Nains Karriere ist gut angelaufen: Er hat ein Studium erfolgreich beendet, Auslandssemester mit eingeschlossen. Er hat Praktika absolviert, war Assistent eines Bundestagsabgeordneten. Dann kam das Angebot, im Europaparlament zu arbeiten. Die Eltern waren stolz auf ihn. Wenn ein Roman mit solch strahlender Karriere beginnt, rechnet man mit dem "aber", und gleich anfangs im Debüt von Thomas Martini, Jahrgang 1980, erfährt man nebenbei von einem Zusammenbruch. Nain kann das Haus nicht mehr ohne die grüne Strickmütze seiner Großmutter verlassen und wird zum Gespött der Kollegen. Man schreibt ihn wegen psychischer Probleme krank. Jetzt stürzt er sich ins Berliner Nachtleben.
Martini erzählt in seinem ersten Roman unter dem Titel "Der Clown ohne Ort" von einem Mitte/Ende-Zwanzigjährigen, der zwischen konkretem Liebesleid und abstrakter Sinnkrise taumelt und sich in Drogenexzessen erleuchten oder zugrunde richten will.
Nain wird von der Erinnerung an ein verflossenes Liebesglück mit zwei Frauen in Barcelona verfolgt. Dann wieder geht es ihm nicht ums private Glück, sondern darum, mit seinen Freunden die Welt zu retten. Sie wollen nicht gerade eine Revolution der politischen und ökonomischen Verhältnisse, sondern stellen der Alternativlosigkeit und den Untergangsszenarien, mit denen ihre Generation konfrontiert wird, das basisdemokratische, internationale Projekt einer "rapiden Evolution" entgegen. Nain liest Nietzsche, Adorno, John Rawls, schon bald wollen die Freunde ihre Ideen als Kunstform an die Öffentlichkeit bringen. Sie planen auch, ganz pragmatisch Fördergelder bei der EU zu beantragen. Nain zieht sich bald desillusioniert aus dem Projekt zurück. Es ist ihm einerseits verdächtig, dass die überregionalen Feuilletons wohlwollend über die "neuen Utopisten" schreiben. Andererseits bastelt er sich wohl ohnehin lieber aus den philosophischen Versatzstücken aller Zeiten und Länder ein abgeklärtes, indifferentes persönliches Weltbild zusammen: Man müsse einfach Alles hinter sich lassen, "ja" sei so gut wie "nein"; und wer ihm und seinesgleichen vorwerfe, sie wollten nicht erwachsen werden, wisse eben nicht, wie es sich ohne Zukunft anfühle. Er jobbt in einem Theater als Mädchen für alles. Die Arbeit dort und das Feiern danach gehen unmerklich ineinander über, denn es werden ständig Drogen eingeworfen. Kein Wunder, dass eines Tages ein überdimensionales Wolfs-Schaf an Nains Bett steht und auch nach einigen Stunden Schlaf nicht wieder verschwindet.
Das Buch selbst soll zu einer Textdroge werden
"Der Clown ohne Ort" ist ein Buch ohne linearen Erzählstrang; man weiß nicht immer genau, in welcher Phase sich der Held gerade befindet; und es geht hier auch nicht um die Entwicklung der Hauptfigur - der Held und der Text selbst drehen sich vorsätzlich im Kreis. Thematisch steht dieser Roman in einer langen Tradition: Liebe, Kunst, Politik, romantische Sehnsucht nach Ganzheit, nach Versöhnung von Ich und Welt - und immer wieder Drogen, Drogen, Drogen. Allein in der deutschsprachigen Literatur findet sich diese Gemengelage etwa bei Hermann Hesse, Georg Trakl, Gottfried Benn und Klaus Mann. Thomas Martini unternimmt einen hoch ambitionierten Versuch, sein Buch quasi selbst noch einmal zu einer Textdroge zu machen. Es finden sich hier rauschhafte, exzessive Bilder, Farbvisionen, kryptische Satzfolgen und lyrische Passagen. Die Stimmungen wechseln sprunghaft zwischen Selbstmitleid, Empörung, Lethargie und lodernder Leidenschaft. Bewusstseinserweiterung und Anästhetisierung sind eng miteinander verflochten, und die Zeit lässt sich allenfalls noch messen in Beobachtungen wie "drei Gläser später". Ein Trip geht in den nächsten über, und Nain stellt fest: "Der Verstand biegt sich wie eine Birke im Sturm." Programmatisch heißt es an anderer Stelle: "Wer sich erinnert, ist nicht dabei gewesen."
