Im Tal - so könnte das schmale Buch auch heißen. Denn in die Abgeschiedenheit einer nicht genauer zu lokalisierenden Alpenwelt führt der neue Roman des in Wien geborenen Schriftstellers Robert Seethaler. Es ist die Geschichte eines Mannes, Andreas Egger, der als Kleinkind zu Beginn des vorigen Jahrhunderts aus der Stadt in ein kleines, inmitten einer Bergschlucht gelegenes Dorf kommt und dort mit über 70 Jahren stirbt. Sein Leben durchmisst das Buch, auf ruhige, äußerst knappe und unspektakuläre Weise. "Ein ganzes Leben" hat Seethaler das Buch genannt. Dieser Titel entspricht besser dem, was der Autor beim Schreiben im Sinn hatte:
"Also ein Leben ist ein Leben. Und jedes Leben reduziert sich auf das pure Dasein. Das ist das, was mich interessiert. Der Kern des Daseins, wenn es den gäbe. Für mich war es wichtig, all diesen Zierrat wegzustreichen und nicht näher darauf einzugehen, wie Moden oder Zeitgeschehnisse, die einen nicht wirklich in der Seele berühren. Davon befreit bleibt nichts als das pure Leben. Da geht es immer nur um dasselbe: um Überleben, um Liebe, um Kraft, um Tod."
Es ist ein hartes, karges Leben, von dem erzählt wird: Andreas ist Waise. Der Großbauer Kranzstocker nimmt das Kind der Schwägerin zu sich, aber nur, weil er zugleich einen Beutel Geld bekommt. Der Junge erlebt eine Kindheit ohne Liebe, geprägt stattdessen von Schlägen. Als der Bauer einmal zu kräftig zuhaut, geht etwas kaputt. Man schickt nach dem Knochenrichter, der die verletzten Glieder, so gut er kann, wieder zusammenfügt. Doch der Mann ist kein Arzt. Sein Patient behält ein Hinken zurück, denn das eine Bein ist kürzer.
Kein Klagen, keine Verbitterung des Protagonisten
Man kann es sinnbildlich verstehen: Andreas steht ein wenig anders in der Welt. Doch ein Egger klagt nicht. Er nimmt das, was kommt, mit einem stoischen Gleichmut hin. Diese Haltung ist es, die Andreas Egger Zeit seines Lebens so unverwüstlich wirken lässt. Das Dorf betrachtet ihn fortan zwar als Krüppel, aber weil er stark ist und gern arbeitet, findet er immer wieder eine Beschäftigung. Von dem wenigen verdienten Geld pachtet er ein kleines Grundstück. Dann kommt ein Unternehmen ins Dorf, das Seilbahnen baut. Egger wird trotz seines Handicaps angestellt. Denn er ist am Berg der Einzige, der gerade geht.
Die härtesten Schläge aber erwarten ihn erst noch: Er verliebt sich in eine Frau, Marie, und verliert sie nur wenig später bei einem Lawinenunglück. Er zieht in den Krieg, weil man zuletzt auch die Versehrten nimmt, und verbringt acht Jahre in russischen Lagern. Doch Andreas Egger verbittert nicht, sondern macht einfach immer weiter. Als er endlich aus der Gefangenschaft heimkehrt ins Tal, hat sich vieles verändert: Es gibt jetzt Fernsehen und immer mehr Besucher im Dorf. Wieder sucht er klaglos sein Auskommen und führt nun Touristen auf die Gipfel. Diese bestaunen eine Landschaft, die dem Autor selbst sehr vertraut ist:
"Es war die Stille der Berge, die mich schon als Kind im Tiefsten berührt hat. Diese hat etwas so Absolutes. Das ist so beruhigend und gleichzeitig aufwühlend. Das habe ich schon als Kind so empfunden. Vielleicht ist das Buch aus dieser Bergesstille heraus geboren."
Seethaler schildert eine Existenz vor dem Panorama der Natur und dieser zugehörig. Durchmessen wird ein Großteil des vergangenen Jahrhunderts, Egger und mit ihm der Leser dabei in immer neue Situationen hineingezogen. Aber das geschieht ohne jegliche Aufgeregtheit, völlig unspektakulär - auch dann noch, wenn es wie im Krieg um Leben und Tod geht. Die betont zurückgenommene Art des Erzählens ist es, die der Geschichte von Andreas Egger etwas Zeit- und Ortloses gibt. Und eben das entspricht der Intention von Robert Seethaler:
"Meine Prämisse ist, ja, die Menschen kommen damit klar. Es gibt so viele Menschen, die Verluste erfahren, schreckliche Ereignisse erfahren müssen. Fast alle Menschen werden einmal mit Tod, Krankheit konfrontiert. Ich glaube daran, dass man durchgehen kann, muss und unter Umständen sogar gestärkt aus solchen Ereignissen hervorgehen kann. Das ist nicht romantisierend, das ist die Vorstellung, die ich habe."
