Auf einem markanten Felssporn erhebt sich Saillon mit seinem Burgturm wie ein Adlerhorst am Rande der kilometerbreiten Rhone-Ebene im Kanton Wallis. Die von zahlreichen Dreitausendern umgebene 2.000-Seelen-Gemeinde ist eines der besterhaltenen mittelalterlichen Dörfer der Schweiz. Dicke Stadtmauern umgeben den Dorfkern mit seinen verwinkelten Gassen und Häusern aus verwittertem Bruchstein oder sonnengegerbtem Lärchenholz.
Das Kurioseste von Saillon liegt knapp außerhalb des Dorfes inmitten der Rebstöcke, die selbst an Steilhängen noch streng in Reih und Glied stehen. Auf einem baumbestandenen Hügel liegt ein besonderer Weinberg: der des Dalai Lama. Außergewöhnlicher noch:
"1,618, 1,618", wiederholt der 88-jährige Pascal Thurre mit schwacher Stimme und umreißt die Größe des Feldes. 1,618 Quadratmeter – so eingetragen im Grundbuch. Der kleinste Weinberg der Welt. Drei Rebstöcke roten Muskatellers ranken hier. Dass das geistliche Oberhaupt der Tibeter Bonsai-Winzer wurde, daran hatte Pascal Thurre maßgeblichen Einfluss.
Rebstöcke zu Ehren von Joseph-Samuel Farinet
Aber der Reihe nach – wir lassen uns dabei von der Stimmung bei der bevorstehenden Mini-Weinernte mitnehmen. "Hier im Wallis, im Süden der Schweiz, hier hat ein Mann namens Joseph-Samuel Farinet gelebt. Er war ein Bandit, galt als Robin Hood der Schweiz, und war Falschmünzer." Es sind die Jahre zwischen 1870 und 1880.
"Ein Schurke mit großem Herz. Er hat millionenfach Falschmünzen gefertigt und hat alles verschenkt." Bald schon stammt jede dritte 20-Rappen-Münze in der Region aus Farinets Werkstatt. Über Jahre hinweg hat er mit Rückhalt in der Bevölkerung im Katz- und Maus-Spiel mit den Gendarmen die Nase vorn, bis er schließlich im März 1880 in einer Schlucht bei Saillon eingekesselt wird. Tage später findet man die Leiche des 34-Jährigen im Bachbett. Abgestürzt oder erschossen? Mythen ranken sich um seinen Tod.
1939 wird das Leben des Falschmünzers verfilmt. Darin wird Farinet dargestellt als heimlicher Schweizer Nationalheld, edel wie Wilhelm Tell. Jean-Louis Barrault spielt die Hauptrolle. Jahrzehnte später schmiedet er mit Freunden einen Plan. Zum Gedenken an Farinet sollen exakt 100 Jahre nach dessen Tod drei Rebstöcke in Saillon gepflanzt werden. Die Gruppe, das ist "Tino Rossi, Léo Ferré, Gilbert Bécaud, ich, Jean-Louis Barrault", zählt Pascal Thurre auf. Sie nennt sich Freunde Farinets, und lotst seither jährlich große Namen der Weltprominenz zur Ernte auf die Scholle. "Michael Schumacher, Maurice Béjart, Gina Lollobrigida…" Die Liste ist lang. Auch Claudia Cardinale, Cecilia Bartoli, Peter Ustinov, Roger Moore waren hier.
Aus zwei Dezilitern werden 1.000 Flaschen
Da sich kaum mehr als eine homöopathische Menge aus den Trauben pressen lässt, wird der Saft mit 750 Litern Schweizer Grand Cru gemischt und auf nummerierte Flaschen gezogen. "Ein Wunder: Von zwei Dezilitern kommen tausend Flaschen, und es ist immer ein sehr guter Wein", kommentiert verschmitzt Rita Gay, eine der wenigen Frauen im inzwischen 22-köpfigen Freundeskreis. Verkauft wird der edle Tropfen zugunsten von Kinderhilfeprojekten. "Schon über eine Million sind da schon reingeflossen und verteilt worden."
Auch eine Durststrecke ist überwunden. Nach dem Tod von Barrault geht das Fleckchen Erde 1995 in den Besitz von Abbé Pierre über. Katholischer Priester, Begründer der Emmaus-Bewegung und strenger Alkoholgegner. "Der Abbé Pierre, er wollte keinen Alkohol. Der Wein von Abbé Pierre, der war Traubensaft. Und das ging gar nicht weg. Niemand wollte den Traubensaft ersteigern", resümiert die wettergegerbte Mittsiebzigerin. "Er fühlte sich schon ein bisschen schuldig, dass kein Geld mehr floss für die guten Zwecke." 1999 übergibt der Abbé den Weinberg in jüngere Hände.
"Und dann kam eben der Dalai Lama. Und er hat gesagt: Ich trinke keinen Alkohol, aber wenn er Geld bekommt für einen guten Zweck, dann macht nur Wein!" Es war ein Spektakel im Dorf. Tausende jubelten ihm zu. "Nachdem die Ernte erfolgt ist, ist es die Tradition, dass diese Person das Gewehr von Farinet benutzt und damit einen Schuss ablasst. Und es war so, dass Dalai Lama wollte zuerst diesen Schuss abfeuern. Aber als er um sich geblickt hat - es waren an diesem Tag rund 1.000 Leute anwesend - hat er die Pistole genommen, sie geküsst und zurückgegeben an Abbé Pierre", sagt die neben mir stehende Alessandra Ruff.
Basejumperin in Farinet-Kluft
Ein Schlückchen Wein zur Ernte ist für die meisten obligatorisch und wirkt oft Wunder. "Als Caroline von Monaco hier war, ist sie traurig gewesen. Sie hatte wohl Liebeskummer. Hat nichts gegessen, sich überhaupt nicht wohlgefühlt. Nach einem Schluck Wein hat sie aber wieder gestrahlt und jeden vor Freude umarmt." Manchmal auch mehrere Schlucke. "Einige, die sind so vollgepumpt, weil die haben nicht gewohnt zum Weintrinken. Dann muss man sie fast heimbringen", erinnert sich Rita Gay und muss an Filmdiva Gina Lollobrigida denken.
Zurück in die Gegenwart. Gut 50 Personen sind auf dem Hügel versammelt. In diesem Jahr ist Geraldine Fasnacht Erntehelferin. Die 35-Jährige ist international bekannte Basejumperin und mit ihrem Fledermausanzug tausende Male von Berggipfeln gesprungen. In der Farinet-Kluft mit Jacke, Hut und Halstuch ist ihr Einsatz binnen Minuten beendet und die Ernte in der viel zu großen Kiepe gelandet. Dann donnert der obligatorische Schuss aus der Flinte. Es folgt ein gemütliches Beisammensein bei Wein und Musik. Und schon bald wieder werden die Freunde Farinets ein Kinderprojekt beglücken. Statt mit Falschgeld mit einem gedeckten, üppigen Scheck.