn man jetzt zwischen oder unter diesen großen Zentralpfeilern steht, die ja fünfeinhalb Meter hoch aufragen, fühlt man sich zunächst einmal wirklich klein. Das heißt man wird schon auf seinen Platz mehr oder weniger zurechtgewiesen. Das sind schon große, überlebensgroße Gestalten, die da auf einen stumm herabschauen. Das ist schon ein Ehrfurcht gebietender Anblick, würde ich sagen."
Neue Zeiten erfordern neue Götter
Vor 12.000 Jahren endete die Würm-Eiszeit, es wurde warm in Südanatolien. In den Tälern wuchsen wieder Wälder auf, es gab reichlich Wild: Auerochsen, Gazellen, Wildschweine, Enten, Gänse. Den Menschen eröffneten sich neue Chancen, erklärt Oliver Dietrich:
"Das ist die Zeit der letzten Jäger und Sammler in dieser Region. Und es ist die Zeit, wo man langsam beginnt, sich die Natur quasi untertan zu machen."
Neue Zeiten brauchen neue Götter. Davon berichtet der Göbekli Tepe. Die Menschen lebten noch in mobilen Gruppen von einigen Dutzend Personen. Aber hier kamen sie zu vielen Hunderten zusammen, um die großen Steinkreise zu errichten. Abseits der fruchtbaren Täler, exponiert auf dem kahlen Felsplateau. Oliver Dietrich:
"Das ist ganz offensichtlich so, dass sich eben in den Glaubensvorstellungen der Menschen etwas ändert, lange bevor dieser Verstädterungsprozess eigentlich einsetzt. Und das ist schon eine ältere Theorie in der Archäologie, aber der Göbekli Tepe ist dafür eigentlich ein sehr schlagender Beweis."
Die Menschheitsgeschichte ist anfangs eine Geschichte des Stillstands. Über 160.000 Jahre verändert sich praktisch nichts. Hier und da vielleicht Anpassungen an unterschiedliche Ökosysteme, gelegentlich bessere Steinwerkzeuge. Doch die sozialen Strukturen wirken wie festgezurrt.
Dann, vor rund 10.000 Jahren der große Umschwung, alles geht plötzlich rasend schnell. Ackerbau, große Siedlungen, Königreiche, Tempel. Motor der Entwicklung sind neue Formen des Wirtschaftens, so die gängige Theorie.
Aber sie übersieht die entscheidende, die soziale Innovation, meint der Leipziger Sozial-Anthropologe Benjamin Grant Purzycki:
"In einer Stadt wie Berlin oder Leipzig begegnet man ständig vielen, vielen Leuten und verhält sich fair und kooperativ. Und das, obwohl man sie vielleicht nie wieder sieht. Das ist ein Problem für die Evolutionstheorie. Wie kann sich ein Lebewesen für andere anstrengen, wenn es nicht direkt etwas zurückbekommt?"
In den Kleingruppen der Jäger und Sammler ist sozialer Zusammenhalt einfach. Wer sich nicht benimmt, bekommt die Konsequenzen direkt zu spüren.
Leben in größeren Gemeinschaften erfordert dagegen eine anonyme Solidarität. Genau hier setzt ein radikal neuer Blick auf die Revolution in der Jungsteinzeit an.
Demnach ermöglichten erst neue Formen der Spiritualität ein anderes Zusammenleben. Entscheidend: der Wandel von den traditionellen Geistern und Ahnen der Jäger und Sammler, hin zu Großen Göttern, behauptet der kanadische Psychologe Ara Norezayan:
"Lange galten religiöse Traditionen als Produkt der komplexen Gesellschaften. Aber wir vermuten, dass es auch andersherum sein könnte. Dass der Glaube an diese mächtigen, an Moral interessierten Götter die Menschen zu einem sozialen Verhalten befähigte.
Und dass diese Gruppen dann andere Gruppen ohne solche Götter verdrängt haben. Das ist der Kern meiner Theorie."
Gibt es Spiritualität bei Schimpansen?
Treten wir einen Schritt zurück. Einen sehr, sehr weiten Schritt. Gibt es so etwas wie Spiritualität bei Schimpansen? Ganz klar Nein! Oder vielleicht doch?
