In insgesamt acht Teilen widmet sich der Deutschlandfunk dem "Projekt Weltverbesserung", dem Traum von einer besseren und gerechteren Welt. Diesmal führt der Schriftsteller Leif Randt ein E-Mail-Interview mit den fiktiven Inifinite Data Studios aus Zürich, einem Büro, das auf beeindruckend flexible Weise mit großen Firmen sowie Künstlern und Künstlerinnen aus ganz Europa kooperiert. Es geht um ideologische Offenheit, um die Ruhe der Schweiz, um Zukunftsmüdigkeit, kollektive Wärme und die Kraft des Optimismus. Ein experimenteller Essay in Interview-Form.
Leif Randt, geboren 1983 in Frankfurt/Main, schreibt vorwiegend Prosa. Seine utopischen Romane „Schimmernder Dunst über CobyCounty" (2011) und „Planet Magnon" (2015) wurden vielfach ausgezeichnet. Im März 2020 ist sein vierter Roman erschienen:„Allegro Pastell". Seit 2017 co-kuratiert er das PDF- und Video-Label tegelmedia.net.
Leif Randt: Im Mai 2020 habe ich ein Interview mit den Infinite-Data-Studios geführt. Toni Fluid und Sander Böhm, die beiden Founder des "Studios für perspektivisch bessere Sommer", haben sich enorm offen gezeigt und mir in E-Mails und Sprachnachrichten Einblicke in ihre Arbeit gewährt.
Sander Böhm: "Meine beste Freundin Tamara war vorletzten Winter für zwei Wochen in Taiwan und vorher für eine Woche in China. In Peking hatte sie ihr Handy kaum noch benutzt, weil fast alle Apps gesperrt waren. Google-Mail, Google-Maps, Instagram und drei von vier Messengern. Abends war sie dann in Peking immer voll überrascht, dass sie noch Akku hatte. Sie hatte eben nur ein bisschen fotografiert. Als sie dann am Flughafen von Taipeh landete, in dem Wissen, dass in Taiwan sämtliche Apps wieder nutzbar sein würden, und sie noch vor der Passkontrolle das Angebot sah: zwei Wochen Infinite Data für umgerechnet 18 Euro, ist eine irre Euphorie in Tamara ausgebrochen. Sie ist dann bei frühsommerlichen Temperaturen in einen Bus gestiegen, durch die grüne taiwanische Landschaft gefahren, und konnte ihr Handy wieder so benutzen wie zu Hause, aber jetzt mit unbegrenztem Datenvolumen. Ich weiß noch, wie ich auf ihr erstes Posting mit 'Willkommen zurück' geantwortet habe. Gleichzeitig wusste sie, dass sie mit Taiwan ein Land erreicht hatte, das progressiv demokratisch und sommerlich warm war. Tamara hat das damals wirklich gut erzählt, sodass dieses Gefühl auch ein Stück auf mich übergesprungen ist, und seitdem stehen die Wörter INFINITE DATA für mich stellvertretend für dieses fast utopische Freiheitsgefühl im Bus nach Taipeh. Meine beste Freundin, Sommerurlaub im Winter, und eine progressive Demokratie auf einer Insel voller schöner Landschaften. Ausschließlich positive Assoziationen … So kamen wir auf den Namen."
Toni Fluid: "Wir haben unseren Sitz in Zürich. In der ehemaligen Käserei des Großvaters meiner Ex-Freundin. Licht von beiden Seiten, Blick auf die Limmat. Dass wir diese fantastischen Räume anfangs mietfrei nutzen konnten, hat uns überhaupt erst in die Schweiz geführt. Nach mittlerweile knapp drei Jahren würde ich sagen, dass wir uns hier wohl fühlen. Trotz allem… Mein Name ist Toni Fluid. Ich bin Co-Founderin der Infinite Data Studios."
"Empathisches Verhalten lohnt sich jetzt auch finanziell"
Randt: "Ihr habt für eure Auftragsarbeiten schon viele verschiedene Unterzeilen verwendet: 'Zukunft für alle', 'Tomorrow Designs', 'The Power of Later', 'Discount Visions', 'SwissUtopia', 'FuturDrei', 'FuturVier', 'FuturFünf'… Das ist teilweise offensiv albern. Als ginge es euch eher um Gags als um Konzepte. Aber sobald man die Arbeiten genau betrachtet, stößt man meistens auf einen seriösen Kern – gut recherchierte Infos, optimistisch verlängert. Für eine Installation der Künstlerin Arabella Space in den Hamburger Deichtorhallen habt ihr im November 2019 einen Zeitstrahl erstellt, für das Ende des Weltwirtschaftsliberalismus in den 20er-Jahren. Der Staatsbankrott der Volksrepublik China im Jahr 2022, den die Künstliche Intelligenz Aladin prophezeit haben soll, war auf diesem Zeitstrahl der Startpunkt einer verheerenden Kettenreaktion."
