In dem Konflikt in der Ukraine zeige sich: Die deeskalierenden Mechanismen, die nach dem Ende des Kalten Krieges aufgebaut wurden, "scheinen fast kaum mehr existent zu sein", sagte Hacke im DLF. Der Diplomatie, die sich um eine Deeskalierung bemühe, fehle die nötige Differenzierung: So sei "die Schwarz-Weiß-Malerei bar jeglicher selbstkritischer Überlegungen, die wir auch im Westen anstellen müssen". Die permanenten Erweiterungen der EU und der NATO seien "ein bisschen naiv" gewesen. Durch die gesamteuropäische Politik der vergangenen 20 Jahre habe der Westen dem heutigen russischen Präsidenten Wladimir Putin erst den Raum gegeben, "Macht und Prestige in einer Form einzusetzen: Das sind eigentlich ganz andere Welten, die wir in Zentraleuropa nicht mehr kennen", sagte Hacke.
Dabei hätten vor allem die Amerikaner zu einer Eskalation der Lage beigetragen, sagte Hacke. Die Äußerung von US-Präsident Barack Obama, Russland sei nur Regionalmacht habe "eine neue Arroganz auf der amerikanischen Seite" offenbart. "Das bringt nichts, das heizt nur an." Hinter dieser Position stecke "sehr viel mehr Ratlosigkeit, als wir annehmen". Unter Obama seien die USA technologisch in einer Führungssituation, aber "gleichzeitig außenpolitisch so erfolglos auf ganzer Linie, dass das schon ein Wandel ist in den vergangenen Jahren, der zu denken gibt".
Die Bundesregierung dürfe sich nicht vor den Karren der Russen, der Amerikaner und der Osteuropäer spannen lassen, sagte der Friedensforscher. "Wir selbst sind in einer halbhegemonialen Position, also zu schwach, um wirklich Hegemon in Europa zu sein, aber auch zu stark, um als Gleicher unter Gleichen zu gelten."
Das Interview mit Christian Hacke in voller Länge:
Gerd Breker: US-Präsident und Friedensnobelpreisträger Barack Obama ist auf Asienreise. Doch die Krise um die Ukraine, sie begleitet ihn auch dorthin. Völlig unabgelenkt geriert sich derweil die Politik in Washington. Den Blick nach innen gerichtet, fällt die Wortwahl kräftig aus. US-Außenminister John Kerry weiß es ganz genau: Russland finanziere, koordiniere und schüre weiterhin eine schwerbewaffnete Bewegung in Donezk, sagt er. Die USA seien bereit, zu handeln, fügt er mit Blick auf weitere Sanktionen hinzu. Die Eskalation der Worte aus Washington - Marcus Pindur.
Unser Korrespondent in Washington, Marcus Pindur. Und am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Konfliktforscher Christian Hacke. Guten Tag, Herr Hacke!
Christian Hacke: Seien Sie gegrüßt!
Breker: Angesichts dieser Kriegsrhetorik reibt man sich ja Augen und Ohren. Offenbar versagen alle Deeskalationsmechanismen, die man jahrelang nach dem Kalten Krieg aufgebaut hat.
Hacke: Was wir aus Washington hören und in der Beschreibung der Dinge, die Russland beziehungsweise Putin nun über die Krim und jetzt in der Ostukraine tut, das ist zweifellos alles richtig. Aber auf der anderen Seite ist die Schwarz-Weiß-Malerei natürlich bar jeder selbstkritischer Überlegung, die wir auch im Westen anstellen müssen. Diese Situation ist nicht vom Himmel gefallen, sondern sie hat sich entwickelt. Und Sie haben recht, die deeskalierenden Mechanismen scheinen fast kaum mehr existent zu sein. Und da hakt die Bundesregierung ein, indem sie, glaube ich, die letzte Institution versucht wieder mit Leben zu erwecken, die OSZE sozusagen als eine institutionelle Brücke, um irgendwo doch Russland doch noch einzubinden, und dass es vielleicht doch wieder zu deeskalierenden Schritten kommen könnte, selbst wenn die Chancen gering sind. Aber man muss mit ihnen im Gespräch bleiben, und ich glaube, dass hinter der amerikanischen Position sehr viel mehr Ratlosigkeit steckt als wir annehmen.