Ein Schimpanse ruft erst laut, dann greift er einen großen Stein und donnert ihn gegen einen Baumstamm. Unter manchen Bäumen haben sich regelrechte Steinhaufen gebildet. Ammie Kalan:
"Das ist etwas ganz Einzigartiges im Tierreich, dass es da besondere Orte gibt, an denen Tiere Steinwerkzeuge anhäufen. Das kennen wir eigentlich nur aus rituellen Zusammenhängen bei vorgeschichtlichen menschlichen Gesellschaften. Wenn man da einen Steinhaufen ohne jedwede Verbindung zu Nahrung findet, dann denkt man, das hat etwas mit Kommunikation oder Symbolen zu tun."
In Blogs ist von einem "heiligen Baum" der Schimpansen die Rede. So weit will die Verhaltensforscherin Ammie Kalan vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig definitiv nicht gehen. Aber die Steinhaufen zeigen: Eine Schimpansengruppe kann einen Ort hervorheben.
Würde es hier nur um ein Spiel oder um Imponiergehabe gehen, dann sollten die Steine überall im Wald herumliegen. Aber sie finden sich eben nur an wenigen Stämmen, die für die Schimpansen ganz offensichtlich eine besondere Bedeutung haben. Benjamin Grant Pruzycki:
"Die Basis der Rituale ist evolutionär sehr alt. Nur sich vorzustellen, da gibt es einen Geist da draußen, der uns beachtet - ich denke, dafür braucht es einen Menschen."
Auch Benjamin Grant Pruzycki forscht am Leipziger Max-Planck-Institut. Er ist davon überzeugt: Spiritualität wurzelt tief in der Evolution.
Alle Tiere müssen Signale interpretieren. Es raschelt im Gebüsch - lieber weglaufen. Manche reagieren nicht nur, sie interpretieren: Wer hat geraschelt, ein Tiger? Der Krug ist umgefallen - wer hat ihn gestoßen, der Nachbar? Es blitzt - wer donnert und strahlt, ein höheres Wesen?
Abstrakt-menschengestaltige Skulpturen
"Wir fangen tatsächlich mit dem ersten Tageslicht an, weil es sehr heiß wird über den Tag, und dann geht es los, dass die Werkzeuge verteilt werden.", sagt Jens Notroff.
Er und seine Leute vom Deutschen Archäologischen Institut graben sich langsam immer weiter in den Steinzeit-Hügel. Die Knochenarbeit übernehmen Männer aus dem nahe gelegenen Dorf. Manche kennt Jens Notroff noch als Schulkinder:
"Was ich persönlich feststellen kann ist: dass zum einen natürlich durchaus ein gewisser Stolz da ist, dass eine inzwischen doch recht bekannte Grabung bei Ihnen vor der Haustür stattfindet. Die machen sich schon Gedanken darüber, was das für Leute waren, die diese Sachen gebaut haben."
Auf dem Göbekli Tepe selbst haben sie jedenfalls nicht gelebt. Wasser und Nahrung musste aus dem Tal herangeschleppt werden, ein Weg von ein paar Stunden. Trotzdem sind Menschen aus bis zu 200 Kilometern Entfernung hierher gewandert. Sie haben große, zehn Tonnen schwere Pfeiler aus dem Kalkstein des Berges gehauen und zu über 13 Steinkreisen zusammengestellt. In der Mitte jeweils zwei große Pfeiler, berichtet Jens Notroff:
"Und ganz interessant, die haben eben im Relief dargestellte Arme und Hände, einen Gürtel, von dem ein Lendenschurz herabhängt. Sind also tatsächlich als menschengestaltig anzusprechen."
Menschengestaltig auf eine sehr abstrakte Art. Der Kopf fehlt. Die Balken des T's, das könnten die Arme sein. Dabei haben die Menschen dieser Zeit schon ganz realistische Skulpturen hergestellt, man findet sie auch auf dem Göbekli Tepe.