Fluid: "Arabella sehnt einen Systemwechsel herbei. Radikal und pathetisch. Diese Sehnsucht zu bedienen, gehört zum Handwerk. Da Arabella keine Feelgood‑Künstlerin sein will – auch wenn ich persönlich sie immer so gelesen habe – hat sie für ihren Zeitstrahl auf dieser großen weißen Wand auf die Skizzierung einer Talsohle bestanden. Darauf, dass die 20er-Jahre als ein schmerzvolles Jahrzehnt vor uns liegen. Weil nur eine radikale Krise die Verhältnisse wirklich verändern kann… Dass wir letzten Spätsommer nicht auf die Idee gekommen sind, eine ansteckende Krankheit zu erfinden, die das Wirtschaftsleben weltweit zumindest lahmlegen könnte, werfe ich uns irgendwie schon vor. Es wäre das viel, viel einfachere Szenario gewesen."
Randt: "In anderen Arbeiten entwerft ihr Möglichkeiten, das bestehende System zu übersteigern. In einer Broschüre, die ihr im Herbst 2018 betreut habt, plädiert eine Gruppe junger Ökonomen aus dem Schweizer Kanton Wallis für einen Neoliberalismus 3.0…"
Böhm: "Diverse Lebensbereiche werden monetarisiert. Es ist jederzeit möglich, Geld zu verdienen.
Beispiel A: Ein Freizeitschuh kostet 180 Euro, Dollar oder Franken. Das Tragen dieses Schuhs im urbanen Raum spielt pro Stunde aber 0,1 bis 10 Euro, Dollar oder Franken zurück auf das Konto der*des Träger*in – vorausgesetzt, die herstellende Firma hat sie*ihn beim Kauf als 'repräsentativ' registriert. Besonders repräsentative Kund*innen können sich durch den Erwerb und das offensive Tragen neuer Schuhe also idealerweise etwas dazuverdienen.
Beispiel B: Ein Telefonat mit einem befreundeten Menschen, dem es seiner Selbstdefinition nach gerade schlecht geht, wird als Care-Arbeit gewertet und führt zu einer Überweisung seitens der Krankenkasse. Empathisches Verhalten lohnt sich jetzt auch finanziell."
"Lernfähige, solidarische, fürsorgliche Maschinen"
Randt: "… ob sie mir wohl immer nur zuhört, weil meine gesetzliche Krankenkasse sie so fair dafür bezahlt? Kriegt sie vielleicht sogar höhere Beträge, als ich vermute? Ich glaube nicht, dass mich diese Fragen ernsthaft verunsichern würden. Ich hätte ja selbst ebenso die Möglichkeit, mir durch ein offenes Ohr für Freundinnen und Freunde etwas dazu zu verdienen. Vielleicht würde ich dadurch auch geduldiger. Vielleicht hätten alle insgesamt weniger Stress."
Fluid: "Das Thema bleibt ja immer dasselbe: die bessere Welt. Ob die entsteht, indem wir alles umwerfen, oder nur ein paar Updates erstellen, ist für uns zweitrangig. Ich sehe unsere Hauptaufgabe mittlerweile darin, die Einstellung unserer Kund*innen zu lesen. Wir sagen Jobs immer dann ab, wenn der Abstand zu groß wird zwischen dem, was die Kund*innen sich insgeheim für sich selbst wünschen, und dem, was sie öffentlich präsentieren wollen. Das ist bisher aber erst zweimal vorgekommen. Bei einer kleinen Firma aus Regensburg und bei einem Künstlerduo aus Düsseldorf."
