Jasper Barenberg: Etwa die Hälfte der Schulabgänger in Deutschland geht inzwischen danach an einer Hochschule studieren. Das sind fast doppelt so viele wie noch vor gut zehn Jahren, aber immer noch zu wenige, jedenfalls in den Augen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Denkfabrik gewissermaßen der Industriestaaten, die auch die beachteten wie gefürchteten Pisa-Vergleiche erfunden hat.
Immer wieder hat die OECD Deutschland getadelt für eine zu niedrige Akademikerquote. Als Akademikerwahn dagegen kritisiert der Philosoph Julian Nida-Rümelin diese Entwicklung jetzt, einst Kulturstaatsminister unter Kanzler Gerhard Schröder. Heute leitet er die Grundwertekommission der SPD. Er sieht die Einzigartigkeit und die Stärke des deutschen Bildungswesens in Gefahr, wenn immer mehr Schulabgänger studieren und immer weniger eine Ausbildung machen.
Der Bildungsforscher Andreas Schleicher ist Vizedirektor der OECD, bekannt als Koordinator der internationalen Vergleichsstudie Pisa und jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen nach Paris!
Andreas Schleicher: Guten Morgen, Herr Barenberg!
Barenberg: Herr Schleicher, hat Julian Nida-Rümelin recht, wenn er sagt, das traditionelle duale System, also die Kombination von staatlicher Bildung und beruflicher Ausbildung, ist ein Pfund, mit dem wir gar nicht genug wuchern können in Deutschland?
Schleicher: Absolut! Das berufliche Bildungssystem in Deutschland ist eine große Stärke. Aber das sagt eben nicht, dass nicht trotzdem immer mehr Menschen auch eine höherwertige Ausbildung machen sollten. Ob das im beruflichen oder akademischen Bereich ist, ist letztendlich egal, aber der Bedarf steigt rasant. Es gibt kaum ein Land, wo der Bedarf nach Spitzenkräften so stark gestiegen ist wie in Deutschland.
Barenberg: Aber es zeigt sich doch, jedenfalls beklagt Julian Nida-Rümelin das, dass sich die Gewichte zu sehr verschieben, dass immer mehr studieren, immer weniger eine Ausbildung machen und dass dadurch eine bedeutende Grundlage unseres ganzen Wirtschaftsmodells ins Rutschen gerät. Können Sie diese Einschätzung teilen, können Sie der was abgewinnen?
Schleicher: Wissen Sie, es ist völlig abwegig, das als Quotendiskussion zu führen. Das beste Maß ist der Bedarf am Arbeitsmarkt, und Sie sehen, dass ein Hochschulabsolvent heute 74 Prozent mehr verdient als jemand mit Sekundarabschluss oder Lehre und das ist das, was die jungen Leute sehen oder wissen und sich deshalb daran orientieren.
Und ich denke, es gibt auch kein Land, wo dieser relative Einkommensvorteil von Spitzenqualifikation so stark gestiegen ist wie in Deutschland: um mehr als 20 Prozentpunkte in den letzten zehn Jahren. Das zeigt, dass da im Grunde ein großes Zukunftspotenzial liegt. Das muss der beruflichen Ausbildung ja überhaupt nicht abträglich sein. Aber es ist ganz klar, dass die jungen Leute sich daran orientieren. Und im Übrigen: Die meisten, die solche Forderungen erheben, reden immer über die Kinder anderer Leute. Ich denke, das ist heute auch ganz wichtig.
Barenberg: Nun sagt Julian Nida-Rümelin, wenn nur noch, sagen wir, 30 Prozent eines Jahrgangs eine Ausbildung macht, dann lässt sich die Vielfalt der nichtakademischen Fachkräfte gar nicht mehr ausbilden in Deutschland. Hat er damit recht?
Schleicher: Auch das wieder sollte man am Bedarf am Arbeitsmarkt bestimmen. Sie sehen das auch an den Arbeitslosenquoten. Die Arbeitslosenquoten liegen bei Personen mit tertiärer Ausbildung – und ich will da gerne auch den Meisterberuf mit in die Akademikerausbildung hineinbringen; das ist im Grunde ja eine exzellente Ausbildung - die liegt etwa bei der Hälfte derjenigen Personen mit Sekundarabschluss oder Lehre. Ich denke, auch das ist ein Maß, das zeigt, dass auch ein geringerer Anteil durchaus erfolgreich sein kann.
Barenberg: Bleiben Sie also bei Ihrer Empfehlung, ihr sollt auf alle Fälle studieren?
Schleicher: Ich denke, man muss sich von dieser Vorstellung lösen, dass es eine Dualität gibt auf der einen Seite, eine praktische berufliche Ausbildung, und auf der anderen Seite eine lange, sehr akademisch orientierte theoretische Ausbildung. Was man braucht, ist ein größerer, ein besserer Mix, eine stärkere Verbindung zwischen beiden Bereichen, dass es einem Kfz-Mechaniker auch möglich ist, später noch Ingenieur zu werden. Das funktioniert in Deutschland momentan noch nicht gut. Und wenn man ein solches flexibles Bildungssystem hat, dann erübrigt sich diese Frage.