Martini legt es nicht darauf an, seinen Helden zu einer Sympathiefigur zu machen. In der Erinnerung an eine glückliche Liebe fallen peinliche Sätze wie "ich war der Junge, der nur lieben und spielen will", aber kurz danach spricht er als der grimmige Steppenwolf, der die Freundin "von sich wirft", weil er sie vor sich selbst schützen zu müssen glaubt. Klaus Theweleit würde vermutlich fragen, was dieser Orpheus denn wohl will von seiner Eurydike, ob es ihm mehr um seinen elegischen Gesang über die Liebe geht als um die konkrete Frau. Auch die Beschäftigung mit Politik hat etwas seltsam Abgehobenes. Sie gleicht mehr einem flüchtig-melancholischem Flirt als dem Versuch, kontinuierlich mit anderen zusammen aus Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft zu lernen. Die Schriftstellerin Dorothee Elminger, Jahrgang 1985, hat in ihrem ersten Roman "Einladung an die Waghalsigen" an die Geschichte des Widerstands erinnert; daran, dass die Verhältnisse nicht gottgegeben, sondern offen und änderbar sind. Thomas Martinis ziemlich bürgerlicher Held ist dagegen auf etwas elitäre Weise sehr schnell fertig mit der Welt. Trotzdem lässt einen dieser Nain nicht kalt, und manchmal wollte man ihn schütteln. Das Leben in ständigem Rausch scheint kein Problem für ihn zu sein: Dauernde Übelkeit, Erbrechen, Horrorvisionen und Prügeleien. Einmal will Nain seinen Besitz verbrennen, dann wieder schrammt er knapp am Tod vorbei und erwacht in einem Krankenhaus, aus dem er alsbald entweicht…
Mit Sinn für fantasievolle Formulierungen, Rhythmus und Tempowechsel
Nain ist einerseits eine klassische Figur, die in jeder Generation auftaucht, ein heißblütiger junger Mann mit romantischen und/oder aufrührerischen Ideen, der sich an den jeweiligen Realitäten misst und dann in Drogen flüchtet. Andererseits sind dieser Gestalt natürlich auch spezifisch "heutige" Probleme eingeschrieben. Die Fülle der Möglichkeiten, die gut ausgebildeten Leuten wie ihm offenstehen, wird nicht von allen als Freiheit erlebt, sondern führt manche ins Aus: Wenn alles geht, geht gar nichts mehr. Das Leben wird beliebig, indifferent. Auch der alte aufklärerische Satz vom Wissen, das Macht ist, scheint für viele Leute von Nains Schlag nicht mehr zuzutreffen. Wissen ist zwar per Mouseklick sofort verfügbar, also ist auch ein Schnelldurchgang etwa über die Geschichte des Widerstands machbar. Aber was hat das mit dem langwierigen emanzipatorischen Prozess des Lernens und der Aneignung zu tun? Das Partyleben führt von Gipfel zu Gipfel und in Abstürze aller Art. Gibt es bei Nain eigentlich noch ein Bewusstsein für die "Mühen der Ebene"? Es ist schade, dass solche Fragen, die sich dem Leser bei der Lektüre stellen, im Roman nicht weiter ausgefaltet werden.
Dass dieser wirre Held, dass dieser Roman einen trotzdem insgesamt überzeugt, liegt an dem Reichtum der Sprache, die einen buchstäblich mit sich reißt. Thomas Martini findet originelle, fantasievolle Formulierungen, hat ein Bewusstsein für Rhythmus und Tempowechsel: Mal hört man hier ein abgehetztes staccato, dann wieder laufen die Sätze gebunden einher; es gibt den hohen elegischen Tonfall und eine Art von schrillem Kreischen, wenn sich absurde Rauscheindrücke gegenseitig überstürzen.
Ein nervöses, waghalsiges, wildes Buch.
Thomas Martini: "Der Clown ohne Ort", Frankfurter Verlagsanstalt, ca 300 Seiten, 19,90 Euro