"Russland Raum gegeben, um Macht und Prestige einzusetzen"
Breker: Sie sagen es, man muss miteinander im Gespräch bleiben, Herr Hacke. Der NATO-Russland-Rat, der wird ausgesetzt, und genau das zu einem Zeitpunkt, wo man doch dringend miteinander reden müsste, und das wäre eine Plattform, um zu reden.
Hacke: Ja. Übrigens sehen Sie, für die russische Seite war die NATO nie ein Lieblingsinstrument, sagen wir mal, der gesamteuropäischen Politik. Und wir müssen hier schon selbstkritisch fragen, ob in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht Schritte unternommen wurden, nicht die Dinge, die Putin heute macht, verständlich macht, sondern ihm den Raum gegeben haben, nun Macht und Prestige in einer Form einzusetzen - das sind eigentlich ganz andere Welten, die wir in Zentraleuropa nicht mehr kennen. Ich glaube schon, dass der Westen damals ein bisschen naiv auch geglaubt hat, dass, wenn man die Europäische Union permanent erweitert, die NATO permanent erweitert, wenn die Amerikaner dann noch ihre Raketenabwehrsysteme in der Nähe Russlands stationieren wollen - so viele Dinge die Russen enerviert hat, wo wir dann aber gleichzeitig fragen müssen, ob das damals, was wir gemacht haben, auch strategisch irgendwo sinnvoll gewesen ist. Und die NATO ist ja durch ihre Erweiterung alles andere als stärker geworden. Das muss man alles kritischer betrachten, und ich denke, hier ist auch die Bundesregierung gefragt in einer sehr schwierigen Situation. Sehen Sie, die Amerikaner wollen uns vor ihren Karren spannen, die Russen wollen uns vor ihren Karren spannen, die Osteuropäer mit ihren legitimen sensiblen Sicherheitsinteressen vor Russland wollen uns auch vor ihren Karren spannen. Wir selbst sind in einer halbhegemonialen Position, also zu schwach, um wirklich Hegemon in Europa zu sein, aber auch zu stark, als Gleicher unter Gleichen zu gelten. Wir sind in einer ganz schwierigen Situation. Und angesichts dieser Dilemmata versucht, glaube ich, die Bundesregierung das Beste zu tun, was sie kann, und das personifiziert sich eben im Außenminister Steinmeier, der schon eine Diplomatie betreibt, die für uns, oder mich zumindest, unter seinem Vorgänger nicht vorstellbar gewesen wäre.
Breker: Die Rolle der NATO, lassen Sie uns noch ein wenig dabei bleiben, Herr Hacke. Man kann und will die Ukraine nicht schützen, sie ist ja auch nicht Mitglied. Aber man fragt sich doch, was soll denn in der jetzigen Situation dann der symbolische Aufmarsch im Osten?
Hacke: Ich halte das für eher eine Art politischer Selbstbefriedigung. Das bringt gar nichts. Es erzürnt die russische Seite noch mehr. Und in diesem Zusammenhang muss man auch unglückliche verbale Signale sehen vom Präsidenten Obama, der nicht ohne Süffisanz erklärte, Russland sei nur Regionalmacht. Das ist natürlich bitter für einen Mann wie Putin zu hören, und es stimmt ja auch nicht. Und was wir sehen, ist auch, was wir früher bei Obama in der ersten Halbzeit, hätte ich beinahe gesagt, nicht gesehen haben: Es ist eine neue Arroganz auch auf der amerikanischen Seite, und das bringt nichts, das heizt nur an. Also die NATO ist heute das letzte Instrument, das übrigens von Putin ernstgenommen wird, das müssen wir auch klar sagen. Das ist nicht mehr die NATO, das Verteidigungsbündnis vor 20 oder 25 Jahren, was gefürchtet wurde und was im Kalten Krieg unsere Sicherheit garantiert hat. Heute nimmt Russland die NATO nicht ernst, und gleichzeitig macht man Gesten, die also Säbelrasseln bedeuten und natürlich irritieren. Keiner ist bereit, heute für die Ukraine zu sterben. Das muss man klar sagen.
USA: Erfolglose Außenpolitik trotz technologischer Führungsposition
Breker: Alle fragen sich derzeit, was will eigentlich Russlands Präsident Putin, aber man könnte auch genauso gut fragen, was will eigentlich Obama? Der Friedensnobelpreisträger Obama will offenbar mit Blick auf die Midterm-Wahlen in seinem Land offenbar Härte zeigen.
