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Schriftstellerin Julia Franck
"Wir brauchen den säkularen Staat"

Die Schriftstellerin Julia Franck spricht sich für mehr Religionskritik aus. "Nur ein säkularer Staat, der keine der Religionen finanziell oder ideologisch befördert, kann der Gefahr des Fundamentalismus entgegenwirken", sagte die Autorin im Deutschlandfunk. Religionskritik müsse geprägt sein von "gegenseitiger Achtung".

Julia Franck im Gespräch mit Andreas Main |
    Julia Franck, deutsche Schriftstellerin, Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2007, aufgenommen am 15.11.2011 in Mainz.
    Julia Franck, deutsche Schriftstellerin aus Berlin (dpa / Erwin Elsner)
    Julia Franck ist 1970 in Berlin geboren und hat unter anderem Philosophie studiert. Die New York Times hat die Schriftstellerin mit Thomas Mann verglichen. Vor neun Jahren hat sie den Deutschen Buchpreis bekommen.
    Andreas Main. Nicht jeder muss sie kennen, aber viele, sehr viele haben Julia Franck gelesen. Sie ist eine der renommiertesten, erfolgreichsten Schriftstellerinnen - zumindest ihrer Generation. Ihr Roman "Die Mittagsfrau" wurde über eine Millionen Mal verkauft und ist in fast 40 Sprachen übersetzt. Es geht jetzt hier aber nicht um Literatur, sondern um Religion. Hier und heute im Gespräch mit Julia Franck. Und weil Religion eine sensible Angelegenheit ist und Julia Franck nicht zu jenen Schriftstellern gehört, die in guter, alter Günter-Grass-Manier zu allem und jeden was sagen – aus diesem Grund zeichnen wir dieses Gespräch auf, sitzen uns hier gegenüber in unserem Berliner Funkhaus. Guten Morgen, Julia Franck!
    Julia Franck: Schönen guten Morgen, Herr Main.
    Main: Frau Franck, lassen Sie uns mit einer fiesen Frage beginnen. Sie sind eher zurückhaltend, was Interviews betrifft. Warum haben Sie ausgerechnet zu einem Gespräch zugesagt, in dem es um etwas so Heikles geht wie die Religion?
    Franck: Vielleicht gerade deshalb. Ich denke, nicht nur wenn wir Kinder haben, auch in der Weise, wie wir aufgewachsen sind hier in Mitteleuropa, in Deutschland, ganz gleich ob im Osten oder im Westen, spielt die Religion immer auch eine Rolle in unserer Vorstellung und Geschichtserzählung von uns selbst, wie wir geworden sind, woher wir kommen, wohin wir gehen werden oder wollen. Und zwar nicht nur in Bezug auf die wirklich religiösen Inhalte, nicht in Bezug auf Rituale und Glaube, sondern natürlich auch in Bezug auf Moral und Ethik, wie ein Zusammenleben in unserer Gesellschaft funktionieren kann. Und das ist traditionell in allen abendländischen Kulturen nicht nur staatlich gelenkt, sondern der Staat hat den Auftrag, das Religiöse in sich zu akzeptieren und seinen Raum zu lassen.
    "Ohne Kenntnis der Religionen keine Toleranz"
    Main: Wir sind in Kontakt gekommen, als ich nach Gesprächspartnerinnen suchte für eine Reihe zum Thema Religionskritik. Sie sagten damals, sie fänden eine solche Reihe äußerst wichtig. Die Reihe ist übrigens leicht zu finden im Netz auf der "Tag für Tag"-Seite auf deutschlandfunk.de zum Nachhören und Nachlesen. Warum, Julia Franck, sagten Sie damals, eine Reihe zur Religionskritik sei äußerst wichtig?
    Franck: Ich glaube, dass wir es uns zu leicht machen, wenn wir immerzu von Toleranz sprechen ohne genauere und tiefere Kenntnis der unterschiedlichen Religionen, wenn wir von Toleranz sprechen ohne zu berücksichtigen, dass es Menschen gibt, die glauben müssen, und andere, die nicht glauben können und auch nicht glauben wollen. Dass wir einen Dialog mindestens zwischen den unterschiedlichen Überzeugungen und spirituellen Welterklärungsmodellen benötigen, um in einer staatlichen Verfassung, in einer Gesellschaft, die säkular sein will und soll, zusammenzuleben.
    Main: Und dazu gehört auch eine kritische Position?
