"Politik und Religion grenzen Menschen aus. Essen aber verbindet sie und bringt die unterschiedlichsten Leute zusammen. Im libanesischen Bürgerkrieg hat man sich aus nichtigen religiösen und politischen Gründen umgebracht. Deshalb lautet unser Motto: Essen statt Krieg!"
Rue Naher im Stadtteil Mar Mikhael: Hier, zwischen Downtown Beirut und Corniche, stehen Moscheen neben Klöstern, fahren Ferraris an bettelnden syrischen Flüchtlingskindern vorbei, sieht man durchlöcherte Häuserfassaden aus der Kriegszeit neben modernen Neubauten. "Hi, kifak, ça va?", auf der Straße ist ein Sprachenmix zu hören aus Englisch, Arabisch und Französisch. Von wegen nur Reisewarnung und Regierungskrise: Vor allem die Generation von Kamal Mouzawak hat vom Bürgerkrieg die Nase voll. Der 48-jährige, großgewachsene Entrepreneur, NGO-Gründer und Restaurantbesitzer ist so etwas wie ein Friedensaktivist. Er selbst würde das so nicht formulieren, wenn es um Tawlet geht, das mehr ist als nur ein Gaumentempel:
"Tawlet bedeutet Tisch. Und genau darum geht es: gemeinsam am Küchentisch zu sitzen und zu essen wie bei Muttern. Jeden Tag kommt eine andere Frau und kocht die typischen Gerichte ihres Dorfes oder ihrer Stadt. Hier arbeiten keine professionellen Köchinnen, die eine ausgeklügelte Molekularküche anbieten. Bei uns im Restaurant ist alles bodenständig, wird mit Herz und Persönlichkeit zubereitet. Denn nichts spricht uns mehr an als unsere Esskultur."
Kochen, um Barrieren zu überwinden
Sechsmal pro Woche kocht eine von 50 Frauen aus einer anderen Region des Landes: darunter vor allem Libanesinnen, aber auch Palästinenserinnen, Syrerinnen - Flüchtlingsfrauen. In einem Land, das sich über Jahrzehnte hinweg an ethnischen und religiösen Fronten bekämpft hat, ist Kochen und Essen ein erster Schritt, die Barrieren zu überwinden - "Barrieren, die auch in Friedenszeiten noch in den Köpfen sitzen", sagt Mouzawak.
Der Sohn eines Bauern und Mitbegründer der internationalen Slow Food Bewegung sitzt an einem langen Holztisch, der das ganze Restaurant durchzieht. Sein wellige Haar ist ebenso graumeliert und wie der kleine Oberlippenbart. Schnell und gestenreich redet da einer, der von seiner Idee überzeugt ist; einer, der energisch auf jede Frage antwortet, stets freundlich und selbstbewusst, im blauen Jeanshemd.
Kulinarische Traditionen erhalten
Heute arbeitet Fadia Chaptini in der offenen Küche. Die Mutter zweier Kinder kommt aus der Nähe von Tripoli im Norden des Libanon.
"Ich bin Hausfrau, und Kochen ist mein Hobby. Heute gibt es ein typisches Gericht aus Tripoli. Es ist ein sehr altes Gericht, das kaum jemand noch kennt. Die Leute nehmen sich ja keine Zeit mehr für das Kochen: Ihr Terminkalender ist voll, also essen sie Fastfood: Hamburger oder Sushi. Trotzdem sitzen viele vor dem Fernseher, gucken diese Kochshows und notieren sich die Rezepte. Aber dann lassen sie alles liegen und verstecken die Rezepte in einem Kochbuch."
Es gehe ihr nicht ums Geld, sagt Fadia Chaptini, sondern darum, um Traditionen zu erhalten, denn die libanesische Küche sei eine der besten der Welt. Stolz klingt aus ihrer Stimme, und sie ergänzt: Das Tawlet sei wie ihre Familie - nur etwas größer mit mehr Gästen. Warum nur Frauen im Restaurant kochen, dafür hat Kamal Mouzawak eine einfache Erklärung.
"Männer mögen es, aus dem Kochen eine Show zu machen. Bei Frauen ist das anders, sie sind so geschickt und intelligent, ihre Familie jeden Tag aufs Neue mit Essen zu versorgen. Heute ist es kinderleicht in ein Restaurant zu gehen und sich von einem Küchenchef verwöhnen zu lassen. Aber wir vergessen dabei die Bedeutung der bürgerlichen Küche oder der Hausmannskost im besten Sinne. Diese Dimension des Essens wollen wir wieder aufleben lassen."
Nach dem Ende des Bürgerkriegs zwischen Muslimen und Christen 1990 arbeitete Kamal in einer Kultureinrichtung. Leute, die sich zuvor wegen politischer und religiöser Differenzen umgebracht hätten, seien hierher gekommen, um gemeinsam Lesungen anzuhören oder Ausstellungen anzusehen. Da habe er verstanden, wie wichtig es sei, sich auf Gemeinsamkeiten zu besinnen. Und was würde mehr verbinden als Essen? Fragt Mouzawak und bestreitet energisch, ein Idealist zu sein - im Gegenteil:
"Ich bin Realist! Die Realität ist das Maß aller Dinge. Wenn ich von etwas überzeugt bin, dann versuche ich es umzusetzen. Idealismus ist großartig, aber es ist nur eine Idee. Man muss seine Ideen auch umsetzen, selbst wenn am Ende nichts Perfektes dabei herauskommt. Ich wäge die Vor- und Nachteile eines Projektes ab, und wenn ich sehe, dass es mehr Positives gibt, dann werde ich es auf alle Fälle umsetzen."
Trainingsprogramm für syrische Flüchtlingsfrauen
Dazu gehört auch der "Migrant Workers' Day", an dem Arbeiter aus Äthiopien, Nepal, Sri Lanka und dem Sudan den Libanesen ihre Heimatküche näherbringen sollen. Außerdem hat Mouzawak unter dem Namen "Köstliche Vergangenheit" ein Trainingsprogramm für syrische Flüchtlingsfrauen ins Leben gerufen: Sie kochen die Gerichte und verdienen damit Geld, das ihre Familien zum Leben dringend benötigen. Unterstützt wird das Projekt unter anderem vom UNHCR, dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen.
Im Restaurant riecht es nach Spicy Hummus, wildem Thymian, Sumach und Sesam. Draußen, auf der Rue Naher, vor dem Lokal surfen Kinder mit ihren Skateboards, während die Eltern in Cafés sitzen, an ihren Smartphones hantieren oder die Läden internationaler Marken wie Zara, Dior und Chanel besuchen. Autofahrer hupen leidenschaftlich, ausländische Hilfskräfte säubern derweil die Bürgersteige. Eine Fahrraddemo gegen den nicht zu bändigen Verkehr ist unterwegs, asiatische Kindermädchen laufen auf den Bürgersteigen, auf den Balkonen darüber wird gegrillt. Die Verfassung des Libanon erkennt 18 Glaubengemeinschaften an. Von der einen Seite ruft der Muezzin, aus der anderen Ecke erklingen Kirchenglocken.