Eine westdeutsche Jugend 1961/1962: Der fünfzehnjährige Apothekerssohn Markus hat auf dem Ostermarkt einen Fotoapparat gewonnen. Jahrzehntelang später tauchen einige der früheren Schnappschüsse wieder auf. Sie haben keine sonderliche Qualität, aber sie setzen intensive Erinnerungen frei. Davon erzählt Klaus Modicks neuer Roman "Klack".
Klaus Modick, Jahrgang 1951, hat sich in vielen seiner Bücher mit Familiengeschichte und der Frage nach der Verlässlichkeit von Erinnerungen auseinandergesetzt. Er hat erfolgreiche Romane geschrieben; dennoch teilt er das Schicksal vieler Autoren, die von Verlag zu Verlag wandern und die im Feuilleton vergleichsweise wenig beachtet werden – in diesem Sieb bleiben zwangläufig immer nur wenige Namen hängen. Im Übrigen wird ja der deutschsprachigen Literatur häufig vorgeworfen, sie sei im Vergleich mit der angloamerikanischen wenig unterhaltsam. Wenn dann aber etwas Entsprechendes erscheint, wird die Tiefe vermisst. Modick trägt es mit Fassung, bzw. er hat in einigen seiner Romane sehr reizvolle satirische Auseinandersetzung mit "dem" Literaturbetrieb geführt.
Der neue Roman "Klack", dessen Ich-Erzähler ein typischer pubertierender Jugendlicher ist, gewinnt zeithistorische Tiefe durch die aus der Perspektive des Jungen gezeichneten Porträts der Eltern und der Großmutter. Drei Generationen unter einem Dach, und Faschismus und Zweiter Weltkrieg sind auch in den Sechzigern noch lange nicht vorbei. Der Vater redet ständig vom "Iwan", der als sowjetischer Soldat zu fürchten ist, den man allerdings wegen seiner echt "russischen Seele" auch wieder bewundern muss und dessen Genügsamkeit ein Vorbild sein sollte: Der Iwan konnte sich monatelang ausschließlich von Sonnenblumenkernen ernähren – und Vater lagert im Keller neben Mutters Eingemachtem Sonnenblumenkerne ein; notwendige Vorräte, denn der dritte und letzte Weltkrieg steht bevor.
Die materiellen Errungenschaften des Wirtschaftswunderlandes Westdeutschland stehen in scharfem Kontrast zu den teilweise paranoisch anmutenden Ängsten, und ganz allgemein zu dem Weltbild der Erwachsenen. Die Jugend soll zwar jetzt nicht mehr so hart wie Kruppstahl werden, aber das katholische Sommerlager mit einem schneidigen Pater als Oberhirten hat durchaus paramilitärische Züge.
1961/62: Modick erzählt davon, wie die "große Geschichte" – Stichworte Mauerbau, Kubakrise, Atomkriegsdrohung - den Alltag im Kleinen berührt. Markus und seine Schwester hören immer wieder, wie gut sie es haben, Beispiel Stachelbeerkompott statt Sonnenblumenkerne. Das klingt oft derart missgünstig, dass man an der Beteuerung, alle Eltern wünschten ihren Kindern ein besseres Leben als das eigene, zu zweifeln anfängt.
Die Spiegelung politischer Geschichte im privaten Leben wirkt manchmal bizarr: Markus´ Großmutter ist empört über eine italienische Familie, die ins Nachbarhaus einzieht, und sie lässt einen Zaun zwischen beiden Grundstücken ziehen. Zu spät, denn Markus hat sich in Clarissa verliebt. Er lässt sich zu "illegalen Grenzüberschreitungen" hinreißen, um das Mädchen aus der Nähe sehen zu können; das Leben wird spannend. Da freut Markus sich wochenlang aufs Kino, auf den Western "die Glorreichen Sieben". Gleichzeitig läuft allerdings auch ein Zeichentrickfilm für Kinder, und Clarissa begleitet ihren kleinen Bruder dorthin. Was tun? Natürlich landet er bei der von Walt Disney angepriesenen "zeitlos-köstlicher Unterhaltung für Jung und Alt" und schielt zur Seite, wo Clarissa mit der feinen geraden Nase und den sanften Wimpern sitzt.
Ein Roman, der auf Wiedererkennen und Identifikation setzt, läuft immer Gefahr, ins Klischeehafte, Stereotype abzufallen. Alles hängt davon ab, wie präzise erzählt wird. Klaus Modick ist allerdings bekannt für seine detailgenauen Tiefenbohrungen. Die Erwachsenen werden hier oft mehr durch ihre Versprecher als durch ihr Sprechen kenntlich. Es hat ihnen zwar die Sprache verschlagen, aber den Mund verbieten lassen sie sich deshalb noch lange nicht. Und so geht der Spott über Hitler, den "Gröfaz", also den "größten Feldherrn aller Zeiten" ganz selbstverständlich mit Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit einher. Demnach sind Italiener vermutlich "ansteckend" und das Reden mit Leuten, die nicht blond und blauäugig sind, würde doch nur auf ein "levantinisches Gefeilsche" hinauslaufen.
