Archiv

Russland nach MH17-Absturz
"Wir sind immer Sündenbock"

Nach dem Absturz von Flug MH17 verschärft sich in Russland die Ukraine-Propaganda noch mal: Politiker verbreiten im Fernsehen Verschwörungstheorien. Und die meisten Menschen glauben ihnen - bis auf wenige Ausnahmen.

Von Gesine Dornblüth, Moskau |
    Menschen trauern vor der niederländischen Botschaft in Moskau um die Opfer des MH17-Absturzes.
    Menschen trauern vor der niederländischen Botschaft in Moskau um die Opfer des MH17-Absturzes. (dpa/ITAR-TASS/Sharifulin Valery)
    Viele Blumen vor der Niederländischen Botschaft in Moskau sind bereits in der Hitze verwelkt, aber es werden immer neue gebracht, außerdem Kerzen, Plüschtiere, Briefe. "Vergebt uns", steht auf vielen. Auf einem: "Es ist schrecklich, wir schämen uns, wir trauern". Die Kinderbuchautorin Elena legt einen Strauß Astern ab und hält einen Moment inne:
    "Der Krieg hat nicht ohne die Beteiligung unseres Präsidenten begonnen. Er hat die Grundlage dazu gelegt. Ich fühle mich schuldig an all dem, was jetzt in der Ukraine passiert."
    "Schuld ist der Westen"
    Eine Minderheitenmeinung. Einige Straßenecken weiter schlendert Dmitrij mit seiner Freundin über einen Moskauer Boulevard. Für den Computerspezialisten steht fest: Russland trifft keine Schuld am Tod der fast 300 Passagiere.
    "Das war eine Provokation der ukrainischen Seite, gerichtet gegen Russland und gegen die, wie heißen die noch mal, gegen die Verteidiger, gegen den Volkssturm. Die Ukraine will damit beweisen, dass in der Ostukraine Separatisten am Werk sind, Terroristen, die friedliche Bürger sogar anderer Staaten umbringen. Aber der Volkssturm hatte doch gar nicht die Waffen, um ein Flugzeug in der Höhe abzuschießen."
    Beileidsbekundungen vor der niederländischen Botschaft in Moskau nach MH17-Absturz. Die Maschine war von Amsterdam auf dem Weg nach Kuala Lumpur.
    Beileidsbekundungen vor der niederländischen Botschaft in Moskau nach MH17-Absturz (Gesine Dornblüth)
    "Volkssturm": Diesen Begriff aus dem Zweiten Weltkrieg haben die Staatsmedien über Wochen erfolgreich in das öffentliche Bewusstsein in Russland eingepflanzt. Darauf, dass die Separatisten eben doch BUK-Abwehrraketen besaßen, gibt es viele Hinweise. Der Rentner Viktor hat davon gehört, hält die Hinweise aber für gefälscht.
    "Was geschehen ist, ist zunächst mal eine Tragödie. Schuld daran ist, meiner Meinung nach, am ehesten der Westen. Es wird ja immer für alles Russland die Schuld gegeben, total einseitig. Das ist nicht objektiv. Wenn herauskommt, dass die ukrainische Armee die Rakete gestartet hat, dann wird das den Westen endlich davon überzeugen, dass es falsch ist, immer Russland als Sündenbock zu sehen und die Ukraine bedingungslos zu unterstützen. Vielleicht irre ich mich. Aber ich weiß das aus dem Fernsehen."
    TV-Propaganda gegen Ukraine
    Umfragen zufolge nutzen rund 90 Prozent der Russen das Fernsehen als wichtigste Informationsquelle. Doch das russische Staatsfernsehen betreibt schon längst keinen Journalismus mehr, und unabhängige Sender gibt es kaum noch.
    Im ersten Kanal berichtete eine angebliche Augenzeugin aus der Ostukraine vor einer guten Woche, dass ukrainische Soldaten in Slawjansk einen kleinen Jungen gekreuzigt und die Mutter anschließend hinter einem Panzer durch den Ort geschleift hätten. Der Sender stellte die ungeheuerliche Geschichte als Tatsache dar, doch bis heute hat niemand einen Beleg dafür geliefert.
    Nach dem Absturz des malaysischen Flugzeugs hat sich die Propaganda noch einmal verstärkt. Ohne es zu belegen, verbreiten russische Politiker, sogenannte Experten, Regierungsbeamte, nur die ukrainische Armee könne die Maschine abgeschossen haben. Dazu werden alle möglichen Verschwörungstheorien präsentiert. Auch gestern Abend in den sonntäglichen Nachrichten der Woche "Vesti nedeli":
    "Extremisten, die unabhängig von der ukrainischen Armee agieren, haben die Boeing abgeschossen, um Russland dafür verantwortlich zu machen. So ein Plan musste mit der CIA oder anderen von Washington kontrollierten Behörden abgestimmt werden. Das Ziel war, die EU dazu zu bringen, sich den Sanktionen der USA gegen Russland anzuschließen, und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und der EU zu zerstören."
    Kann Flugzeugabschuss eine Wende bringen?
    In Deutschland hoffen einige Politiker, der Flugzeugabschuss könne eine Wende im Ukrainekonflikt eingeleitet haben und Präsident Putin zum Einlenken bewegen. Elena, die Kinderbuchautorin vor der Niederländischen Botschaft, glaubt das nicht:
    "Ich habe da keine Hoffnung. Zumal die Mehrheit der Bevölkerung für Putin ist. Das kommt davon, wenn die Leute nur noch den ersten und den zweiten Kanal gucken. Putins Umfragewerte steigen, Flugzeuge fallen herunter. Er wird bis zum Ende gehen. Ich weiß nicht, was ihn stoppen könnte. Leider."