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Ringen um den Status von Katalonien
"Von beiden Seiten eine halsstarrige Haltung"

Der deutsch-spanische Historiker Carlos Collado Seidel hat einen sogenannten Opferdiskurs der katalanischen Separatisten kritisiert. Die Unabhängigkeitserklärung sei ein Höhepunkt davon. "Die katalanische Identität wird nicht unterdrückt", sagte Seidel im Dlf.

Carlos Collado Seidel im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Das Bild zeigt den deutsch-spanischen Historiker und Autor Carlos Collado Seidel auf dem 15. Internationalen Symposium der Stiftung Ettersberg.
    Historiker Carlos Collado Seidel: Riss durch die Gesellschaft (imago stock&people)
    Dirk-Oliver Heckmann: Die ganz große Eskalation ist ausgeblieben in Katalonien, bisher jedenfalls. Aber da dürfte noch nicht das letzte Wort gesprochen sein. Der Stand ist ja bekanntlich wie folgt: Nachdem am Donnerstag das katalanische Regionalparlament für die Unabhängigkeit stimmte, setzte die spanische Zentralregierung die katalanische Regionalregierung ab und setzte sich an ihre Stelle. Auch der Polizeichef wurde ausgetauscht. Carles Puigdemont hielt sich am Wochenende in Girona auf, seiner Heimatstadt, in der er Bürgermeister gewesen ist und die als Hochburg des Separatismus gilt. Ihm droht weiter die Verhaftung und bis zu 30 Jahre Haft wegen Rebellion.
    Am Telefon ist jetzt Carlos Collado Seidel. Er ist Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Marburg. Außerdem ist er Generalsekretär der Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland. Schönen guten Morgen!
    Carlos Collado Seidel: Einen schönen guten Morgen.
    Heckmann: Sie sind ja Experte für spanische Geschichte. Wie wird Carles Puigdemont aus Ihrer Sicht in die Annalen eingehen, als Nationalheld, als Verräter oder als unglückliche Figur, der die Katalanen in den Abgrund geführt hat?
    Opferdiskurs der katalanischen Nationalisten
    Collado Seidel: Ja gut, das wird die Geschichte zeigen. Das heißt, der weitere Verlauf der Entwicklung. Aber jedenfalls reiht sich natürlich dieses Ereignis, das, was wir jetzt in den letzten Wochen erlebt haben, ein Stück weit ein in diesen, ich würde ihn mal Opferdiskurs der katalanischen Nationalisten nennen, also immer sich unterdrückt zu fühlen durch den spanischen Zentralstaat. Was wir jetzt erlebt haben, ist sicherlich ein Höhepunkt in dieser Reihe gewesen, die weit in die Geschichte zurückreicht, bis ins 19. Jahrhundert.
    Heckmann: Ein Opferdiskurs. Ein berechtigter Opferdiskurs aus Ihrer Sicht?
    Collado Seidel: Dieser Opferdiskurs ist aus meiner Perspektive, was zumindest jetzt die letzten 40 Jahre anbelangt, also die Zeit in der Demokratie, nicht berechtigt. Hier kann man nicht davon sprechen, dass die katalanische Identität unterdrückt worden wäre. Etwas anderes sind möglicherweise berechtigte Forderungen politischer Natur, die in einem Aushandlungsprozess mit dem Zentralstaat, mit der Regierung angegangen werden könnten und müssten.
    Heckmann: Wir haben die Bilder gesehen, Herr Collado Seidel, zehntausende Katalanen. Hunderttausende haben die Unabhängigkeit gefeiert, obwohl sie wussten, was kommen würde, dass nämlich Madrid die Autonomie entziehen würde. Aus Europa kam wie angekündigt keine Unterstützung und auch eine Aufnahme Kataloniens, sollte es unabhängig sein, in die EU ist ganz klar ausgeschlossen. Über tausend Firmen haben bereits ihren Sitz verlegt, weg von Katalonien. Können Sie nachvollziehen, dass das vielen Katalanen offenbar völlig egal ist?
    "Man hat sich verrannt"
    Collado Seidel: Ja, also, nachvollziehen… Man hat sich letztlich verrannt. Man ist auf einen Zug aufgesprungen. Das ist eine kognitive Dissonanz. Als so was muss man das erklären. Man hat gesehen, dass man auf einen Abgrund zusteuert. Dennoch waren die Emotionen so präsent, sie sind so hochgekocht, dass man offenbar sich nicht in der Lage fühlte, nun hier von dem eingeschlagenen Weg abzuweichen. Aber es zeigt sich jetzt, gerade was jetzt am Wochenende gewesen ist, eine offensichtliche Ratlosigkeit. Das Ziel der Unabhängigkeit ist zumindest in der Erklärung erfolgt. Und nun? Jetzt scheinen die Parteien erst zu realisieren, was sie angerichtet haben.
    Heckmann: Kognitive Dissonanz, nennen Sie das. Man muss aber auch dazu sagen, dass auch Rajoy, der spanische Ministerpräsident, keine Gelegenheit verpasst hat, den Katalanen nicht entgegenzukommen. Ist es aus Ihrer Sicht klug, sich auf die Position zurückzuziehen, das Recht ist auf meiner Seite, die Macht ist auf meiner Seite, auch auf die Gefahr hin, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen könnte?