Aber vielleicht weist ja gerade das Verfremdete hinaus über die Sphäre der Menschen. Für Oliver Dietrich, ebenfalls vom Deutschen Archäologischen Institut, spricht dafür auch die Anordnung: die beiden großen T-Pfeiler in der Mitte, umgeben vom Kreis der kleineren Pfeiler:
"Das wirkt also so wie eine steinerne Versammlung, wenn man so will. Und das deutet schon darauf hin, dass das eventuell, man möchte als Archäologe sich immer vorsichtig ausdrücken, aber dass das für die errichtenden Personen wichtige, möglicherweise übermenschliche Wesen sind, die dort dargestellt werden, sich dort versammeln und eben Dinge tun, die wichtig sind in der Vorstellungswelt dieser Menschen."
Der besondere Status von Göbekli Tepe lässt sich nur verstehen, wenn man sich löst von heutigen Religionen, und sich stattdessen ursprüngliche Formen von Spiritualität vergegenwärtigt.
Spiritualität der Nomaden-Völker richtet sich auf die Natur
"Also diese Vorstellung, die in den Weltreligionen so offensichtlich ist, dass Götter allwissend sind, mächtig, und dass sie großen Wert auf die Moral der Menschen legen, das hat sich offenbar erst entwickelt", meint Ara Norezayan, Psychologe vom Zentrum für Menschliche Evolution, Geist und Kultur der Universität in Vancouver.
"Die Hazda in Tansania zum Beispiel gehören zu den letzten Jägern und Sammlern. Sie glauben an Übernatürliches, an Geister. Aber ihre Götter scheint es nicht zu kümmern, ob sich die Menschen moralisch verhalten. Sie greifen nicht ein, bestrafen nicht."
Diese Art höherer Wesen prägt die spirituelle Welt vieler Nomaden-Völker. Benjamin Grant Pruzycki hat lange bei den Tuva gelebt, die mit ihren Herden durch das südliche Sibirien ziehen. Ihre Geister schützen wichtige Landmarken, Grenzen oder Wasserstellen:
"Sie legen Wert auf die richtigen Rituale, sie schützen die Ressourcen. Wollen nicht, dass man zu viele Rehe jagt, oder das Wasser verschmutzt. Sie sind so etwas wie Öko-Götter."
Natürlich versuchen sich die Tuva mit ihren Geistern gut zu stellen, beachten ihre Verbote, bringen Opfer. Ganz nebenbei erhalten sie so auch ihre Nahrungsgrundlage und vermeiden Grenzkonflikte.
Aber die Spiritualität der Tuva richtet sich vor allem auf die Natur, weniger auf die Gemeinschaft der Menschen. Wobei sich hier gerade etwas verschiebt. In Sibirien entwickelt sich Alkohol zu einer Bedrohung, berichtet Benjamin Grant Pruzycki:
"Diese traditionellen Geister fangen an, wegen des Alkoholismus besorgt zu sein. Hier reagiert die Religion auf eine soziale Frage. Denn der Glaube ist ein wichtiger Faktor, der die Menschen dazu bringt, Probleme zu lösen."
Die Tuva beginnen also zu glauben, dass sich ihre Götter auch für ihre Lebensführung interessieren. Was heute in Sibirien passiert, könnte ähnlich vor tausenden von Jahren in Anatolien geschehen sein, vermutet Ara Norezayan:
"Es scheint da eine langsame Steigerung der Glaubensvorstellungen zu geben. Steigt die Gruppengröße, dann werden die Götter immer moralischer, mächtiger und rachsüchtiger."
Der Glaube an "beobachtende Götter" macht kooperativer
Wenn die Götter moralsicher werden, dann werden es die Glaubenden auch. Das konnten Ara Norezayan und Benjamin Grant Purzycki in einer gemeinsamen Feldstudie zeigen. Jäger und Sammler, Bauern und Städter rund um die Welt wurden nach ihren Göttern gefragt. Danach sollten die Teilnehmer ein Spiel spielen, bei dem sie leicht schummeln konnten, um mehr Gewinn einzustreichen. Ara Norezayan:
"Und je mehr die Leute überzeugt waren, dass ihre Geister oder Götter ein Auge auf sie haben und dass sie Fehlverhalten auch bestrafen würden, desto kooperativer waren die Leute. Zumindest wenn ihre Mitspieler zur gleichen Gruppe gehörten."