Modicks Roman gewinnt seine Komplexität auch durch die kurzen Reflexionen über das Herstellen von Bildern, mit denen er die einzelnen Kapitel einleitet. So ist einmal von Roland Barthes die Rede, der Fotografien nicht als Kopien von Realität ansah, sondern sie als Hervorbringung einer Erinnerungsquelle bezeichnete, als eine Form von Magie. Modick fragt sich, was Bilder zeigen und was sie nicht zeigen, was aber im Gedächtnis wieder lebendig wird. Dazu gehörte einmal das Gefühl der Scham: Scham über die Eltern mit ihren Vorurteilen gegen die italienischen Nachbarn, - Italiener wagen es wahrscheinlich, ihre Unterwäsche im Garten zum Trocknen aufzuhängen - Scham über das eigene "unkeusche" Begehren, vielleicht den roten Schlüpfer der Nachbarstochter anzusehen.
Auf dem wackeligen Foto vom gegenüberliegenden Garten sieht man an der Wäscheleine aber nur Handtücher und Herrenhemden … Auf beiläufige Weise fragt Modick, was uns Bilder zeigen. Sie zeigen ganz banal das, was einem "jetzt" wert erscheint, "für später" festgehalten zu werden. Dabei kennt man doch nicht die Person, die man in 20, 30 Jahren sein wird, das heißt man fotografiert für einen Fremden, einen Auftraggeber aus der Zukunft.
Der Blick des Autors auf den jungen Markus, der trotz eines leichten Altersunterschiedes einige autobiografische Züge hat, ist illusionslos, aber nicht kalt. Markus ist so grob und thumb, so schüchtern und sensibel, er fliegt so hoch in Liebessehnsucht auf und stürzt so tief in Peinlichkeiten oder Scheitern ab, wie es für diese Lebensphase typisch ist. Ein realitätsgesättigter, unangestrengter, gut lesbarer Roman, der unterhält und dabei doch die Frage nach den Mustern stellt, die jede Generation auf unterschiedliche Weise bestimmen.
Klaus Modick: "Klack". Roman, Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 17,99 Euro. ISBN: 978-3-462-04515-4.
Klaus Modick, Jahrgang 1951, hat sich in vielen seiner Bücher mit Familiengeschichte und der Frage nach der Verlässlichkeit von Erinnerungen auseinandergesetzt. Er hat erfolgreiche Romane geschrieben; dennoch teilt er das Schicksal vieler Autoren, die von Verlag zu Verlag wandern und die im Feuilleton vergleichsweise wenig beachtet werden – in diesem Sieb bleiben zwangläufig immer nur wenige Namen hängen. Im Übrigen wird ja der deutschsprachigen Literatur häufig vorgeworfen, sie sei im Vergleich mit der angloamerikanischen wenig unterhaltsam. Wenn dann aber etwas Entsprechendes erscheint, wird die Tiefe vermisst. Modick trägt es mit Fassung, bzw. er hat in einigen seiner Romane sehr reizvolle satirische Auseinandersetzung mit "dem" Literaturbetrieb geführt.
Der neue Roman "Klack", dessen Ich-Erzähler ein typischer pubertierender Jugendlicher ist, gewinnt zeithistorische Tiefe durch die aus der Perspektive des Jungen gezeichneten Porträts der Eltern und der Großmutter. Drei Generationen unter einem Dach, und Faschismus und Zweiter Weltkrieg sind auch in den Sechzigern noch lange nicht vorbei. Der Vater redet ständig vom "Iwan", der als sowjetischer Soldat zu fürchten ist, den man allerdings wegen seiner echt "russischen Seele" auch wieder bewundern muss und dessen Genügsamkeit ein Vorbild sein sollte: Der Iwan konnte sich monatelang ausschließlich von Sonnenblumenkernen ernähren – und Vater lagert im Keller neben Mutters Eingemachtem Sonnenblumenkerne ein; notwendige Vorräte, denn der dritte und letzte Weltkrieg steht bevor.
Die materiellen Errungenschaften des Wirtschaftswunderlandes Westdeutschland stehen in scharfem Kontrast zu den teilweise paranoisch anmutenden Ängsten, und ganz allgemein zu dem Weltbild der Erwachsenen. Die Jugend soll zwar jetzt nicht mehr so hart wie Kruppstahl werden, aber das katholische Sommerlager mit einem schneidigen Pater als Oberhirten hat durchaus paramilitärische Züge.