Böhm: "Dieses Paar aus Düsseldorf hat immer so angesetzt, dass sie gesagt haben, was alles nicht geht. Was sie nicht gut finden, was schon immer schlecht war, und was gerade besonders problematisch ist. Die waren superkritisch, und auf ihre Art konnten die das auch sehr gut, die hatten so eine enorme Routine im Kritisieren. Wir haben das nach dem dritten Treffen so interpretiert, dass deren Utopie eigentlich das Leben in einem sehr restriktiven Staat wäre, in dem sie als respektiertes Künstlerpaar aber eine kritische Zelle bilden dürften. Die wünschten sich eine Welt, in der zwar Frieden herrscht, sie aber trotzdem viel Grund zur Klage haben. Und diese Welt haben wir ihnen dann entworfen: Frieden, ein autoritäres Regime, darin aber viel subkulturelle Anerkennung für unser Düsseldorfer Duo der Kritik… Die haben darauf ziemlich sauer reagiert. Die glaubten, die Infinite-Data-Studios wollten sich über sie lustig machen, nur weil sie eben keine so 'penetranten Optimisten' seien wie wir. Dabei fanden wir es voll legitim, wenn man sich ein Leben wünscht, in dem man richtig Grund hat, sich zu ärgern und alles tiefgreifend zu kritisieren. Wir haben dann auch nicht lange gestritten, sondern unser Angebot zurückgezogen."
Randt: "Ein befreundeter Architekt hat mir neulich eine Dokumentation aus der Arte‑Mediathek zum Thema künstliche Intelligenz empfohlen. Ich schaute sie mir an, auf einem kleinen Beamer, der ein leicht unscharfes Bild auf ein Bettlaken warf, und fand die Dokumentation im Endeffekt vor allem reißerisch. Alles war Angst und Panik. China hat ohnehin keine Hemmungen, die Welt zu unterwerfen, mit seinen neuen, unter Hochdruck entwickelten Technologien, und vor dem Abspann wurde eingeblendet, dass bei Google, Amazon und Facebook niemand zum Interview bereit gewesen ist. Einmal sitzt ein spröder Programmierer vor einer Glasscheibe – im Hintergrund Musik, die den Blade-Runner-Filmen entlehnt scheint – und der Programmierer erzählt, dass er es für wahrscheinlich hält, dass sich künstliche Intelligenz dem Menschen gegenüber so verhalten wird wie Menschen sich Tieren gegenüber verhalten. Der Programmierer sagt: Wir Menschen mögen Tiere ja durchaus, aber wir schlachten sie trotzdem. Mein Eindruck ist, dass ihr KI anders interpretiert."
Böhm: "Sobald künstliche Intelligenz dem Menschen überlegen ist, wird ihre Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl auch stärker ausgeprägt sein als die des Menschen. Die neue Technik wird die Kooperation aller Lebewesen auf der Erde optimieren. Wie sollte es anders sein?"
Fluid: "Man kann es auch so sehen, dass künstliche Intelligenz uns entweder A) moralisch retten oder B) unser Ende besiegeln wird. Und vielleicht ist beides gar nicht so schlimm. Negativ wäre nur, wenn sie C) uns unterwerfen und ausbeuten würde. Aber ist Ausbeutung überhaupt intelligentes Verhalten? Die Infinite-Data-Studios plädieren für: 'artifizielle Empathie' statt 'künstliche Intelligenz'. Die Aufgabe sämtlicher Programmierer*innen muss sein, lernfähige, solidarische, fürsorgliche Maschinen zu entwickeln, die uns helfen, selbst zu besseren Wesen zu werden."
"Gesetzestexte basieren auf Umfragen und können sich jederzeit ändern"
Randt: "Die Lebensgefährtin meines Vaters ist Glückstrainerin. Sie bietet Kurse für Manager mittelständischer Unternehmen an, aber auch für Privatleute. Auf ihrer Webseite schreibt sie: 'Zuhören ist meine Stärke, das Erkennen von Blockaden und multidimensionalen Zusammenhängen meine Leidenschaft. Löse mit mir deine Engstellen auf und finde den Anfang deines inneren roten Fadens. Denn: HEUTE fängt der Rest deines Lebens an.' Worin unterscheidet sich diese Dienstleistung von der Dienstleistung, die die Infinite-Data-Studios anbieten?"