    Franck: Dazu gehört deshalb eine kritische Position, weil alles andere natürlich eine Art der Diktatur wäre und insofern auch unbedingt gewaltförderlich. Wir wollen aber möglichst gewaltfrei leben. Dafür sind der Dialog und auch die Kritik an Religion notwendig.
    "Von meiner Herkunft her bin ich jüdisch"
    Main: Um das, was Sie sagen, einordnen zu können, möchte ich Ihnen die Gretchenfrage stellen. Nicht um irgendwelche Bekenntnisse zu provozieren, sondern um der Transparenz willen. Also die Gretchenfrage: Nun sag, wie hast du's mit der Religion?
    Franck: Von meiner Herkunft her bin ich ja jüdisch, aber nicht gläubig. Mit nicht-gläubig möchte ich vor allem zum Ausdruck bringen, dass ich nicht fromm bin, dass ich aus bestimmten Gründen auch nicht Gemeindemitglied bin in Berlin, mich sowohl für die christliche Kirche, als auch für den Dialog der Religionen einsetze und hierin, glaube ich, gerade auch was Zusammenleben in der Stadt zwischen Muslimen, Christen, Juden und Menschen ohne Religion anbelangt, einen sehr offenen Horizont befördern möchte und bevorzuge.
    Das ist gerade in Bezug auf Kinder, die hier in der Stadt zur Schule gehen, von äußerster Wichtigkeit, weil die Ächtung und der Ausschluss gerade über Religion zu den einschneidendsten Erlebnissen gehören, die Schüler in dieser Stadt machen.
    "Kritik ist Achtung vor der Überzeugung des Anderen"
    Main: Wie funktioniert das?
    Franck: Die Gemeinschaftsbildung über Religion funktioniert in einem erheblichen Maß spätestens in der frühen Pubertät, und zwar sowohl von denjenigen ausgehend, die an keinen Gott glauben als auch für diejenigen Kinder, die entweder traditionell religiös erzogen werden oder sich für Religionen interessieren.
    An der Gesamtschule in Brück (Landkreis Potsdam-Mittelmark) gestalten Schülerinnen und Schüler im neuen Unterrichtsfach Lebenskunde, Ethik, Religion Plakate zum Thema Tierversuche. An 44 Brandenburger Schulen wird dieses Fach unterrichtet, das für die mehrheitlich nicht konfessionell gebundenen Schülerinnen und Schüler eine Alternative zum Religionsunterricht bietet. Ein Gutachten des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung und der Humboldt-Universität zu Berlin ist Anfang Juni 1995 zu dem Schluss gekommen, dass das Fach nach Behebung grundlegender konzeptioneller Schwächen ausgebaut und schließlich als ordentliches Unterrichtsfach eingeführt werden sollte. Foto: Jens Kalaene +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
    Lebenskunde, Ethik, Religion - Unterricht an einer Gesamtschule (picture-alliance / dpa-Zentralbild / Jens Kalaene )
    Und diese Vorbehalte, Vorurteile, die können nur ins Auge gefasst werden und Teil unseres Diskurses sein, wenn Kritik gleichzusetzen ist mit Achtung. Ich glaube, dass Kritik im besten Sinne eine Achtung vor der Überzeugung des Anderen ist.
    Main: Das hat sie offenbar so erschreckt, was womöglich auch ihr Sohn und ihre Tochter erlebt haben, dass sie darüber intensiver nachgedacht haben. Was läuft das konkret schief in den Schulen?
    Franck: Nein erschrecken nicht. Ich würde nicht sagen, dass mich bestimmte Beobachtungen da erschreckt haben oder erschrecken. Im Gegenteil: Ein wirklich großer Vorteil einer Stadt wie Berlin ist, dass Kinder insbesondere und zumindest an öffentlichen Schulen tatsächlich mit Kindern aller Religionen und auch ohne Religion zusammenkommen und sich in diesem Umfeld untereinander verständigen, Kenntnis erlangen.
    Der Religionsunterricht, wie er in den Grundschulen, in den öffentlichen Schulen bei uns angeboten wird, ist zwar von der Kirche organisiert, wird aber in aller Regel nicht mal streng konfessionell nach katholisch und evangelisch unterschieden. Und selbst im evangelisch-katholischen Religionsunterricht finden die anderen Religionen ihren Platz, keinen besonders großen, aber sie finden einen gewissen Platz.
