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Schulwesen
Estlands digitales Klassenzimmer ist Spitze in Europa

Lehrer arbeiten hauptsächlich mit Smartboards, die Unterrichtsbücher sollen schon in Kürze komplett digital sein: In Estland ist das digitale Klassenzimmer Alltag - und ein Erfolgsmodell. Das kleine baltische Land rückte im PISA-Ranking auf Platz eins in Europa vor.

Von Christoph Kersting |
    Schüllerinnen und Schüler einer Grundschule zeigen auf eine Schultafel
    Digitale Schultafeln gibt es nur in einigen deutschen Klassenzimmern - in Estland gehören sie längst zum Alltag (dpa /Armin Weigel)
    Ein Zug fährt um 10 Uhr in Tartu los und erreicht vier Stunden später die Stadt Pärnu an der Ostsee – also um 12, 13, 14 oder 15 Uhr? Diese und weitere Aufgaben stellt Mathe-Lehrerin Riina Leppmaa ihren Drittklässlern über ein Smartboard, eine interaktive Tafel. Jedes der 20 Kinder hält eine große Karte bereit, auf die ein individueller QR-Code gedruckt ist. Jede Längsseite der Karte steht für eine mögliche Antwort von A bis D. Die Schüler und Schülerinnen müssen nun einfach die richtige Seite mit dem jeweiligen Buchstaben gut sichtbar nach oben halten.
    Die Lehrerin scannt währenddessen die gesamte Klasse samt QR-Code mit ihrem Smartphone – und erhält Sekunden später das Resultat angezeigt: Nur einer der Schüler hat 13 Uhr ausgerechnet, alle anderen liegen richtig: Antwort C, 14 Uhr.
    Auch für den Lehrer interessanter
    QR-Codes und Lehrer mit dem Smartphone in der Hand – keine Spielerei, sagt Kaarel Rundu. Er ist Direktor des Saksa Gümnaasiums in Tallinn, einer ganz normalen Schule inmitten von Plattenbauten im Süden der estnischen Hauptstadt. Der Einsatz digitaler Technik biete viele Vorteile, erzählt der Direktor auf dem Schulflur:
    "Natürlich die Möglichkeit für den Lehrer selber den Unterricht auch für sich interessanter zu gestalten und Statistiken und Daten als Feedback zu benutzen: Mit der Klasse muss ich noch dieses Thema abhandeln. Da kann ich jetzt weiter gehen. Und dass nicht so viele Arbeitsblätter gedruckt werden und aufgeteilt werden..."
    Die Lehrer erhalten quasi per Knopfdruck Entwicklungskurven der gesamten Klasse über einen bestimmten Zeitraum, genauso wie den Fortschritt einzelner Schüler. Eltern, Schüler und Lehrer kommunizieren zudem über das digitale Klassenbuch "Ekool": Dort werden Lerninhalte, Hausaufgaben, Fehlstunden eingetragen.
    Im Schnitt gibt Deutschland pro Schüler mehr aus
    Während Deutschland im Jahr 2018 einen längst überfälligen Digitalpakt schmiedet und mit fünf Milliarden Euro schnelles Internet an die Schulen bringen will, sind digitale Klassenzimmer in Estland längst Alltag. Nur am Geld kann das nicht liegen: Fünf Prozent seiner Wirtschaftsleistung gibt Estland laut OECD für Bildung aus, wenig mehr nur als Deutschland mit 4,3 Prozent. Pro Schüler gibt Deutschland sogar im Schnitt deutlich mehr aus: 7.330 Euro jährlich, in Estland sind es nur 5.800 Euro.
    Sprecher: Estlands Bildung ist jedenfalls ein Erfolgsmodell, und die Offenheit für Neues, auch für digitale Technik im Unterricht, wird dabei sicherlich eine Rolle spielen. Inzwischen haben die Esten bei den PISA-Ergebnissen sogar den langjährigen Klassenprimus Finnland von Platz 1 in Europa verdrängt. Dabei gehe es nicht um ein absolutes und blindes Vertrauen auf alles Digitale, betont Schuldirektor Kaaerel Rundu:
    "Das heißt, obwohl das estnische Bildungsministerium 2020 alle Lehrbücher digital haben möchte, heißt das nicht automatisch, dass wir 45 oder 90 Minuten alles digital machen. Das Curriculum der Schulen ist so aufgebaut, dass es acht verschiedene Grundkompetenzen gibt. Und das Letzte, das hinzugefügt worden ist, sind die digitalen Kompetenzen. Das heißt: Wie schütze ich mich? Datenschutz, meine digitale Identität. Wie benehme ich mich im digitalen Bereich?"
    "Dieses Digitale ist inzwischen Teil unserer DNA"
    Was unterscheidet also Estland von anderen Ländern wie Deutschland, wenn es ums Digitale geht? Die Esten seien einfach pragmatischer, hätten immer sofort Lösungsansätze im Blick anstatt sich zu lange mit Problemen aufzuhalten, sagt die Historikerin Kristina Kalas von der Uni Tartu:
    "Dieses Digitale ist inzwischen Teil unserer DNA, könnte man sagen. Es ist unumkehrbar, es verschafft uns einen Platz auf der Weltkarte – und das ist immens wichtig für ein kleines Land wie Estland, das kein Öl oder andere Rohstoffe hat."