Fluid: "Wir haben keinen therapeutischen Anspruch. Es geht nicht darum, dass unsere Kund*innen ihr Leben besser in den Griff kriegen. Trotzdem ist eine Utopie eine sehr persönliche Sache. Wenn wir jemanden trotz längerer Gespräche nicht richtig lesen können, schicken wir manchmal Fragebögen raus. Multiple-Choice. Um zu erfahren, wo die Person steht. Allgemeine Zukunftsthemen. Zum Beispiel 'Demokratie in 25 Jahren'…"
Böhm: "Möglichkeit A: In den meisten Ländern werden politische Ämter via Los und nur auf kurze Zeit vergeben. Dadurch sind viele Menschen direkt an Entscheidungsprozessen beteiligt. Politisches Engagement ist vollkommen normal geworden. Niemand muss noch Berufspolitiker*in sein."
Fluid: "Möglichkeit B: Eine Zentralregierung, unterstützt durch künstliche Intelligenz, kontrolliert die Einhaltung der Menschenrechte weltweit. Die Dehnung und Detail‑Auslegung dieser Charta unterliegt regionalen Verträgen, die sich an den Wünschen der vor Ort lebenden Bevölkerung orientieren. Gesetzestexte basieren auf fortlaufenden Umfragen und können sich jederzeit ändern."
Böhm: "Möglichkeit C: Autokratische, technologisch versierte Staaten halten ihre Bevölkerung im Unklaren über internationale Verwerfungen. Dadurch wird der Frieden dauerhaft gesichert."
Randt: "Ich glaube, ich entscheide mich für Möglichkeit B. Da wäre sie wieder, die weise Künstliche Intelligenz, die zum Schutz der Menschheit auftritt. Was sagt das über mich?"
Fluid: "Eventuell bist du nie erwachsen geworden. Wir sind aber somit die letzten, die das verurteilen würden. Überleg trotzdem mal, wie du dich fühlen würdest in dieser Welt."
"Direkte Demokratie unter kybernetisch-planwirtschaftlicher Kontrolle"
Randt: "Okay… Ich lebe in einer direkten Demokratie unter kybernetisch-planwirtschaftlicher Kontrolle. Seit ich 17 Jahre alt bin, gebe ich jeden Freitag meine Stimme für die Umfrage der Woche ab. Ich beteilige mich so direkt an allen Entscheidungen, die das Zusammenleben tangieren. Alles, was ich zum Überleben brauche, wird vom System bereitgestellt. Die Herstellung und Verteilung von Nahrung ist nachhaltig und automatisiert. Es schmeckt eigentlich alles ziemlich gut, und gesund ist es sowieso. Dadurch, dass niemand mehr schlecht ernährt wird, sind zwar die Kosten für die Nahrungsmittelindustrie gestiegen, aber es werden weniger Menschen krank, was wiederum die Kosten für das Gesundheitswesen senkt. Zwischen 16 und 65 arbeitet man, wenn man gesund ist, an ein bis zwei Tagen in der Woche im sozialen Bereich. Meistens besteht diese Arbeit darin, dass man den Jüngsten und Ältesten hilft. Momentan arbeite ich zwei Tage die Woche in Kindertagesstätten. Weil ich mit Kindern nicht gut umgehen kann, werde ich öfters fürs Kochen von weicher Pasta und für die Sauberhaltung der Bäder abgestellt. Ich komme mit beiden Tätigkeiten gut klar, aber die Kinder gehen mir manchmal auf die Nerven. Es liegt nicht an ihren Persönlichkeiten, die sind eigentlich super, es liegt an der Dynamik der Kinder untereinander. Sie sind sehr laut. Ich habe das Arbeiten mit älteren Menschen immer mehr gemocht und hoffe, dass ich ab nächsten Monat wieder versetzt werde. Es macht mir Spaß, gemeinsam mit anderen laute Musik zu hören und viel zu trinken. Ich mag es, mit meinen Freunden die Zeit zu vergessen und am Folgetag körperlich erschöpft zu sein. Ich finde die Gesetze fair. Solange ich jede Woche an der Umfrage teilnehme, glaube ich, dass Rücksicht auf meine Bedürfnisse genommen wird. Ich kenne Menschen, die sich vom Staat betrogen fühlen. Aber ich kann mich mit Freunden treffen und Musik hören und keiner verbietet es mir."
Böhm: "Ein anderes Thema definieren wir als 'Weltwirtschaft 2043'. Wie viel freier Markt wird möglich sein?"
Fluid: "Möglichkeit A: Einige wenige Firmen beherrschen den Weltmarkt und sind mächtiger als sämtliche Staaten. Wer einen Job bei einer der großen Firmen erhält, hat brillante Aufstiegschancen."
