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Russland-Ukraine-Konflikt
"Standfestigkeit bei den Sanktionen"

Russland strebe einen dysfunktionalen und instabilen ukrainischen Staat an, sagte Wilfried Jilge von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im DLF. Die Umsetzung des Minsker Friedensabkommens werde dadurch erschwert. Der Westen könne der Ukraine helfen, indem die Sanktionen gegenüber Moskau nicht gelockert würden, so der Politologe.

Wilfried Jilge im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Putin-Graffiti in Sewastopol auf der Halbinsel Krim
    Das Ziel müsse eine Reintegration der Gebiete in eine souveräne Ukraine sein, so der Politikwissenschaftler Wilfried Jilge. (imago stock&people)
    Christiane Kaess: Über die Situation in der Ukraine möchte ich jetzt sprechen mit Wilfried Jilge. Er ist Programmmitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik mit Schwerpunkt Ukraine. Guten Tag, Herr Jilge!
    Wilfried Jilge: Guten Tag, Frau Kaess!
    Kaess: Herr Jilge, wir haben es gerade noch mal gehört, Russland hat ja die Sicht auf die Dinge, dass für die Umsetzung des Abkommens vor allem die Führung in Kiew verantwortlich sei, für die Umsetzung des Minsker Abkommens. Aus Ihrer Sicht – ist das richtig?
    Jilge: Natürlich sind Gespräche im Rahmen jetzt der Minsker Vereinbarung wichtig. Das ist besser als eine neuerliche Eskalation. Es ist auch gut, dass offensichtlich, wenn man – Herr Steinmeier hat das ja gesagt – glauben darf, beide Seiten bereit sind, diesen Prozess fortzuführen. Allerdings ist hier wichtig, im Kontrast zu den offiziellen Äußerungen Russlands nicht zu vergessen, die Ursachen, die diesen Konflikt ausgelöst haben. Es ist die russische Aggression, ausgelöst mit der Annexion der Krim, dann weitergeführt im sogenannten russischen Frühling im Osten, zusammen mit Waffenlieferungen, Soldatenlieferungen und Geld seitens Russland, die diesen Konflikt erst verursacht haben. Und das Ziel, und das ist das Kernproblem hier, muss eine Reintegration der Gebiete in eine souveräne Ukraine sein und nicht das, was Moskau anstrebt, nämlich einen bosneisierten, einen föderalisierten, dysfunktionalen Staat, der dauernder Hort der Instabilität ist und der Russland immer die Möglichkeit gibt, sozusagen einen Hebel in die Innen- und Außenpolitik der Ukraine zu haben. Das ist das Hauptproblem. Und deswegen, glaube ich, ist Moskau auch derzeit möglicherweise dazu geneigt, solche Vorfälle wie auf der Krim, deren Ursache wir immer noch nicht kennen, zu nutzen, um zu zeigen, dass es möglicherweise, wenn es seine Sicht der Dinge in Minsk nicht durchsetzt, auch noch andere Mittel besitzt.
    "Ziel muss eine Reintegration der Gebiete sein"
    Kaess: Es gibt ja diese These oder diese Theorie, dass Moskau den Konflikt schnell beenden könnte, wenn es die Unterstützung an die Separatisten einstellen würde. Finden Sie die richtig?
    Jilge: Diese These hat sehr viel Faktengrundlage. Was wir auch aus Analysen mittlerweile wissen, sind die entscheidenden Führungen der sogenannten Volksrepubliken reine Marionettenregierungen Moskaus. Es gibt in Moskau, angefangen von Herrn Surkow, sogenannte Kuratoren und graue Eminenzen, die die entscheidenden Marksteine oder die entscheidenden Entscheidungen treffen in diesem bisher nicht allzu erfolgreichen Verhandlungsprozess. Und insofern, Moskau hat den größten Zugriff auf die Separatisten, die selbst, für sich, sehr destruktiv und als Verhandlungspartner äußerst schwierig sind.
    Kaess: Macht auch Kiew etwas falsch?
    Jilge: Kiew reagiert natürlich aus einer Position der Schwäche. Kiew, die Ukraine befindet sich in einem fundamentalen politischen Umbruch zu mehr Demokratie, zu mehr Rechtsstaatlichkeit, und reagiert natürlich nicht immer glücklich. Aber das ist vor allem auch eine Position der Schwäche. Wir dürfen eben nicht vergessen, Kiew kämpft damit, die Kontrolle über eigenes Territorium wiederzubekommen. Was Kiew machen müsste, auch wenn Minsk schwer umzusetzen ist, Kiew müsste viel offensiver den Menschen im Donbass ein attraktives Angebot machen und damit weiteren Destabilisierungsversuchen mehr und mehr den Boden entziehen. Also wirtschaftlich, aber auch der Umgang zum Beispiel an den Grenzübertritten, die Behandlung der Binnenflüchtlinge. Hier hat Kiew immer wieder auf Kritik mehr oder weniger reagiert, aber Kiew braucht ein Konzept für den Donbass, um den Menschen zu zeigen, es gibt eine Alternative zu den chaotischen Verhältnissen, die da derzeit herrschen.
    "Kiew braucht ein Konzept für den Donbass"
    Kaess: Welches Konzept könnte das sein?
