Berlin um 1925: Das Wilhelminische Reich war Vergangenheit. Alles war neu, die Musik, der Lebensstil, die Kunst. Die Bildhauerin Renée Sintenis befand sich auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, sie genoss ihren Erfolg und ihre Unabhängigkeit.
Damals war sie Mitte 30, fuhr ihr eigenes Auto, ritt morgens im Tiergarten aus und frühstückte anschließend im Romanischen Café. Ihre Kleinplastiken waren gefragt, vielleicht gerade, weil ihre Fohlen, Lämmer und Rehkitze keinen allzu radikalen Bruch mit dem bisherigen Geschmack bedeuteten. Was wirklich auffiel, war ihre Person. Der französische Dichter Philippe Soupault:
"Als ich eines Tages bei Flechtheim in Berlin einige Statuetten betrachtete, sah ich eine sehr große Frau eintreten, ohne Aura würde ich sagen, aber sehr jung, sehr geerdet. Viele sahen ihr nach. Aus ihren Augen lächelte Genugtuung, doch ihr Blick war stark und sanft wie ein Likör."
Sportlerfiguren von eleganter Dynamik
Der Galerist Alfred Flechtheim, der wichtigste Impresario der Moderne, vermittelte Renée Sintenis Werke nach Rotterdam, Wien, London und sogar nach New York. Ihre von Leben durchpulsten Tierskulpturen stellten die üblichen idealisierten Darstellungen in den Schatten, die elegante Dynamik ihrer Sportlerfiguren traf den Nerv der Zeit, von nahezu antikischer Klassizität empfand man ihre Selbstbildnisse: Sie hatten für den Start ihrer Karriere gesorgt.
Der Dichter Rainer Maria Rilke war schon 1915 von ihrer ersten Maske so hingerissen gewesen, dass er der jungen Frau die Teilnahme an einer Ausstellung der Berliner Secession vermittelte. In jener Zeit hielt sich Sintenis nur mit Mühe über Wasser, wohnte bei Freunden, stand bei Georg Kolbe Modell. Ihre Ausbildung an der Kunstgewerbeschule hatte sie nach drei Jahren abbrechen müssen. Ihr Vater hatte bestimmt, sie sollte als Bürokraft in seine Kanzlei eintreten.
Doch dieses Leben ertrug sie nicht, sie brach mit der Familie und tauschte ihren bürgerlichen Namen Renate Alice gegen das androgyne Renée. Knabenhaft schmal sind auch ihre weiblichen Aktfiguren, etwa die "Daphne", die 1917 entstand.
Ursel Berger: "Ich find es vor allem deshalb als Selbstinterpretation, weil sie eine Frau zeigt, die sich entzieht. Daphne entzieht sich den Nachstellungen Apolls, in dem sie sich in einen Baum verwandelt."
Die Kunsthistorikerin Ursel Berger über eine der bedeutendsten Plastiken von Renée Sintenis. In jenem Jahr hatte die Künstlerin den Maler und Schriftgestalter Emil Rudolf Weiss geheiratet. Sie war nicht nur eines seiner bevorzugten Modelle, er bestärkte sie auch in ihrem Werk.
"Ein selbstverständliches Müssen"
Renée Sintenis: "Ich habe selber nie gewusst, ob ich viel oder wenig oder ob ich überhaupt etwas Besonderes kann. Ich glaube es nur, weil die anderen es mir stets von Neuem sagen und ich am Erfolg die Wirkung merke. Mir ist mein Schaffen nichts anderes als ein selbstverständliches Müssen."
Äußerte Renée Sintenis 1931. Eine bemerkenswerte Aussage für eine 43-Jährige, die gerade als zweite Künstlerin überhaupt zum Mitglied der Preußischen Akademie der Künste berufen wurde. Ihr Ruhm war einfach da, sie hatte ihn nicht angestrebt. Indem sie ihrem ureigensten Impuls folgte, schuf sie Einzigartiges.
Rückzug in der NS-Zeit
Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten sank ihr Stern. Sie zog sich zurück, illustrierte Bücher, modellierte Porträts und Selbstbildnisse. Aus dem Antlitz einer jungen Göttin war die Maske einer tragischen Gestalt geworden. Renée Sintenis: "Jede Macht korrumpiert. Der geistige Mensch muss deshalb immer in der Opposition leben."
Ohne Zweifel litt sie unter der geistigen Enge während der NS-Zeit. Bei einem der letzten Bombenangriffe auf Berlin büßte sie ihre komplette Habe ein. Später, in der Zeit des Wiederaufbaus, erinnerte man sich an den Star aus den Zwanzigern und überhäufte sie mit Ehrungen. Ihre Skulpturen junger, nicht zu domestizierender Tiere erschienen nun wie Sinnbilder einer niemals versiegenden Vitalität. So erhielt sie 1956 den Auftrag für die Gestaltung des Berliner Bären, der unter anderem als Berlinale-Preis weltberühmt werden sollte.
Doch überarbeitete sie nur eine Skulptur, die sie bereits 1932 geschaffen hatte. Sie war krank und müde. Es schien sie nichts mehr anzugehen. Renée Sintenis lebte zurückgezogen in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung, wo sie am 22. April 1965 starb.