Jörg Münchenberg: Was heißt nun diese vermeintliche Schlaraffenland-Prognose für die nächste Bundesregierung? Ist damit der Finanzminister der attraktivste Job in der neuen Regierung? Das habe ich kurz vor der Sendung Michael Hüther gefragt. Er ist Direktor des wirtschaftsnahen Instituts der Deutschen Wirtschaft.
Michael Hüther: Ja. Der Finanzminister, der sich bewegen kann zwischen einer Haushaltssanierung und gleichzeitig einer Investitionspolitik, das ist schon in der Tat spannend. Und sie haben es angesprochen: Es ist in der Tat so ein bisschen wie Schlaraffenland, denn die Geschichte beginnt ja nicht erst mit der Prognose, sondern wir schauen eigentlich seit Mitte 2013 auf eine Entwicklung, die fast wie am Lineal entlangläuft. Wir haben eine gesamtwirtschaftliche Bewegung nach vorne in einer hohen Stabilität und parallel dazu einen hohen Beschäftigungsaufbau. Das ist auch verglichen mit den Phasen, die die Bundesrepublik seit ihrer Entstehung gehabt hat, schon beachtlich. Das sollte man auch immer mal wieder in Erinnerung rufen. Insofern gibt es im Augenblick – und ich teile das durchaus – nicht wirklich greifbare Risiken, die das in Frage stellen, aber es ist eigentlich nicht selbstverständlich. Es ist wie am Lineal.
"Wir werden deutlich einen Alterungsprozess erleben"
Münchenberg: Würden Sie denn sagen, das Regieren wird jetzt oder ist damit einfacher, oder ist es schwieriger, weil die Versuchung viel größer ist, dass man dann doch das eigene Klientel bedient?
Hüther: Wir haben es ja schon vor vier Jahren erlebt. Auch dort hat man ja sehr eigenartige Koalitionsverhandlungen geführt, indem man einfach alle Wünsche oben draufgelegt hat und von beiden Seiten dann einen Haken dahinter, und dann hat es viel gekostet beispielsweise in der Rentenversicherung. Das ist in der Tat eine Gefahr, denn der demografische Wandel bleibt ja trotz dieser gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nicht stehen. Wir werden deutlich einen Alterungsprozess erleben, auch wenn die Schrumpfung nicht so früh einsetzt, wie zunächst erwartet – heißt aber, wir müssen Vorsorge treffen. Und das in einer solchen Phase zu tun, ist dann noch besonders erklärungsbedürftig. Wir haben ja auch im Grunde immer wieder erlebt, dass richtig durchgreifende Reformen, die dann auch ein Stück nach vorne weisen, gemacht werden, wenn man ein bisschen mit dem Rücken an der Wand steht. Wenn man mitten im Raum herumtanzt, dann wird es ein bisschen schwierig, manchmal die Orientierung zu gewinnen, und das ist die eigentliche Herausforderung bei dieser Regierungsbildung.
"Eine Investitionsstrategie für vier Jahre auflegen"
Münchenberg: Sie haben faktisch die politischen Prioritäten angesprochen. Da gibt es ja ein ganz breites Band. Es gibt die Infrastruktur, die marode ist bei den Schulen. Es gibt den Bedarf beim Breitbandausbau. Da ist der Finanzbedarf auch riesig. Gleichzeitig haben Sie auch schon angedeutet, die Gesellschaft wird immer älter. Wo sollte die Politik, die Jamaika-Koalition, wenn sie denn kommt, Ihrer Meinung nach ihre Prioritäten setzen?
Hüther: Die Prioritäten sollte sie dort setzen, wo sie automatisch etwas Verbindendes hat. Sie haben das Stichwort Digitalisierung genannt. Wenn man das ein bisschen breiter fasst, eine moderne Infrastruktur, und da jetzt gemeinsam wirklich nach vorne zu gehen – wir haben in den letzten vier Jahren nicht erreicht, was versprochen worden ist beispielsweise beim Breitbandausbau. Hier eine Investitionsstrategie für vier Jahre aufzulegen, da muss man Geld in die Hand nehmen, da muss man auch überlegen, dass man aus diesen Überschüssen und aus der guten Finanzlage Dinge umsteuert in die Investitionen. Das hat zu tun mit dem Thema Straße, mit dem Thema Bahn, das Energienetz und die Digitalstruktur. Das ist doch ein Thema, wo auch alle Parteien sich hinter versammeln können.
Das Gleiche gilt ja irgendwie auch beim demografischen Wandel. Die Parteien, die sich da jetzt möglicherweise zusammenfinden, haben doch auf dieses Problem eigentlich eine ähnliche Sicht. Wir müssen damit verantwortlich umgehen und es ist auch kein Schreckszenario, denn wir werden ja gesünder ins hohe Alter gehen, als das frühere Generationen getan haben, und insofern sind die Potenziale für Beschäftigungsfähigkeit, für unterschiedliche Arbeitszeitmuster, also für flexible Formen, für Experimente auch da. Auch das wäre so eine Überschrift zu sagen, lasst uns experimentieren. Gebt den Unternehmen und gebt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerinnen zusammen mit den Arbeitgebern Freiräume zum Experimentieren in dieser sich verändernden Arbeitswelt. Auch das wäre so ein Projekt, hinter dem man sich versammeln kann. Und die Frage der Bildung ist ja letztlich auch von allen gleichermaßen betrachtet. Das sind ja die Überschriften, die ein Modernisierungsprogramm beschreiben, und wenn man ein bisschen ambitionierter ist als die letzte Regierung, kann da auch was draus werden.
"Nicht klug, die Rente mit 70 kategorisch auszuschließen"
Münchenberg: Aber muss man nicht da doch eher ziemlich skeptisch sein, wenn man jetzt zum Beispiel die CDU, die Union gehört hat? Im Vorfeld hat man ja auch gesagt, es wird keine Rente mit 70 geben, die soll es nicht geben. Auch will man die ganze Debatte erst mal in eine Arbeitsgruppe verlagern und dann schauen, was müsste denn nach 2030 passieren. Allzu hoffnungsvoll, dass jetzt man das wirklich anpackt, klingt das doch alles eher nicht.
Hüther: Na ja, es hat ja auch keiner vielleicht wirklich erwartet, dass man jetzt in dieser Konstellation verhandeln muss, und da liegt ja, wie ich von außen sagen würde, auch ein gewisser Charme drin, dass man zu neuen Lösungen kommt und man auch die Dinge ein bisschen dahinter lässt, die bisher vielleicht blockiert haben. Und es war sicherlich nicht klug, dass die Bundeskanzlerin die Rente mit 70 so kategorisch ausgeschlossen hat. Sie wird keine ernsthafte Beteiligung in einer Rentenreform-Kommission aus der Wissenschaft finden, wenn sie das vorab ausschließt. Dann bleibt man ja in einem Lösungsraum, der unbefriedigend ist. Da muss man jetzt mal über den Schatten springen. Vor allen Dingen muss man von vornherein auch die Dinge inhaltlich in Perspektiven einbauen. Ich glaube, es geht nicht, dass da nur Arbeitsgruppen verhandeln und am Ende gucken die Parteiführer darüber. Die müssen mal selbst mit in die Gummistiefel einsteigen und durch den Matsch waten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.