Böhm: "Möglichkeit B: Regionale Wirtschaftskreisläufe – reguliert von umsichtigen Künstliche-Intelligenz-Systemen – gewährleisten eine nachhaltige Produktion. Der Wettbewerb ist eingeschränkt, Eigeninitiative kaum noch gefragt. Reisen sind mit einem so immensen bürokratischen Aufwand verbunden, dass selbst in den wohlhabendsten Regionen mehr als 95 Prozent der Menschen darauf verzichten. Personen unter 55 verbringen im Schnitt 35 Prozent ihrer Freizeit in virtuellen Realitäten. Sie spielen, daten und verlieben sich in der VR. Viele erfüllen sich dort auch den Traum von der Fernreise. Die Simulationen werden stetig besser."
Fluid: "Möglichkeit C: Wirtschaftsliberale und planwirtschaftlich organisierte Regionen existieren friedlich nebeneinander. Der Handel zwischen diesen Regionen wurde auf das notwendigste reduziert. Migration zwischen den Regionen ist mit großen Aufwendungen verbunden, aber möglich."
"Erstens: Was wäre jetzt gerade schön? Zweitens: Warum geht das jetzt nicht?"
Randt: "Ich bin diesmal sogar ziemlich eindeutig bei B. Habt ihr so etwas wie einen Typen B festgelegt, bevor ihr den Fragebogen erstellt habt?"
Fluid: "Du scheinst große Hoffnungen in die Entwicklung neuer Technologien zu setzen. Du wünschst dir eine behütete Welt, in der du dich fallen lassen kannst. Dieser Typus kommt öfter vor – häufiger im kulturellen als im industriellen Segment. Bist du auch Gamer?"
Randt: "Manchmal glaube ich, dass ich es gerne wäre. Aber ich habe das Spielen faktisch schon vor knapp 20 Jahren aufgegeben. Ich hoffe, dass mir Spiele eines Tages wieder gefallen, beziehungsweise dass ich mich wieder darauf einlassen kann. Die Vorstellung, in der VR Freundinnen und Freunde zu treffen und dann gemeinsam gefahrlose Abenteuer zu erleben, gefällt mir."
Böhm: "2043: Wie werden wir arbeiten? – Ich glaube, ich kenne deine Antwort schon. In diesem Fall wäre es Möglichkeit C: Nachdem immer mehr Tätigkeiten von intelligenten Maschinen übernommen wurden, haben die Unterhaltungsbranche, die Künste sowie diverse Geisteswissenschaften an Bedeutung gewonnen. Die Menschen sind zudem fleißiger geworden, seit fremdbestimmte Arbeit verschwunden ist."
Randt: "Ja, das klingt gut. Wenn jeder Mensch wirklich die Zeit bekäme, herauszufinden, was ihm gefällt – davon wären wahrscheinlich mehrere Generationen überfordert, bis es irgendwann aufginge und die meisten eine gute Zeit hätten. Ich habe generell das Gefühl, dass es zu wenige Initiativen gibt, Glück und Zufriedenheit objektiv zu erfassen. Leuten, denen man äußerlich unterstellen würde, dass es ihnen wahnsinnig gut geht, stellen sich bei genauerer Betrachtung oft als ziemlich gebeutelt heraus. Und diejenigen, die arm sind, werden gar nicht erst gefragt. Was meint ihr, wie schlecht geht es den Menschen im Schnitt wirklich?"
Fluid: "Unser Rechercheteam konsultiert in erster Instanz Wikipedia und in zweiter Instanz einen ganzen Pool sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Mir persönlich sind soft facts wichtig. Aber sobald es um Zufriedenheit geht, wird sehr viel gelogen. Denk an dich selbst. Wie konstant ist deine Laune? An guten Tagen ist es einfach, sich wegzuträumen, an andere Orte, in andere Zeiten. An schlechten Tagen funktioniert nicht mal das, weil die Gegenwart eine Belastung ist, und weil an schlechten Tagen keine Zeit und kein Ort noch ein Versprechen darstellt. Was uns manchmal hilft, sind drei einfache Fragen."
Böhm: "Erstens: Was wäre jetzt gerade schön? Zweitens: Warum geht das jetzt nicht? Drittens: Was müsste passieren, damit es geht? In den meisten Fällen stecken wir dann schon in einer Art Brainstorm und kriegen wieder bessere Laune. Sobald wir alles nicht mehr ganz so wichtig nehmen. Und wenn die bessere Laune trotzdem nicht einsetzt, gehen wir zum Sport oder bestellen uns Essen."