Hacke: Ja, das weiß ich nur nicht, ob er da gerade mit der Außenpolitik punkten kann. Was einen schon beunruhigt, ist, dass eigentlich unser - ich überspitze mal etwas - liberales Idol der westlichen Welt oder auch gerade der Amerikaner, der noch in der ersten Legislaturperiode, in seiner ersten Amtszeit, in den ersten vier Jahren, doch Amerikas Image in der Welt enorm wieder stabilisiert hat, und gleichzeitig sehen wir aber, dass strukturell die USA halt eben nicht auf der Höhe sind. Sie haben auch nicht mehr die Mittel. Sie sind ja verarmt, sie sind hoch verschuldet. Und es gibt noch einen anderen Aspekt, und das ist das ganz Paradoxe. Unter Obama sind die USA mit Blick auf ihre technologischen Fähigkeiten, Stichwort NSA, Stichwort Cyberwar, Stichwort Drohnenkrieg, sind sie technologisch in einer Situation, in einer Ausnahmesituation und Führungssituation, wie sie es nur von 1945 bis 1949 hatten, als sie das Nuklearmonopol hatten. Und jetzt haben sie ein ähnliches Monopol bei Geheimdienstfähigkeiten, Cyberwar und Drohnenkrieg, und gleichzeitig sind sie außenpolitisch so erfolglos. Also sie sind technologisch allen weit überlegen mit dem Militärapparat und gleichzeitig sind sie außen- und sicherheitspolitisch so erfolglos auf ganzer Linie, dass das schon ein Wandel ist in den vergangenen Jahren, der zu Denken gibt.
Deutschland als Zentralmacht Europas wichtig
Breker: Herr Hacke, die Übergangsregierung in Kiew ist schwach und wird wohl auch schwach bleiben. Sie kann die Beschlüsse von Genf kaum umsetzen. Umso geforderter sind andere. Sie haben es erwähnt, unser Außenminister will eine stärkere Rolle der OSZE, aber die müsste dann ja auch von Moskau gewollt sein.
Hacke: Ja, das ist natürlich auch - das bezweifle ich auch, und jeder, der hier weiß, wo es längs geht, den beneide ich. Aber ich befürchte schon, dass Putin angesichts einer Situation, wo der Westen zunehmend mehr auf Konfrontation setzt, wie die Amerikaner es signalisieren, eigentlich in seinen aggressiven Ansinnen nur noch bestärkt werden kann. Das ist das Dilemma. Auf der einen Seite, wenn mehr auf der NATO-Seite mit dem Säbel gerasselt wird, verärgert ihn das nur und er fühlt sich bestätigt, aber wenn wir nichts tun, ist es genauso schlimm. Und aus diesem Dilemma rauszukommen, ist fast unmöglich, und da bleibt eben nur die Brücke. Und da ist Deutschland Zentralmacht Europas. Das ist ganz wichtig.
Und mein Berliner Kollege Herfried Münkler hat mit dem Blick auf den Ersten Weltkrieg, wo er ein großartiges Buch geschrieben hat, auch darauf verwiesen, dass Deutschland als zentrale Macht, wenn es Fehler macht - diese Fehler sind viel gravierender, als wenn eine Randmacht in Europa Fehler macht. Und deshalb ist es ganz wichtig, dass die Bundesregierung hier in Berlin ganz vorsichtig agiert und auf Ausgleich aus ist. Sich nicht vor Amerikas Karren spannen lässt, auch nicht vor Russlands, auch nicht nur vor Osteuropas, sondern auch sieht die Gesamtinteressen als Makler oder Mittler und gleichzeitig versucht, auch seine eigenen, nationalen Interessen klar zu definieren. Und wir haben fundamentale Interessen, dass wir natürlich an der Seite der USA bleiben müssen, aber auf sie einwirken müssen, deeskalieren, und auf der anderen Seite haben wir natürlich auch enge Verbindungen zu Russland. Und das bringt uns in eine einmalige Situation der Verantwortung, aber auch der Schwierigkeiten, wie es keine andere Regierung in Europa hat.
Breker: Schauen wir, inwieweit die Bundesregierung dies wahrnehmen wird. Die Einschätzung des Konfliktforschers Christian Hacke war das im Deutschlandfunk.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.