Beobachtete Leute sind nette Leute, fasst Ara Norezayan das Ergebnis zusammen. Dabei ist es egal, ob tatsächlich jemand zuschaut, ein aufgemaltes Auge den Eindruck von Überwachung erweckt oder ein unsichtbarer Gott. Einzige Einschränkung: Die besonders Gläubigen waren im Experiment keineswegs bereit, anderen mehr als ihren Anteil zuzugestehen, sagt Benjamin Grant Purzycki:
"Ich würde das deshalb leicht umformulieren: Beobachtete Leute sind nicht unbedingt nette Leute, sie sind weniger gemein."
Ein gemeinsamer Glaube an einen moralischen Gott sorgt für ein Mindestmaß an Solidarität. Und erweitert Spielräume. Ara Norezayan:
"Es ist einfach, mit Menschen Handel zu treiben, die man kennt. Aber was ist mit Fremden aus einer anderen Weltregion? Da gilt dann Religiosität als Hinweis auf Vertrauenswürdigkeit."
Feiern haben wichtige Bedeutung
Jens Notroff: "Wenn man irgendetwas freilegt, von dem man weiß, dass das letzte Mal, als das jemand berührt oder gesehen hat, vor 10.000 oder 12.000 Jahren war, ja klar, das lässt einen nicht kalt."
Jens Notroff und seine Kollegen graben sich ins Innere des Hügels. Der ist kein Produkt der Verwitterung. Die Erbauer des Göbekli Tepe haben die Steinkreise irgendwann sorgfältig zugeschüttet, sozusagen begraben, vor allem mit Brocken aus dem nahen Steinbruch. Aber auch mit Tierknochen: Auerochse, Gazelle, Wildschwein. Ihre schiere Menge ist für Oliver Dietrich ein wichtiger Hinweis:
"Also das ist weitaus mehr Material, als man das aus Siedlungen kennt. Und das führt ganz schnell zu der Idee, dass dort an dem Platz große Feste stattgefunden haben. Also eine Gruppe, die den Plan hatte, so eine Anlage zu bauen, hat wahrscheinlich ein großes Fest ausgerichtet, zu dem dann aus der weiteren Umgebung Menschen kamen, die dort mitgeholfen haben."
Große Feste spielten im Leben von Jäger-Sammler-Gesellschaften zu allen Zeiten eine wichtige Rolle, meint Oliver Dietrich:
"Man schafft Verbindungen, auf die man zurückgreifen kann in Notsituationen. Dass dann eine Gruppe der anderen hilft, weil man weiß, die Gruppe hat vor X Jahren ein großes Fest gegeben, zu dem man eingeladen war, und das war alles ganz wunderbar und dann hilft man eben in dem Moment, wo denen zum Beispiel das Jagdwild ausgeht."
Die Menschen haben sich am gebauchten Berg wohl zu hunderten getroffen, um zu handeln, zu feiern, die Ahnen oder Götter zu ehren. Jens Notroff schildert, wie Ihre Kunstwerke davon erzählen:
"Also es gibt dieses eine Hochrelief, wo die Skulptur eines zähnefletschenden Raubtiers, einer Raubkatze dargestellt ist. Und ganz spannend zu deren Füßen liegt, im Flachrelief allerdings dargestellt, ein Wildschwein mit von sich gestreckten Beinen.
Also dieses Spiel zwischen zum einen Hochrelief und Flachrelief aber auch der Zusammenhang zwischen offensichtlich Jäger und wahrscheinlich erlegter Beute ist schon ganz beeindruckend."
Auf dem Göbekli Tepe wird es langsam Abend, im schrägen Licht der Sonne treten die vielfältigen Verzierungen an den T-Pfeilern hervor. Viel häufiger als Raubkatzen sieht Jens Notroff darauf Schlangen, Skorpione, Spinnen. In der Dämmerung kann da schon Gruseln aufkommen:
"Ich sage jetzt nicht, dass die für diese prähistorischen Menschen ähnliche Empfindungen ausgelöst haben, wie das bei uns der Fall ist. Aber es fällt schon auf, dass ein deutlicher Schwerpunkt auf solchen Tieren ist, die wir mit einem gewissen Symbolgehalt aufladen würden."