Jegliche Tröstungen der Kirche, des Glaubens liegen fern. "Er war nie in die Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben, und der Tod machte ihm keine Angst", heißt es einmal gegen Ende des Buches. Das Leben erscheint nicht als Prüfung Gottes. Es ist schlicht pures Sein. Das ist die Gewissheit und Übereinkunft innerhalb der Dorfgemeinschaft, zu der Andreas gehört, aber von der er sich auch unterscheidet. Nie kommt es ihm in den Sinn, Bauer zu werden, den der ist an sein Land gefesselt, muss den Blick immer nach unten richten, in der Erde wühlen. Egger aber will einer sein, der den Kopf hebt und möglichst weit schaut.
Einmal sieht er zusammen mit Marie vom Tal hinauf zu den Bergspitzen, wo in Feuerschrift mit großen, flackernden Buchstaben "Für dich, Marie" aufleuchtet. Andreas hat Männer engagiert, die mit Petroleum getränkte Säcke ausgelegt und angezündet haben. Es ist Liebeserklärung und Heiratsantrag zugleich. Und Marie sagt ja. Wie stets in diesem Buch, so wird auch davon ohne Pathos, beinah nebenher erzählt. Denn viele Worte braucht es nicht. Am Ende dieses kleinen und doch so lebensvollen Romans steht das Resümee eines Lebens:
Umreißen einer Seelenlandschaft
"Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen."
Es ist ein Staunen, das Robert Seethaler mit seiner Hauptfigur teilt:
"Er hat die Gabe, das Leben zu nehmen, wie es ist. Das ist eine Gabe, die wenigen gegeben ist, zum Beispiel mir schon gar nicht. Die Grundwut, die früher in mir gewühlt hat, die hat sich geglättet und ist ein bisschen ausgekühlt. Das ist so eine Wechselwirkung: Meine eigene Versöhnlichkeit wirkt sich aufs Schreiben aus und das Schreiben der Geschichten hat wieder Wirkung auf mich, hoffentlich."
Tatsächlich geht eine große, beruhigende Kraft von diesem Buch aus. Klein wirken gegenüber dem fernen, archaischen Universum der Berge die Strapazen und Anstrengungen unserer behüteten Existenzen. Und doch wird von dieser Welt so erzählt, dass sie nicht fremd erscheint. Es ist vielmehr so, als wäre es kein abgelegenes, geografisches Gebiet, das Seethaler umreißt, sondern eine Seelenlandschaft, die uns allen vertraut ist, weil wir selbst sie in uns tragen.
Robert Seethaler ist spät zum Schriftsteller geworden. Im Alter von 38, vor zehn Jahren, begann er mit der Arbeit an seinem ersten Buch. "Ein ganzes Leben" ist sein fünfter Roman. Zuvor hat er sich als Schauspieler versucht. Aber der großgewachsene Mann fühlte sich immer fremd auf der Bühne. Schreibend hingegen ist er ganz bei sich, wie er sagt. Dennoch blickt er noch immer verwundert auf seine berufliche Existenz:
"Ich komme aus einer ganz einfachen Arbeiterfamilie. Für mich ist auch jetzt der Beruf des Schriftstellers geradezu etwas Absurdes. Ich kann es selbst noch gar nicht glauben. Wenn mich jemand fragt: ‚Was machen Sie denn beruflich'' Und ich sage: ‚Ich bin Schriftsteller.' Die Worte stehen seltsam fremd leuchtend vor meinem eigenen Geist. Ich betrachte sie als etwas völlig Außergewöhnliches, nicht zu mir Gehörendes. Ich hatte nie diese Eloquenz, nie diese Selbstüberhöhung, der Welt viel mitteilen zu können. Dementsprechend schreibe ich meine Bücher. Ich muss die Sätze eher zusammenzimmern. Da fließt nichts raus."
Die Anstrengung des Schreibens aber merkt man dem neuen Buch nicht an. Vielmehr ist es so, dass hier alles passt. Man könnte auch sagen: Es ist ein makellos gezimmerter Roman.
Robert Seethaler: Ein ganzes Leben.
Hanser Berlin Verlag, 156 Seiten, 19,90 Euro