"Also man wusste, man brauchte als Verteidiger Rechtsanwalt Vogel in der DDR, wenn man inhaftiert wird. Wenn man Vogel hatte, hat Vogel alles erledigt. Das heißt, man musste auf eine Liste kommen, eine Liste von Ausreisekandidaten oder Freikaufkandidaten."
Für Karl Alich war die Flucht von Bulgarien über die grüne Grenze nach Jugoslawien Plan A. Plan B lautete, sollte er geschnappt werden, Freikauf aus dem DDR-Gefängnis durch die damalige BRD.
Die Flucht im Sommer 1971 misslang. Ein Taxifahrer, den Karl Alich kurz zuvor in Bulgarien kennengelernt hatte, benachrichtigte aber wie abgesprochen einen Westberliner Rechtsanwalt - und dieser wiederum verständigte Wolfgang Vogel, den Ostberliner Advokaten und Organisator des Freikaufs:
"Das lief dann wie geschmiert. Da hatte ich auch sehr viel Glück. Das war die Zeit damals '71/'72, als der Grundlagenvertrag verhandelt wurde. Das war also so ein gewisses Tauwetter zwischen den beiden deutschen Staaten. Und da hat man von Seiten der DDR doch die Leute, die DDR-Bürger, leichteren Herzens verkauft an den Westen für 40.000 DM als sonst."
Stasi-Chef Erich Mielke:
"Ja ja, wir lassen sie sitzen, wir lassen das Gesetz seinen Lauf gehen, wenn es notwendig ist. Aber andererseits sind wir natürlich keine Dummköpfe und lassen unsere Gefängnisse voll mit irgendwelchen Schmarotzern, die wir sowieso nicht brauchen. Da sitzen ja zigtausende Kriminelle drin."
Um den Freikauf von politischen Häftlingen aus der DDR ranken sich bis heute Mythen, etwa von Agenten, die auf der Glienicker Brücke an der Grenze zwischen Westberlin und Potsdam übergeben wurden. Darüber, dass der Handel so geheim war, dass selbst die Beteiligten nicht richtig Bescheid wussten. Und dass die Kirche ihn eingefädelt haben soll.
Mit diesen Mythen räumt der Historiker Dr. Jan Philipp Wölbern auf, der soeben die erste umfassende Untersuchung zum Thema "Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63 bis 1989" vorgelegt hat. Darin rollt er detailliert und stichhaltig auf, wie Ost und West das ungewöhnliche Geschäft mit viel diplomatischem Hin und Her anbahnten - ein Geschäft "zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen", wie Wölbern sagt.
Freikauf war Chefsache, abgesegnet von Bundeskanzler Konrad Adenauer und SED-Generalsekretär Walter Ulbricht, wurde aber nur von einigen Wenigen organisiert im Gesamtdeutschen, später Innerdeutschen Ministerium auf der einen Seite der Grenze und der Staatssicherheit auf der anderen Seite. Der Deal sollte geheim bleiben - und trotzdem sind viele Dokumente erhalten geblieben, etliche allerdings noch unter Verschluss. Wölbern:
"Bisher hieß es immer, die Kirche hätte das schon im Sommer 1962 begonnen. Aber das stimmt so nicht. Sondern der eigentliche Startpunkt war der erste Freikauf durch die Bundesregierung 1963, damals eben noch unter Adenauer und dem frisch gebackenen Gesamtdeutschen Minister Rainer Barzel. Und im Anschluss an diese erste Freikauf-Aktion, bei der acht Häftlinge freigekauft wurden, ist es dann im Sommer 1964 zu dem ersten großen Freikauf gekommen, bei dem über 800 Häftlinge dann entlassen wurden. Und in diesem Zusammenhang da haben die Kirchen eine ganz wichtige Rolle gespielt, zumal sie auch in den darauffolgenden Jahren die unmittelbaren Auftraggeber für den Freikauf im Westen waren und für die Gegenleistung ihr Warentransfer-System zur Verfügung gestellt haben."
Bis 1989 lieferte das Diakonische Werk über Vertrauensfirmen Waren als Gegenleistung in die DDR. Seit 1967 gelang es dem sogenannten Bereich Kommerzielle Koordinierung unter Alexander Schalck-Golodkowski, diese unmittelbar in Devisen umzuwandeln, die auf einem Sonderkonto landeten.
Auslöser war die schlechte wirtschaftliche Lage in der DDR gewesen. Und auf westlicher Seite die Erkenntnis, dass nach dem Mauerbau 1961 der Staat DDR auf unabsehbare Zeit existieren würde. Im Frühjahr 1962 verhandelten die Bundesrepublik und der sozialistische Staat erstmals über Kredite. Dabei wurde die Idee "Menschlichkeit gegen Kasse" geboren, erzählt Wölbern. Ins Spiel brachten sie Rechtsanwalt Wolfgang Vogel und sein Stasi-Führungsoffizier Heinz Volpert - mit Rückendeckung von oben. Erich Mielke:
"Warum soll er nicht da meinetwegen nach einem Dreivierteljahr, Vierteljahr oder 'nem halben Jahr oder je nachdem, warum sollen wir den nicht wegjagen? Was soll der denn bei uns hier sitzen? Und frisst hier bei uns, [...] Na, warum soll der nicht weg? Ich kann das euch sagen, nicht wahr: Weil ich denke ökonomisch für unsere Republik, Mensch."
Der Freikauf war als einmalige Aktion geplant, der jedoch bald weitere folgten. Zunächst betraf er politische Häftlinge mit langen Strafen ab fünf Jahren, oppositionelle Frauen und Männer unterschiedlichen Alters, die sich aktiv gegen das Regime aufgelehnt, anderen zur Flucht verholfen oder Kontakte zu westlichen Nachrichtendiensten unterhalten hatten.