Jeder Steinkreis ist durch andere Tierarten geprägt. Jens Northoff kann sich vorstellen, dass es die Totemtiere einer Gruppe waren, auch wenn das vorerst Spekulation bleiben muss.
Göbekli Tepe in einer Gemeinschaftsanstrengung errichtet
Überhaupt sind die Anlagen auf dem Göbekli Tepe zwar in einer riesigen Gemeinschaftsanstrengung errichtet worden, aber sie waren sicher nicht für die ganze Gemeinschaft gedacht. Die Steinkreise bieten bei aller Monumentalität wenig Platz.
"Das heißt, das darf man sich wahrscheinlich nicht so vorstellen wie eine Kirche, wo jetzt jeder rein geht oder so", meint Oliver Dietrich. "Sondern das sind Plätze, wo möglicherweise religiöse Spezialisten etwas tun, die ein bestimmtes Wissen besitzen, was nicht jeder in der Gruppe, der Gesellschaft hat."
Spezialisierung, vielleicht das Erfolgsrezept menschlicher Gesellschaften. Am gebauchten Berg, davon ist Oliver Dietrich überzeugt, begann diese Entwicklung:
"Am Göbekli Tepe muss man eigentlich von dieser Vorstellung egalitäre Jäger und Sammler Abschied nehmen, das ist dort mit ziemlicher Sicherheit nicht der Fall, weil das ein erhebliches Organisationstalent und Organisationsaufkommen benötigt, so einen Bau umzusetzen und auch um diese schon angesprochenen Feste zu organisieren. Diese Planung muss schon von einzelnen Personen in die Hand genommen worden sein. Also egalitär ist das nicht."
Ara Norezayan: "Der Göbekli Tepe ist ein extrem interessanter und wichtiger Fundort, weil er so alt ist. Das sind monumentale Bauten, Menschen aus ganz Anatolien kamen dort zusammen, um ihre Götter oder Geister zu verehren. Und das, bevor es ein komplexes Sozialgefüge oder Landwirtschaft gab."
Brauchen neue Zeiten neue Götter? Das ist die These des Psychologen Ara Norezayan. Erst der Glaube an mächtige, an Moral interessierte Götter habe die Menschen zu sozialem Mitander größeren Ausmaßes befähigt. Erst dann konnten sie sesshaft werden und Städte bauen.
Der Göbekli Tepe ist nicht der einzige Fundort, der diese Theorie stützt. Eine parallele Entwicklung hat sich vor 3000 Jahren wohl auch in Guatemala abgespielt.
Ceibal galt als Maya-Metropole - ist aber viel älter
Vor über hundert Jahren arbeiteten sich Holzfäller durch das schwüle Tiefland am Ufer des Pasión - als plötzlich zwischen Urwaldriesen Ruinen auftauchten: steinerne Plattformen, Pyramiden und Tempel. Forschungen in den Sechzigern beschrieben Ceibal als Maya-Metropole, die sich über zig Quadratkilometer ausdehnte und an die zehntausend Einwohner zählte. Reiche Farmer sollten sie gegründet haben.
Doch nun zeichnen neue Ausgrabungen ein anderes Bild: Die ersten Tempelanlagen sind viel älter. Sie wurden von mobilen Gruppen von Jägern, Sammlern und Fischern errichtet, um bei großen Festen ihre Götter zu ehren.
Erst sechshundert Jahre später etablierte sich rund um die Tempel eine feste Stadt.
Göbekli Tepe und Ceibal - zwei beeindruckende Funde, die Hinweise geben, die bislang aber isoliert dastehen. Es braucht weitere Befunde. Russel Gray sucht sie in "Pulotu":
"Pulotu, das heißt auf Samoa "Wohnsitz der Götter". Im Pazifik gibt es eine wundervolle Vielfalt von religiösen Vorstellungen und sozialen Organisationsformen. Der Pazifik ist ein natürliches Laboratorium."
Welche Stämme opferten welchen Göttern? In der Datenbank Pulotu sammelt Russel Gray vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena historische und aktuelle völkerkundliche Berichte und fahndet darin nach Mustern.