    "Wie Kinder zu Religionsliebhabern werden - zu meinem Erstaunen"
    Das erscheint mir insofern sinnvoll, als auch Kinder, wie auch meine Kinder es sind, die nicht fundamental religiös aufgewachsen sind, darin ihre Neugier befriedigen können und sich tatsächlich – zu meinem Erstaunen, das hätte ich von mir aus nicht so kommen sehen – sich zu wahren Religionsliebhabern entwickeln können.
    Mein Sohn hat sich entgegen der nicht-frommen Wiege in einem Ausmaß für Religionen und Kulturen interessiert, dass er nicht nur der Lieblingsschüler seines Religionslehrers an der Grundschule wurde, sondern dass er unbedingt Hebräisch lernen wollte. Und über das Hebräisch-Lernen ist er dann auch in seine oder unsere Religion viel stärker hineingewachsen, als ich ihm das jemals anbieten oder vorschlagen konnte, da ich kaum hebräisch kann, spreche. Abgesehen davon, dass ich die Kinder seltene Male mit in die Synagoge nahm, sie auch nicht mit einem umfangreichen Angebot zur religiösen Lehre oder überhaupt auch nur zur Kunde in der Heiligen Schrift erziehen konnte.
    Und diese Möglichkeit des öffentlichen Religionsunterrichts, der ein übergreifender und ein von Respekt getragener Religionsunterricht hier an den öffentlichen Schulen ist, das sehe ich als einen großen Vorteil in einer Stadt wie Berlin.
    Main: Sie wollen die Religionsfrage quasi offen halten – innerfamiliär, aber eben im Religionsunterricht und dann auch gesellschaftlich. So verstehe ich Sie zumindest. Das bedeutet: Wie ist für Sie, um mal bei dem Beispiel Religionsunterricht zu bleiben, wie ist der für Sie idealerweise organisiert?
    Franck: Der Religionsunterricht an den öffentlichen Grundschulen, die in Berlin immerhin bis zur 6. Klasse gehen, oder sagen wir auch an den weiterführenden Schulen…
    "Religionsunterricht darf die Philosophie nicht ausschließen"
    Main: Schauen wir aber ruhig über Berlin hinaus. Wie sollte er grundsätzlich organisiert sein? Auch wenn es Ländersache ist.
    Franck: In meinen Augen ist der Religionsunterricht dann erfolgreich und in einer guten Weise organisiert, wenn er die Philosophie nicht ausschließt. Im Gegenteil – wenn es ein Unterricht ist, der vielleicht sogar als Zentrum Ethik, Moral und Religion in der Philosophie als Lehrstoff vorsieht. Denn nur von dort ausgehend kann er einen gleichberechtigten Blick zu den unterschiedlichen Religionen werfen.
    Man kann im Religionsunterricht sicherlich nicht den Glauben lehren. Die Fähigkeit des Glaubens muss in einem Menschen wachsen aus seiner Gemeinde heraus, aus seiner Familie heraus, aus seinem Wesen heraus, wenn es denn überhaupt zu einer Glaubensfähigkeit kommt im Menschen. Aber ich glaube nicht, dass ein öffentlich-schulischer Religionsunterricht tatsächlich im Glauben unterrichten kann, den Glauben selbst lehren kann. Das wäre so fatal anzunehmen, wie dass ein Unterricht das Lieben lehrt oder das Empfinden von Schönheit lehrt.
    In der Merkez-Moschee in Hannovers Innenstadt sprechen die Viertklässler der Theodor-Heuss-Grundschule am Montag (15.03.2004) mit dem Besucherführer Soner Durmaz (l). Im Rahmen des Unterrichts über Weltreligionen wurde den Kinder der Islam erklärt. Vom niedersächsischen Kultusministerium werden derartige Besuche begrüßt. Foto: Wolfgang Weihs | Verwendung weltweit
    Grundschüler besuchen eine Moschee (dpa / Foto: Wolfgang Weihs)
    Ich halte diese Fähigkeiten des Menschen - Glauben, Lieben, Schönheitsempfindung, -erkenntnis - für Fähigkeiten, die angeregt werden können durch Erkenntniszuwachs in der Schule, aber nicht unterrichtet und erst recht nicht in dem Sinne gelehrt werden können, dass am Ende das Produkt eines solchen Unterrichts der gläubige Schüler wäre, egal welcher Religion. Aber ein Kind sollte im Religionsunterricht die Überzeugung, die Gebote, die Rituale, den Ursprung und am besten sogar, wenn auch in einer rudimentären Weise die Sprache der jeweiligen Religionen kennenlernen.