Barenberg: Wie könnten denn solche Brücken aussehen? Sie haben beklagt, dass es keine gibt, dass der Übergang vom einen System zum anderen kaum oder schlecht funktioniert in Deutschland. Wie könnte man das ändern?
Schleicher: Ich denke, wenn es immer mehr junge Menschen gibt, die einen Hochschulabschluss machen wollen – und wie gesagt, dafür gibt es ganz klare wirtschaftliche Anreize -, dann müssen die Hochschulen sich auf ein vielfältigeres Spektrum von Bedürfnissen, von Fähigkeiten, von Ansprüchen einstellen und sehr viel flexibler ihr Angebot strukturieren. Das heißt, es muss von den Professoren auch mehr Innovation, mehr Kreativität bei der Lehre erwarten, dann aber auch entsprechende Abschlüsse anerkennen.
Es muss wie in Australien oder anderen Ländern heute selbstverständlich sein, dass zum Beispiel eine Kfz-Lehre anerkannt wird als Eingangsvoraussetzung für ein Hochschulstudium. Das gibt es in Ansätzen in Deutschland schon, rechtlich zumindest, aber in der Praxis orientieren sich die Hochschulen noch zu sehr an ihrem theoretischen Anspruch für ein sehr begrenztes Spektrum von Studierenden.
Barenberg: Sie schlagen da also einiges vor, um die Durchlässigkeit zu erhöhen. Die OECD fordert ja seit Jahren und hat immer gefordert, dass Deutschland mehr Studenten braucht, mehr Wissenschaftler, mehr Akademiker, und erst in letzter Zeit hat die OECD in ihren Berichten anerkannt, dass auch das berufliche Bildungswesen in Deutschland eine gute Sache ist. Oder habe ich das falsch verstanden?
Schleicher: Nein, das haben wir immer anerkannt und das ist auch eine sehr große Stärke, die auch von vielen anderen Ländern anerkannt wird und auch als Maßstab genommen wird. Nur, das sagt nichts aus über die relativen Gewichte. Die relativen Gewichte sollte man eben nicht durch politisch motivierte Quoten bestimmen, sondern durch den Bedarf am Arbeitsmarkt, und der zeigt ganz klar, dass heute der Bedarf am stärksten steigt bei akademisch oder auch beruflich ausgebildeten Spitzenkräften. Da muss Deutschland besser werden, denn dieser relative Einkommensvorteil, der heißt natürlich für die Wirtschaft, dass diese Kräfte immer teurer werden.
Barenberg: Der Bildungsforscher Andreas Schleicher heute hier im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich für das Gespräch.
Schleicher: Bitte sehr! Danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Immer wieder hat die OECD Deutschland getadelt für eine zu niedrige Akademikerquote. Als Akademikerwahn dagegen kritisiert der Philosoph Julian Nida-Rümelin diese Entwicklung jetzt, einst Kulturstaatsminister unter Kanzler Gerhard Schröder. Heute leitet er die Grundwertekommission der SPD. Er sieht die Einzigartigkeit und die Stärke des deutschen Bildungswesens in Gefahr, wenn immer mehr Schulabgänger studieren und immer weniger eine Ausbildung machen.
Der Bildungsforscher Andreas Schleicher ist Vizedirektor der OECD, bekannt als Koordinator der internationalen Vergleichsstudie Pisa und jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen nach Paris!
Andreas Schleicher: Guten Morgen, Herr Barenberg!
Barenberg: Herr Schleicher, hat Julian Nida-Rümelin recht, wenn er sagt, das traditionelle duale System, also die Kombination von staatlicher Bildung und beruflicher Ausbildung, ist ein Pfund, mit dem wir gar nicht genug wuchern können in Deutschland?
Schleicher: Absolut! Das berufliche Bildungssystem in Deutschland ist eine große Stärke. Aber das sagt eben nicht, dass nicht trotzdem immer mehr Menschen auch eine höherwertige Ausbildung machen sollten. Ob das im beruflichen oder akademischen Bereich ist, ist letztendlich egal, aber der Bedarf steigt rasant. Es gibt kaum ein Land, wo der Bedarf nach Spitzenkräften so stark gestiegen ist wie in Deutschland.
Barenberg: Aber es zeigt sich doch, jedenfalls beklagt Julian Nida-Rümelin das, dass sich die Gewichte zu sehr verschieben, dass immer mehr studieren, immer weniger eine Ausbildung machen und dass dadurch eine bedeutende Grundlage unseres ganzen Wirtschaftsmodells ins Rutschen gerät. Können Sie diese Einschätzung teilen, können Sie der was abgewinnen?
Schleicher: Wissen Sie, es ist völlig abwegig, das als Quotendiskussion zu führen. Das beste Maß ist der Bedarf am Arbeitsmarkt, und Sie sehen, dass ein Hochschulabsolvent heute 74 Prozent mehr verdient als jemand mit Sekundarabschluss oder Lehre und das ist das, was die jungen Leute sehen oder wissen und sich deshalb daran orientieren.