In der kleinen Gemeinschaft der Canamotu hatte der größte Esser die größte Macht. In Tonga gab es nicht nur Häuptlinge, sondern einen Häuptling der Häuptlinge und auf Hawaii einen durchorganisierten Staat mit einem König.
Einige Völker verehrten Naturgeister, andere ihre Ahnen. Den einen Schöpfergott, der über allen andern thront - den sucht man im Pazifik vergeblich. Dafür existiert, wieder auf Hawaii, ein ganzer Götterhimmel.
Anhand des Stammbaums der pazifischen Sprachen konnte Gray rekonstruieren, wann sich welche Gesellschaft und welche religiöse Vorstellung entwickelten:
"Wir haben verglichen: Wo gibt es große, mächtige Götter und wo eine komplexe Sozialstruktur? Es stellte sich heraus: Die Gesellschaften wurden zunächst groß und erst viel später haben sie die Vorstellung eines großen Gottes entwickelt. Häufig erst nach dem Kontakt mit muslimischen Händlern. Deshalb glaube ich, die These von der besonderen Bedeutung der mächtigen Götter ist falsch, zumindest in manchen Regionen der Welt."
Im Pazifik gibt es kaum mächtige Götter. Aber auf Größe und Machtfülle kommt es gar nicht an, auch das hat Russel Gray herausgefunden.
Moralischer Glaube entsteht karger Umwelt
Entscheidend ist, dass höhere Wesen sich für das Verhalten der Menschen interessieren. Wo Geister und Ahnen Kooperation belohnen, unterstützen sie den Aufbau komplexer Gesellschaften. Tatsächlich hat Russel Gray die These von Ara Norezayan nicht widerlegt sondern geschärft, sagt Letzterer:
"Man braucht also nicht einen einzigen Großen Gott, aber eine moralische Instanz. Das kann ich mit meiner Theorie vereinbaren. Wenn es viele Geister gibt, die moralische Fehler bestrafen, dann hat das doch die gleichen Effekte auf der sozialen Ebene."
Doch warum legen Geister und Götter plötzlich Wert auf Moral? Evolutionsbiologe Russel Gray hat Daten zu Glaubensüberzeugungen auf der ganzen Welt gesammelt und sie mit einer Vielzahl denkbarer Einflussfaktoren verglichen:
"Es ist verblüffend. Etwas so Komplexes, etwas so Kulturelles, wie der Glaube an einen Großen Gott lässt sich mit einer Sicherheit von 91 Prozent vorhersagen.
Die Leute glauben, Kultur sei so seltsam und wunderbar, dass es keine Regeln gibt. Aber es gibt eben doch große Regelmäßigkeiten und sie gehen zu einem guten Teil zurück auf die Umstände, unter denen wir leben."
Grays Formel besagt: Immer dann, wenn die Umwelt nur ein mageres Auskommen bietet und Ernte- oder Jagderfolg unsicher sind, entsteht ein moralischer Glaube. Befördert wird er zusätzlich durch Privateigentum.
Und er geht einher mit komplexen Gesellschaftsstrukturen. Der moralische Glaube steht aber auch für Konflikt und Konfrontation. Ara Norezayan:
"Es gibt diese dunkle Seite der Religion. Für mich sind das zwei Seiten derselben Medaille. Wenn Sie den Eindruck haben, ihre Gruppe wird angegriffen, ganz gleich ob das stimmt, oder nicht, dann kann diese Tendenz zur Kooperation giftig werden und sich gegen andere Gruppen richten."
Im Grunde passt diese Doppelbödigkeit der Religion gut zur evolutionären Perspektive, die Ara Norezayan und Russell Gray teilen. Es gibt einen Wettstreit nicht nur zwischen Individuen, sondern auch unter Gruppen. Wer immer kooperiert, wird verdrängt. Wer aber mit seinem Nächsten gegen andere kooperiert, setzt sich durch.