    Tatsächlich halte ich die Sprache für die kognitive Initiation aller religiösen Entstehungs- und Entwicklungsweisen. Das kann man auch sehr gut an Religionen und ihren Verschriftlichungen nachvollziehen. Wobei wir natürlich über die mündliche Überlieferung zuvor nur Mutmaßungen anstellen können.
    "Es ist gefährlich, wenn ein Staat sich zu sehr mit einer Religion verschwistert"
    Main: Sie haben es mehrfach angedeutet, es geht Ihnen offenbar um den religionsneutralen, säkularen Staat. Welche Gefahren sehen Sie, wenn Religionsgemeinschaften zu sehr verquickt sind mit dem Staat?
    Franck: Eine Gefahr ist es natürlich, wenn ein Staat sich zu sehr mit einer Religion verschwistert, dass im Namen des jeweiligen Gottes bestimmte Strukturen und Regeln der Gesellschaft erfunden, entwickelt und einzuhalten wären. Dass im Namen eines Gottes gemordet wird. Dass im Namen eines Gottes geheiratet werden sollte. Dass im Namen eines Gottes bestimmte Lebensformen, die in unserer nicht nur säkularen, sondern auch liberalen Gesellschaft heute zum Glück lebbar sind, dass die Formen ausgeschlossen werden, weil sie sich nicht mit den in der jeweiligen Religion verankerten Moralvorstellungen vertragen. Und das würde ich äußerst bedenklich finden, denn das ist eine der zivilisatorischen Errungenschaften Mitteleuropas oder der westlichen Welt.
    "Religionen werden vereinnahmt zur Ächtung von Menschen"
    Main: Sie denken an den liberalen freiheitlichen Staat, haben jetzt aber gerade drum herum geredet, welche Religion Sie besonders meinen. Ich tippe, Sie dachten gerade an den Islam.
    Franck: Wenn ich ehrlich bin, denke ich nicht nur an den Islam. Selbst in Deutschland und von Deutschland aus, muss man bedauerlicherweise sagen, wurden im Namen der Kirche zwar auch Menschen gerettet im Zweiten Weltkrieg, aber andere auch getötet und verraten. Im Namen des Gottes wird nicht nur in arabischen Staaten geächtet, ausgeschlossen und gemordet, sondern geächtet und ausgeschlossen wird natürlich auch von einem Staat wie Israel aus. Also diese Vereinnahmung einer Religion und eines Gottes zum Ausschluss und zur Ächtung von Menschen anderer Überzeugungen geschieht in jeder Verquickung von Staat und Religion.
    Main: Meine Frage war reichlich gemein. Und mir war klar, dass Sie die Gefahren in allen monotheistischen Religionen vor allem sehen, weil es Offenbarungsreligionen sind.
    Franck: Die auch keine anderen Götter zulassen, natürlich.
    "Wenn ich über Luther nachdenke, überwiegen die Lichtseiten"
    Main: Das ist auch passiert – das ist ein thematischer Sprung – bei Martin Luther. Sie haben sich in den vergangenen Tagen auch zum Reformationsjubiläum geäußert. Wir sind gerade in diesem großen Jubiläumsjahr. Mir scheint es da spannend in dieser Sendung auch einmal die Perspektive einer jüdischen Schriftstellerin auf dieses Großereignis zu hören. Der Judenhass des alten Martin Luther ist viel besprochen worden – den lassen wir jetzt mal beiseite. An Sie die Frage: überwiegen für Sie mehr die Licht- oder die Schattenseiten, wenn Sie über Martin Luther nachdenken?
    Das Bild zeigt eine Skulptur aus Bronze des Reformators Martin Luther in Worms.
    Die Infragestellung des Fegefeuers - eine der Lichtseite Luthers (picture-alliance / dpa / Uwe Anspach)
    Franck: Wenn ich über Martin Luther nachdenke, überwiegen eindeutig die Lichtseiten. Und zwar aus folgendem Grund: weil er in seinen Thesen unter anderem die Infragestellung der Instrumentalisierung von Gewalt in Form der Darstellung und auch der Drohgebärde, die von diesen Bildern des Fegefeuers ausgehen, der Darstellung von Gewalt ein kritische Abkehr gezollt hat und sich natürlich auch gegen bestimmte Macht-Hierarchien und die Ausbeutung schwächerer, ärmerer Menschen gestellt hat.