"Die tausend Chancen der Pandemie"
Randt: "Es ist für die Leserinnen und Leser dieses Interviews sicher beruhigend, dass sich auch Optimistinnen aus erfolgreichen Schweizer Kreativ-Studios mal durch schlechte Tage tanken müssen. Die Unterstellung ist ja, dass in den zurückliegenden Monaten die allermeisten Menschen weltweit viele schlechte Tage erlebt haben, weil sie krank waren, Angst hatten, krank zu werden, oder vereinsamt sind."
Böhm: "Ich bin Mitte März zu meinen Eltern nach Schleswig-Holstein gereist und saß dort eine Weile lang fest. Würde ich jetzt sagen, dass ich das gar nicht genossen habe, würde ich lügen. Es gab nur das zu tun, was es zu tun gab. Spaziergänge am Strand. Mit dem Handy in der Hand. Zweimal habe ich mich abends vor meinem Laptop betrunken, während ein Videochat offen war. Nachts habe ich ziemlich schlecht geträumt. Im Nachhinein denke ich, dass das vor allem daran gelegen hat, dass ich mit meinen Eltern so viel TV geschaut habe. Als ich anfing, nur noch einmal am Tag die Nachrichten zu verfolgen, und zwar nie länger als zwölf Minuten am Stück, hatte ich keine schlechten Träume mehr."
Fluid: "'Die tausend Chancen der Pandemie', heißt ein Paper, das unsere feste Freie Joelle Noa am Anfang des Lockdowns erstellt hat. Zum Einstieg interviewt sie drei Menschen zwischen 26 und 56, die alle schon mal unter Depressionen gelitten haben, sich in den Wochen des Lockdowns aber als so glücklich wie noch nie beschreiben. Niemand von ihnen hatte noch das Gefühl, irgendwo auf der Welt irgendetwas zu verpassen, was eine enorme Entlastung dargestellt hat. Seit es gesellschaftlich legitim war, dass es einem schlecht ging, ging es den Befragten nicht mehr schlecht. In einem späteren Abschnitt des Papers ging es darum, wie Charaktere, die schon vor der Pandemie ein okay-gelungenes Leben geführt haben, unter den neuen Umständen noch weiter aufblühten. Weil sie endlich eine gesellschaftlich relevante Aufgabe für sich sahen: Desinfizieren, Masken und Handschuhe tragen, freundlich nicken, die Augen leuchten lassen, in einem größeren Bogen vorbeigehen. Joelle Noa hat das wirklich gut zusammengestellt. Seit diesem Paper denken wir zunehmend über Vorschlags-Regime nach. Über das 'Potential des didaktischen Staates'."
Böhm: "Ein Staat, der ständig aufklärerische Sendungen zeigt, kurze Dokumentationen darüber, wie das verantwortungsvolle und faire Leben aussehen könnte. Ein Staat, der keine Verbote macht, aber sehr, sehr viele Informationen gibt, auf sehr vielen Kanälen, die ganze Zeit. Der didaktische Staat könnte gut für alle sein. Die einen könnten sich als Streberinnen und Streber profilieren, die anderen als seine Kritikerinnen und Kritiker. Keine Zwänge, dafür Tipps und Tricks."
Die letzten Kinder der Menschheit
Randt: "Welche Kooperation wäre euch lieber? Eine mit dem deutschen Unternehmen Deutsche Bank oder eine mit dem kalifornischen Unternehmen Facebook?"
Fluid: "Ich bin seit 13 Jahren auf Facebook und seit sieben Jahren auf Instagram – dieses Unternehmen sollte eigentlich wirklich alles über mich wissen. Auf welchen Veranstaltungen ich gewesen bin, für wen ich geschwärmt habe, welche Bildsprache mir in welcher Phase der letzten Dekade am besten gefallen hat. Dass ich in meiner Küche gerne einen Wassersprudler aus Edelstahl stehen hätte, müsste das Netzwerk schon wissen, lange bevor ich es selbst weiß. Stattdessen zeigt es mir die Schuhe an, die ich am Tag zuvor gekauft habe. Und Artikel über Themen, die ich in Gesprächen explizit erwähnt habe. Anstatt mich bloß auszuhorchen, sollte mich das Netzwerk wirklich verstehen. Denn wäre es nicht eigentlich wunderschön, wenn es genau lesen könnte, welche Güter und Dienstleistungen ich mir wirklich wünsche? … 'Facebook – weil du wissen willst, was du wirklich willst'… und nicht weil ich mit Leuten in Kontakt bleiben will, die ich mal im Auslandssemester kennen gelernt habe… Zur Deutschen Bank habe ich keine These. Da müssten wir uns erst einarbeiten. Beide Aufträge wären gleichermaßen reizvoll."