    Jilge: Das könnte zunächst einmal erstens der Versuch sein, dass man auch bei den Verhandlungen in Minsk zum Beispiel Vorschläge macht, die auch Russland dazu zwingen, zu reagieren. Auch Vorschläge zum Beispiel für die Durchführung von Wahlen, Vorschläge, wie man gemeinsam auch lokale Spieler – das müssen ja nicht die separatistischen Kämpfer sein, die dort noch wohnen in den nicht kontrollierten Gebieten - einbezieht. Das erst mal zur Diplomatie. Aber zum anderen könnte es auch viele kleine Fragen betreffen. Wir haben das große Problem, dass Menschen im Donbass große Schwierigkeiten haben, zum Beispiel ältere Menschen, an ihre Renten heranzukommen. Hier könnte Kiew, und das wäre überfällig, viel bessere, effizientere Regelungen im Sinne der Menschen schaffen. Aber wie gesagt, allein auch die bessere Regelung oder Behandlung auch der Menschen, die in die kontrollierten Gebiete des Donbass sozusagen aus den nicht kontrollierten kommen, eine Willkommenskultur, die muss nicht nur rhetorisch, sondern offensiv gemacht werden. Das sind erste Schritte, die gemacht werden müssten. Das ist schwierig. Die Ukraine ist in einer wirtschaftlich extrem schwierigen Situation. Der Donbass lastet natürlich auch auf ihr, und sie hat auch wenig finanziellen Spielraum sozusagen, etwas zu machen. Was sie noch machen könnte und noch machen müsste, sie müsste vor allem beim Wiederaufbau wirtschaftlich und bei den rechtsstaatlichen Strukturen in den kontrollierten Gebieten des Donbass, das ist zum Beispiel ganz wichtig, müsste sie viel stärker vorangehen und Schwerpunkte setzen, um für die Menschen in den nicht kontrollierten Gebieten sozusagen ein Kontrastbeispiel in der Nachbarschaft zu schaffen. Den Menschen geht es in den kontrollierten Gebieten besser als in den nicht kontrollierten Gebieten, vom Rechtsstaat über die Wirtschaft. Aber da liegt ganz viel im Argen, und hier könnte man da, wo man auch die Macht hat, es zu tun, mehr tun.
    Kaess: Und warum tut Kiew das nicht?
    Jilge: Weil Kiew zurzeit erstens sozusagen alle Reformen gleichzeitig tun muss - ukraineweit und nicht nur im Donbass. Und weil man zurzeit auch nicht weiß, wie man mit den Gebieten umgehen soll. Denn natürlich hat man Angst, sozusagen in etwas hineingezogen zu werden. Wenn sie zum Beispiel wirtschaftlich mehr Austausch schaffen, kann das immer auch zu einer Verfestigung der separatistischen Regimes führen. Einen solchen Effekt haben wir zum Beispiel in Transnistrien, in der sogenannten Republik Transnistrien, wo wir viel mehr wirtschaftlichen Austausch zwischen den kontrollierten und nicht kontrollierten Gebieten in Moldova haben. Aber das führt manchmal im Endeffekt auch dazu, Konflikte erst recht einzufrieren. Also es für Kiew eine ganz schwierige Situation. Und es wird diese Attraktivierung oder diese Schaffung eines attraktiven Modells auch nur meistern können, wenn es dafür auch mehr Hilfe beim Infrastrukturaufbau vom Westen noch bekommt.
    Hilfe beim Aufbau von Infrastruktur
    Kaess: Da sind wir dann bei den internationalen Bemühungen. Sie haben jetzt die Infrastrukturhilfe angesprochen. Es gibt noch ganz andere Forderungen. Einige konservative deutsche Politiker haben jetzt wieder Waffenlieferungen an die Ukraine ins Gespräch gebracht. Wie sinnvoll ist diese Diskussion?
    Jilge: Die Ukraine muss als souveräner Staat die Möglichkeit haben – sie ist ja der Angegriffene. Es ist ja auch kein Ukraine-Konflikt, es ist ein Russland-Ukraine-Konflikt, das dürfen wir nicht vergessen. Die Ukraine hat das legitime Recht, sich zu verteidigen. Und möglicherweise ist es für diese Verteidigung ihres derzeit kontrollierten Territoriums besser, wenn sie das in Kooperation organisieren kann mit dem Westen, als wenn sie das ohne sozusagen Partner tut und ungeregelt tut. Verbinden könnte man auch solche Hilfe, die ja vor allem auch erst mal die Logistik und die Infrastruktur einer immer noch im Aufbau befindlichen Armee betrifft, auch damit, dass man zum Beispiel auch Reformen Richtung Transparenz und Korruptionsbekämpfung auch auf die Armee ausweitet. Aber wie gesagt, für mich ist viel mehr entscheidend, dass die Hilfe des Westens vor allem die Standfestigkeit bei den Sanktionen einschließt. Das heißt, erst, wenn Russland wirklich glaubhafte Schritte unternimmt, Minsk wirklich so umzusetzen, wie es der Geist vorsieht dieses Abkommens, nämlich die Souveränität der Ukraine wiederherzustellen, dann auch kann die Sanktion gelockert werden. Und zweitens, der Ukraine in ihrer sicherheitspolitisch ja extrem prekären Lage wäre auch damit geholfen, wenn man nicht nur immer von der Annexion der Krim redet, was richtig ist, es muss eine Nichtanerkennungspolitik geben, sondern man hat jetzt gesehen, die Krim ist Eskalationspotenzial, es ist ein völlig ungeregelter Konflikt, und Russland rüstet hier massiv auf. Alles das müsste zum Thema gemacht werden. Es gibt Rechtspositionen, die aus der Annexion folgen, aber diese Rechtsposition muss der Westen auch in ein politisches Konzept zum Umgang mit der Krim einfließen lassen.
    Kaess: Die Einschätzung von Wilfried Jilge. Er ist Programmmitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Danke schön, Herr Jilge!
    Jilge: Ich danke Ihnen, vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.