Und ich denke, es gibt auch kein Land, wo dieser relative Einkommensvorteil von Spitzenqualifikation so stark gestiegen ist wie in Deutschland: um mehr als 20 Prozentpunkte in den letzten zehn Jahren. Das zeigt, dass da im Grunde ein großes Zukunftspotenzial liegt. Das muss der beruflichen Ausbildung ja überhaupt nicht abträglich sein. Aber es ist ganz klar, dass die jungen Leute sich daran orientieren. Und im Übrigen: Die meisten, die solche Forderungen erheben, reden immer über die Kinder anderer Leute. Ich denke, das ist heute auch ganz wichtig.
Barenberg: Nun sagt Julian Nida-Rümelin, wenn nur noch, sagen wir, 30 Prozent eines Jahrgangs eine Ausbildung macht, dann lässt sich die Vielfalt der nichtakademischen Fachkräfte gar nicht mehr ausbilden in Deutschland. Hat er damit recht?
Schleicher: Auch das wieder sollte man am Bedarf am Arbeitsmarkt bestimmen. Sie sehen das auch an den Arbeitslosenquoten. Die Arbeitslosenquoten liegen bei Personen mit tertiärer Ausbildung – und ich will da gerne auch den Meisterberuf mit in die Akademikerausbildung hineinbringen; das ist im Grunde ja eine exzellente Ausbildung - die liegt etwa bei der Hälfte derjenigen Personen mit Sekundarabschluss oder Lehre. Ich denke, auch das ist ein Maß, das zeigt, dass auch ein geringerer Anteil durchaus erfolgreich sein kann.
Barenberg: Bleiben Sie also bei Ihrer Empfehlung, ihr sollt auf alle Fälle studieren?
Schleicher: Ich denke, man muss sich von dieser Vorstellung lösen, dass es eine Dualität gibt auf der einen Seite, eine praktische berufliche Ausbildung, und auf der anderen Seite eine lange, sehr akademisch orientierte theoretische Ausbildung. Was man braucht, ist ein größerer, ein besserer Mix, eine stärkere Verbindung zwischen beiden Bereichen, dass es einem Kfz-Mechaniker auch möglich ist, später noch Ingenieur zu werden. Das funktioniert in Deutschland momentan noch nicht gut. Und wenn man ein solches flexibles Bildungssystem hat, dann erübrigt sich diese Frage.
Barenberg: Wie könnten denn solche Brücken aussehen? Sie haben beklagt, dass es keine gibt, dass der Übergang vom einen System zum anderen kaum oder schlecht funktioniert in Deutschland. Wie könnte man das ändern?
Schleicher: Ich denke, wenn es immer mehr junge Menschen gibt, die einen Hochschulabschluss machen wollen – und wie gesagt, dafür gibt es ganz klare wirtschaftliche Anreize -, dann müssen die Hochschulen sich auf ein vielfältigeres Spektrum von Bedürfnissen, von Fähigkeiten, von Ansprüchen einstellen und sehr viel flexibler ihr Angebot strukturieren. Das heißt, es muss von den Professoren auch mehr Innovation, mehr Kreativität bei der Lehre erwarten, dann aber auch entsprechende Abschlüsse anerkennen.
Es muss wie in Australien oder anderen Ländern heute selbstverständlich sein, dass zum Beispiel eine Kfz-Lehre anerkannt wird als Eingangsvoraussetzung für ein Hochschulstudium. Das gibt es in Ansätzen in Deutschland schon, rechtlich zumindest, aber in der Praxis orientieren sich die Hochschulen noch zu sehr an ihrem theoretischen Anspruch für ein sehr begrenztes Spektrum von Studierenden.
Barenberg: Sie schlagen da also einiges vor, um die Durchlässigkeit zu erhöhen. Die OECD fordert ja seit Jahren und hat immer gefordert, dass Deutschland mehr Studenten braucht, mehr Wissenschaftler, mehr Akademiker, und erst in letzter Zeit hat die OECD in ihren Berichten anerkannt, dass auch das berufliche Bildungswesen in Deutschland eine gute Sache ist. Oder habe ich das falsch verstanden?
Schleicher: Nein, das haben wir immer anerkannt und das ist auch eine sehr große Stärke, die auch von vielen anderen Ländern anerkannt wird und auch als Maßstab genommen wird. Nur, das sagt nichts aus über die relativen Gewichte. Die relativen Gewichte sollte man eben nicht durch politisch motivierte Quoten bestimmen, sondern durch den Bedarf am Arbeitsmarkt, und der zeigt ganz klar, dass heute der Bedarf am stärksten steigt bei akademisch oder auch beruflich ausgebildeten Spitzenkräften. Da muss Deutschland besser werden, denn dieser relative Einkommensvorteil, der heißt natürlich für die Wirtschaft, dass diese Kräfte immer teurer werden.
Barenberg: Der Bildungsforscher Andreas Schleicher heute hier im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich für das Gespräch.
Schleicher: Bitte sehr! Danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.