Böhm: "Ein Szenario, das wir bisher nie verkauft haben, ist das vom freiwillig-glamourösen Ende der Menschheit, die Geschichte vom friedlich-sachlichen Reproduktionsstopp. Um den Planeten Erde zu retten, müssten wir, anstatt unsere Lebensgewohnheiten zu verändern, einfach weitere Familiengründungen unterbinden. Es lässt sich relativ gut erzählen: Die Kinder des Jahrgangs 2024 werden die letzten Kinder der Menschheit sein. Letzte Schwangerschaften werden auf den Stichtag 29. Februar terminiert. Die Folge wäre, dass unglaublich viele Menschen, die bis dahin zögerlich waren, doch noch Eltern würden, und die letzte Generation der Menschheit würde breit und geburtenstark und außergewöhnlich gut erzogen. Ihre einzige Aufgabe: eine wirklich gute Zeit haben. Der expansivste Lifestyle aller Zeiten. Die letzten Dekaden auf Paradise Earth."
Fluid: "Typisch für das Leben der letzten Generation wäre der ständige Transitzustand. Alle Grenzen sind offen, automatisiert fliegende Airlines erhöhen den Takt. Menschen pendeln zwischen den Kontinenten. Neue Medikamente gegen Jetlag erleichtern das Reisen bis ins hohe Alter. Live-Events gewinnen an Bedeutung. Einige Musikfestivals dauern ein ganzes Jahr."
Böhm: "Und am Ende herrscht Ruhe. Die letzten Menschen werden zugleich auf ewig die jüngsten Menschen sein. Die Generationen vor ihnen werden alles vorbereitet haben. Sie werden mit den Tieren leben, in Einklang, auf den schönsten Inseln der Welt. Bis der letzte von ihnen geht…"
"Ein Restgefühl, dass sich vieles verändern könnte"
Randt: "Ich kenne Leute, die finden alles erfrischend, was sich gegen die Familiendoktrin richtet. Könnte auch eine Ausgangslage für eine krude TV‑Serie sein. Alle Figuren sind ideologisch verblendet. Fast alle glauben an die große gemeinsame Aufgabe ihrer Generation: den bestmöglichen Abschied von der Erde feiern, eine irre Zeit mit alten Errungenschaften verbringen. Nur absolute Outlaws starten den romantischen Versuch, sich doch noch fortzupflanzen, obwohl das offiziell unmöglich sein soll. Als Zuschauer kriege ich zahllose Identifikationsangebote, einerseits mit den strebsamen Hedonistinnen, die alles genauso machen wollen, wie es ihnen vorgeschlagen wird, aber natürlich auch mit den Aussteigerinnen, die noch an eine Zukunft der Menschheit glauben wollen."
Fluid: "Ich würde die Serie ungern schauen, um ehrlich zu sein. Berufskrankheit vielleicht. Habe mir auch seit über zwei Jahren keine einzige Folge 'Black Mirror' mehr angesehen."
Randt: "Die Übersättigung ist irgendwie real. Ich interessiere mich immer stärker für die Zeit, die exakt zehn Jahre zurückliegt. 2010. Wisst ihr noch? Oder sieben Jahre… 2013… Vielleicht muss ich diese Frage doch noch stellen. Liebe Toni, lieber Sander, stellt euch vor, ihr hättet eine Zeitmaschine gebaut, welche Ziele würdet ihr wählen?"
Fluid: "Tokio im Frühling 1987."
Böhm: "San Francisco im September 2007… Berlin im Mai 1993… und… Zürich im August 2020. Doch, wirklich. Wenn es noch ein Restgefühl davon gibt, dass sich vieles verändern könnte. Dass wir vielleicht doch in einer Zeit des Umbruchs und der solidarischen Transformation leben. Angetrunken an der Limmat, an einem brachial warmen Freitagnachmittag im August 2020. Ich glaube, das wird richtig gut."