    "Abkehr von der Gewalt im Namen Gottes"
    Diese ursprünglichen revolutionären Gedanken, Thesen, die er formuliert hat, die führten natürlich nicht unmittelbar zu einer Befriedung des mittleren Europas. Langfristig gesehen, glaub ich aber, dass darin tatsächlich eine Abkehr von der Gewalt im Namen Gottes stattgefunden hat. Dass die Gleichberechtigung, wie sie zwischen Menschen unterschiedlichen Geschlechts, aber auch unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Religionen, überhaupt die Achtung des Menschen als Mensch, selbst wenn er einer anderen Religion angehört und nicht nur das konfessionsinterne Standesdenken befördert hat, das – glaube ich – sind Gedanken, die durch Luther in die nordwestliche Hemisphäre Europas und auch der Welt geraten sind, die tatsächlich zu der Möglichkeit nicht nur einer demokratischen, sondern auch einer säkularen, wenn auch abendländisch geprägten Welt geführt hat.
    Main: Also Luther nicht unbedingt als Vordenker, aber als Vorbereiter dessen, was Ihnen wichtig ist. Eine auf Menschenrechten basierende freiheitliche Demokratie.
    Franck: Genau.
    "Mit Freiheit meine ich einen möglichst weiten Horizont"
    Main: Wenn ich mal das, was Sie zum Religionsunterricht gesagt haben und zur Reformation gesagt haben, bilanziere, dann ist das durchzogen von einer großen Sehnsucht nach Freiheit. Ist es das, was Sie auch fasziniert, inwieweit in philosophischen und religiösen Strömungen Freiheitsdenken impliziert ist?
    Franck: Das sind natürlich philosophisch sehr schwierige Fragen, weil Freiheit immer auch bedeutet, dass wir die Grenzen und die Strukturen des anderen respektieren. Also es gibt ganz sicher keine Freiheit, die darin münden würde, dass der Einzelne nehmen und an der Welt bedienen könnte, wie ihm der Sinn danach steht.
    Eine Kette von Eisbergen im grönländischen Thule.
    Freiheit - ein möglichst weiter Horizont (imago stock&people)
    Sondern mit Freiheit meine ich tatsächlich ein möglichst weiten Horizont, der es unter anderem möglich macht, dass wir in einer Stadt wie Berlin nicht nur eine Bischöfin, nicht nur einen schwulen Rabbiner hätten, nicht nur eine wie mich selbst, die keiner Gemeinde angehört, jüdischer Herkunft ist und trotzdem von Bischof Huber vor 17 Jahren zugelassen wurde als christliche Patin – wobei eben christlich für mich nicht gilt – aber Patin für ein Christenkind, das er getauft hat.
    Solche Entscheidungen, dass die Kirche das zulässt und ermöglicht, zeugen von großer Transparenz und Offenheit innerhalb einer gläubigen und auch säkularen Welt.
    Main: Solche Entwicklungen, wie Sie eben skizziert haben – sind Sie, was die Entwicklung der Religionsgemeinschaften betrifft zurzeit eher optimistisch oder eher pessimistisch?
    Franck: Wenn wir uns das religiöse Zusammenleben oder Aufeinanderstoßen und auch Bekriegen betrachten, dann befinden wir uns sicherlich in einer Phase, die einen pessimistisch sein lässt. Trotzdem und gerade deshalb ist es so wichtig, eine Kritik der Religionen zu befördern, ein Gespräch, einen Diskurs über Religionen und auch Religionslosigkeit – das möchte ich noch immer wieder auch betonen – zu befördern. Denn das ist – glaube ich – die Gefahr jeder Religion und der Religionen untereinander.
    In der Absicht, sich vor den anderen, den "Fremden" zu schützen, wird eine Fundamentalisierung, eine Radikalisierung befördert. Dem entgegen wirken kann meines Erachtens nur ein säkularer Staat, der keine der Religionen als finanziell oder auch ideologisch befördert sehen möchte.
    Main: Julia Franck, Schriftstellerin aus Berlin mit einem religionskritischen, jüdischen Blick auf die Welt. Danke auf Frau Franck, dass Sie Ihre Neugier, Ihr Nachdenken mit uns geteilt haben – gerade auch vor dem Hintergrund, dass Sie sich in Schreibklausur begeben zurzeit. Danke Ihnen!
    Franck: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.