    Collado Seidel: Da ist natürlich von beiden Seiten eine halsstarrige Haltung eingenommen worden, eine kompromisslose Haltung, die letztlich auch diesen Konflikt dermaßen aufgeschaukelt hat. Der Konflikt reicht ja nicht erst ein paar Wochen oder Monate zurück; der durchzieht ja schon bereits zehn Jahre einer sich verstärkenden Konfrontationshaltung. Hier hätten in der Tat vor langem schon politische Verhandlungen einsetzen können, insbesondere was die Finanzverfassung angeht, eine stärkere Einbindung, eine stärkere Präsenz Kataloniens in Finanzfragen gegenüber der Zentralregierung. Das ist einer der Punkte, der von Barcelona immer wieder angemahnt worden ist.
    Heckmann: Wieso wurde das nicht gemacht aus Ihrer Sicht?
    Riss durch die Gesellschaft
    Collado Seidel: Das wurde nicht gemacht, weil sich da auch bereits damals schon Rajoy auf die Haltung festgeschossen hatte, wir haben einen Verfassungsrahmen und den verlassen wir nicht. Eine Finanzautonomie, ein eigener neuer Finanzstatus für Katalonien würde eine Veränderung der Verfassung implizieren – und das wäre zu weitreichend.
    Heckmann: Denken Sie, dass Rajoy sich damit auch selbst schaden könnte, mit diesem Kurs?
    Collado Seidel: Ich denke, innerhalb Spaniens schadet sich Rajoy mit diesem Kurs nicht. Etwas anderes ist, dass natürlich dieser Riss, der durch die katalanische Gesellschaft geht und zum Teil natürlich auch durch die spanische Gesellschaft, dass der nun schwer zu kitten sein wird. Das wird viele, viele Jahre benötigen, um hier diese Spaltung, um hier diesen Konflikt, diese aufgeladene Situation wieder zu beruhigen.
    Heckmann: Kann dieser Riss überhaupt gekittet werden?
    Miteinander wird sich wieder einstellen
    Collado Seidel: Ich denke schon. In der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, dass solche Konflikte auch zwischen Zentralregierung und Katalonien immer wieder hochgekocht sind und sich dann doch wieder beruhigt haben. Also, ich gehe davon aus, dass wir hier, wenn es auch zu einem neuen politischen Prozess der Auseinandersetzung, einer konstruktiven Auseinandersetzung zwischen Madrid und Barcelona kommen wird, dass sich hier auch wieder ein Miteinander einstellt.
    Heckmann: Aber wie soll das geschehen? Welche Ansatzpunkte müssen da angegriffen werden, um das zu gewährleisten?
    Grundfragen Föderalisierung und Finanzen
    Collado Seidel: Es stehen ja letztlich zwei Grundfragen im Raum. Eines ist tatsächlich die auch von der sozialistischen Partei geforderte tatsächliche Föderalisierung Spaniens, also, Spanien auf eine neue Grundlage zu stellen. Wir haben einen Staat der Autonomie, in dem Madrid Rechte den Regionen gewährt, und das könnte man grundlegend überarbeiten, hin zu einer Föderalisierung des Staates. Das andere ist tatsächlich diese neue Finanzverfassung für Katalonien. Entsprechend haben wir ja als Beispiel, als mögliches Modell, die Situation im Baskenland. Dort haben die drei baskischen Provinzen einen autonomen Finanzstatus, anders als in Katalonien, wo zunächst einmal sämtliche Steuern nach Madrid zurückfließen.
    Heckmann: Aber im Moment ist die Lage ja so festgefahren. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass auch Madrid beispielsweise bereit dazu sein sollte, diese Föderalisierung, von der Sie gesprochen haben, oder auch die Änderung der Finanzverfassung in Angriff zu nehmen.
    Collado Seidel: Tatsächlich ist ja eine Brücke, bevor die Unabhängigkeit erklärt wurde, angeboten worden mit Neuwahlen. Das heißt, Neuwahlen könnten eine ganz neue politische Landschaft in Katalonien bieten. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Unabhängigkeit anstrebenden Parteien eine sehr knappe Parlamentsmehrheit haben und nicht die Mehrheit der Stimmen erreicht haben, und an dieser Situation hat sich Meinungsumfragen zufolge auch nicht unbedingt etwas verändert. Wir könnten mit Neuwahlen eine völlig neue politische Konstellation in Barcelona haben, die automatisch hier die Spannung herausnehmen könnte und Gespräche möglich machen würde. Das könnte nicht nur eine Atempause, sondern auch einen Weg andeuten, einen Weg vorbereiten hin zu konstruktiven Gesprächen.
    Heckmann: Und diese Wahlen sind ja auch angesetzt worden von Madrid aus für den 21. Dezember. Die katalanischen Parteien, die überlegen noch, ob sie sich daran beteiligen. Denken Sie, es kommt überhaupt zu den Wahlen?
    Neuwahlen werden wohl kommen
    Collado Seidel: Ich denke, es wird zu den Wahlen kommen, weil es hat sich ja bereits Esquerra, es hat sich ja bereits die Partei von Carles Puigdemont dafür ausgesprochen, an diesen Wahlen teilzunehmen. Die CUP, die radikal-antikapitalistische, hat zunächst gesagt, nein, sie werden sich daran nicht beteiligen. Neueste Stimmen sagen "Ja, wir überlegen noch, das müssen jetzt die Mitglieder entscheiden." Offensichtlich scheint die Ratlosigkeit in Katalonien in der Unabhängigkeitsbewegung oder jetzt in diesem ausgerufenen sogenannten katalanischen Staat so groß zu sein, dass man jetzt offenbar getrieben wird von den Ereignissen und dass hier nun von Madrid aus der Takt vorgegeben wird. Und offenbar fühlen sich die katalanischen Parteien auch genötigt fühlt, dem zu folgen.
    Heckmann: Carlos Collado Seidel war das, Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Marburg. Er ist außerdem Generalsekretär der Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland. Ich danke Ihnen für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.