Ein moralischer Glaube war entscheidend, um den Zivilisationsprozess anzustoßen. Heute aber kann eine Gesellschaft auch ohne einen gemeinsamen Glauben funktionieren, meint Ara Norezayan:
"Irgendwie haben es die Leute geschafft, Organisationen abseits der Religion zu entwickeln. Gerichte, Verträge, Gesetze. Je besser die funktionieren, desto weniger nutzen die Menschen religiöse Institutionen, um ihr Gemeinschaftsleben zu organisieren. Man könnte sagen, Religion und Regierung sind austauschbar."
Göbekli Tepe ein Symbol des Aufbruchs
Jens Notroff: "Als Archäologe muss man immer vorsichtig sein, wenn man mit Begriffen wie Religion oder Tempel und so weiter hantiert. Für Religion brauchen wir einfach ganz bestimmte Kriterien. Die mögen im Falle des Göbekli Tepe erfüllt sein. Nur wissen wir es nicht, weil die Leute natürlich nichts aufgeschrieben haben."
Über viele hundert Jahre sind in Südanatolien Menschen zusammengekommen, haben gefeiert, gehandelt und Kreise aus großen Steinpfeilern errichtet. Kopflose Kolosse, über deren Bedeutung der Archäologe Jens Notroff nichts sagen darf, die ihn als Mensch gleichwohl direkt ansprechen:
"Das ist schon eine ganz andere Ebene, das möchte ich gar nicht abstreiten. Ich persönlich könnte mich gut damit arrangieren, hier von Spiritualität zu sprechen, klar."
Der Göbekli Tepe ist ein besonderer Ort abseits des Alltags. Er liegt isoliert auf diesem kahlen Berg, fern der üppigen Wälder und Flussauen. Gerade weil hier regelmäßig viele hundert Menschen zusammenkamen, könnte er aber auch ganz praktisch ausgestrahlt haben in die weite Landschaft. Er liegt am Rand des fruchtbaren Halbmonds, hier wachsen noch heute Wildgetreide, die Urahnen vieler Nutzpflanzen. Oliver Dietrich:
"Der Göbekli Tepe liegt in einem Kernraum dieser Domestizierungsvorgänge. Also man lernt mehr über die Natur, man stellt zum Beispiel fest, wenn in einem Jahr an einer bestimmten Stelle jetzt diese bestimmten Wildgetreidesorten gewachsen sind, ich sammle die und ich lasse ein bisschen davon liegen, dann kommen die im nächsten Jahr wieder, von alleine.
Das heißt es könnte sein, dass solche religiösen oder mit dem Glauben verbundenen Plätze wie der Göbekli Tepe einer der Motoren dieser Entwicklung sind tatsächlich. Das ist etwas, was dann langfristig zu dem großen Wandel führt, in der Menschheitsgeschichte."
Der Göbekli Tepe ist ein Symbol des Aufbruchs. Nach Jahrzehntausenden des Jäger-Sammler-Daseins haben einige Menschengruppen mehr gewollt, mehr gespürt. Ihr gemeinsamer Glaube hat sie zu diesem Ort geführt.
Gemeinsam haben sie die monumentalen T-Pfeiler errichtet, vielleicht ihre Götter. In den größeren Gruppen konnten sie letztlich auch Größeres erreichen, den ersten Schritt hin zum Ackerbau, zur Viehzucht.
Welche Rolle der Glaube bei dieser Zeitenwende gespielt hat, das kann niemand mit letzter Sicherheit sagen. Aber auf dem Göbekli Tepe kann man sich die steinernen Überreste ansehen und eigene Schlüsse ziehen:
"Ich würde jederzeit zustimmen, dass das übermenschliche Wesen sind, ob man sie als Götter bezeichnen muss, weiß ich nicht. Der Grundgedanke ist aber sicherlich richtig, dass der Glaube in diesem Fall wirklich Berge bewegt und dass das eine der Voraussetzungen dazu ist, dass Menschen ihre Lebensweise ändern."
Es sprachen: Frauke Pohlmann
Regie: Axel Scheibchen
Redaktion Christiane Knoll
Online: Felix von Massenbach / Nina Carbonetti
Produktion: Deutschlandfunk 2016
Regie: Axel Scheibchen
Redaktion Christiane Knoll
Online: Felix von Massenbach / Nina Carbonetti
Produktion: Deutschlandfunk 2016