1961/62: Modick erzählt davon, wie die "große Geschichte" – Stichworte Mauerbau, Kubakrise, Atomkriegsdrohung - den Alltag im Kleinen berührt. Markus und seine Schwester hören immer wieder, wie gut sie es haben, Beispiel Stachelbeerkompott statt Sonnenblumenkerne. Das klingt oft derart missgünstig, dass man an der Beteuerung, alle Eltern wünschten ihren Kindern ein besseres Leben als das eigene, zu zweifeln anfängt.
Die Spiegelung politischer Geschichte im privaten Leben wirkt manchmal bizarr: Markus´ Großmutter ist empört über eine italienische Familie, die ins Nachbarhaus einzieht, und sie lässt einen Zaun zwischen beiden Grundstücken ziehen. Zu spät, denn Markus hat sich in Clarissa verliebt. Er lässt sich zu "illegalen Grenzüberschreitungen" hinreißen, um das Mädchen aus der Nähe sehen zu können; das Leben wird spannend. Da freut Markus sich wochenlang aufs Kino, auf den Western "die Glorreichen Sieben". Gleichzeitig läuft allerdings auch ein Zeichentrickfilm für Kinder, und Clarissa begleitet ihren kleinen Bruder dorthin. Was tun? Natürlich landet er bei der von Walt Disney angepriesenen "zeitlos-köstlicher Unterhaltung für Jung und Alt" und schielt zur Seite, wo Clarissa mit der feinen geraden Nase und den sanften Wimpern sitzt.
Ein Roman, der auf Wiedererkennen und Identifikation setzt, läuft immer Gefahr, ins Klischeehafte, Stereotype abzufallen. Alles hängt davon ab, wie präzise erzählt wird. Klaus Modick ist allerdings bekannt für seine detailgenauen Tiefenbohrungen. Die Erwachsenen werden hier oft mehr durch ihre Versprecher als durch ihr Sprechen kenntlich. Es hat ihnen zwar die Sprache verschlagen, aber den Mund verbieten lassen sie sich deshalb noch lange nicht. Und so geht der Spott über Hitler, den "Gröfaz", also den "größten Feldherrn aller Zeiten" ganz selbstverständlich mit Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit einher. Demnach sind Italiener vermutlich "ansteckend" und das Reden mit Leuten, die nicht blond und blauäugig sind, würde doch nur auf ein "levantinisches Gefeilsche" hinauslaufen.
Modicks Roman gewinnt seine Komplexität auch durch die kurzen Reflexionen über das Herstellen von Bildern, mit denen er die einzelnen Kapitel einleitet. So ist einmal von Roland Barthes die Rede, der Fotografien nicht als Kopien von Realität ansah, sondern sie als Hervorbringung einer Erinnerungsquelle bezeichnete, als eine Form von Magie. Modick fragt sich, was Bilder zeigen und was sie nicht zeigen, was aber im Gedächtnis wieder lebendig wird. Dazu gehörte einmal das Gefühl der Scham: Scham über die Eltern mit ihren Vorurteilen gegen die italienischen Nachbarn, - Italiener wagen es wahrscheinlich, ihre Unterwäsche im Garten zum Trocknen aufzuhängen - Scham über das eigene "unkeusche" Begehren, vielleicht den roten Schlüpfer der Nachbarstochter anzusehen.
Auf dem wackeligen Foto vom gegenüberliegenden Garten sieht man an der Wäscheleine aber nur Handtücher und Herrenhemden … Auf beiläufige Weise fragt Modick, was uns Bilder zeigen. Sie zeigen ganz banal das, was einem "jetzt" wert erscheint, "für später" festgehalten zu werden. Dabei kennt man doch nicht die Person, die man in 20, 30 Jahren sein wird, das heißt man fotografiert für einen Fremden, einen Auftraggeber aus der Zukunft.
Der Blick des Autors auf den jungen Markus, der trotz eines leichten Altersunterschiedes einige autobiografische Züge hat, ist illusionslos, aber nicht kalt. Markus ist so grob und thumb, so schüchtern und sensibel, er fliegt so hoch in Liebessehnsucht auf und stürzt so tief in Peinlichkeiten oder Scheitern ab, wie es für diese Lebensphase typisch ist. Ein realitätsgesättigter, unangestrengter, gut lesbarer Roman, der unterhält und dabei doch die Frage nach den Mustern stellt, die jede Generation auf unterschiedliche Weise bestimmen.
Klaus Modick: "Klack". Roman, Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 17,99 Euro. ISBN: 978-3-462-04515-4.