Wollte die DDR damit unbequeme Bürger loswerden? Ganz im Gegenteil, sagt der Historiker Wölbern. Die Stasi rechtfertigte die neue, finanziell einträgliche Methode zunächst damit, dass viele Menschen nach dem Freikauf in der DDR blieben:
"In den 1960er-Jahren sind ja über 40 Prozent der freigekauften Häftlinge gar nicht in die Bundesrepublik gekommen, sondern sie sind in der DDR verblieben. Und von denen, also die 60 Prozent, die dann doch in die Bundesrepublik kamen, war ein sehr großer Teil Bundesbürger, also Westdeutsche, die mal bei Reisen oder anderen Gelegenheiten in der DDR festgenommen worden waren und dann aber wieder zurück in die Bundesrepublik geschickt wurden. Man kann also sagen, genuine DDR-Bürger sind in den 60er-Jahren gar nicht so häufig in den Westen geschickt worden. Insofern war auch dieser dämpfende Effekt auf die Opposition bei Weitem nicht so groß wie man das bisher angenommen hat."
Als das Geschäft im Westen bekannt wurde, kritisierten nicht wenige es als unmoralisch. Zwar kamen Menschen frei, die zu Unrecht im Gefängnis saßen. Dass dies aber gegen Geld geschah, erweckte den Anschein von Menschenhandel. Außerdem könne diese Finanzspritze die DDR stärken, lautete damals die Befürchtung. Warum wurden trotz der Bedenken bis zum Ende der DDR politische Häftlinge frei gekauft? Wölbern erklärt:
"Zumindest nach dieser ersten großen Entlassungsaktion 1964 mit über 800 Häftlingen, musste man sich klar darüber werden, wenn man das nicht von Beginn an beschränkt auf einen Kreis und dann auch nach ein, zwei Jahren Schluss macht, dann kommt man irgendwann an einen Punkt, wo man auch aus Gründen der Gleichbehandlung mit anderen noch inhaftierten Häftlingen nicht mehr sagen kann: Ja, aber jetzt holen wir keinen mehr raus."
Statt den Freikauf zu stoppen, als die sogenannten Langstrafer befreit waren, gerieten seit Ende der 60er-Jahre auch jene in den Blick der Westberliner Rechtsanwälte, die für kürzere Zeit inhaftiert waren. Der typische politische Häftling war zu dieser Zeit männlich, zwischen 20 und 30 Jahre alt und wegen eines Fluchtversuchs inhaftiert. Später, in den 80ern, waren es zunehmend Menschen, die wegen eines Ausreiseantrags im Gefängnis saßen.
Mitte der 70er-Jahre stieg die Zahl der Freigekauften und blieb konstant bei über 1000 Frauen und Männern pro Jahr.
"Verändert hat sich auch die Gegenleistung: Die lag anfangs bei 40.000 DM pro Häftling, hat sich dann in den 60ern und frühen 70er-Jahren ausdifferenziert in Kategorien von 20.000 DM bis zu 80- und später sogar bis zu 160- und 200.000 DM. Und dann hat man Mitte der 70er-Jahre begonnen zu sagen: Wir brauchen wieder so eine Pauschalsumme, weil vorher natürlich das Problem war: Wie ordnet man denjenigen jetzt ein?"
Ende der 70er lag die Pauschale für einen freigekauften Häftling bei 95.847 DM. Sie wurde später auf 96.000 DM abgerundet und blieb bis zum Ende der DDR bestehen.
Etliche Betrugs- und Phantomfälle insbesondere in den 60er-Jahren belegen die wirtschaftliche Dimension des Freikaufs. Weil die Bundesrepublik damals noch wenig Informationen über die politisch Inhaftierten besaß, konnte die Staatssicherheit ihr manche Häftlinge andrehen, die zwar auf der Freikaufs-Liste standen, aber schon längst in die DDR entlassen worden waren. Und so manchen, den es gar nicht gab. Auch einige Kriminelle wurden dem Westen untergeschoben. Die DDR verdiente damit Millionen. O-Ton Erich Mielke:
Warum soll er nicht da meinetwegen nach einem Dreivierteljahr, Vierteljahr oder 'nem halben Jahr oder je nachdem, warum sollen wir den nicht wegjagen? Was soll der denn bei uns hier sitzen? [...]
Weil ich denke ökonomisch für unsere Republik, Mensch.
Dr. Jeannette van Laak:
"Die sagen, es war für sie erst mal eine Erleichterung zu wissen, es geht los: Wir kommen aus dem Gefängnis raus. (Das war das eine.) Die lange Fahrt von Karl-Marx-Stadt/Chemnitz über die A4 nach Bad Hersfeld Gießen, da heißt es immer: Bis zur Grenze haben wir geschwiegen. Und danach haben wir uns laut gefreut."
4,5 Millionen Menschen kamen als Flüchtlinge, Übersiedler oder Freigekaufte aus der DDR in die Notaufnahmelager in Gießen, Uelzen und Marienfelde. Jeannette van Laak untersucht die Geschichte des Gießener Lagers, dem einzigen, das von 1950 bis 1989/90 bestand - und nur eine Zwischenstation für fast eine Million Menschen war.
Auch Karl Alich verbrachte hier seine erste Nacht im Westen. Nachdem er zu zwei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt worden war, wurde er nach zwölf Monaten Gefängnis freigekauft.
"Es war ein unvorstellbares Gefühl. Ich war am Ziel meiner Wünsche. Es war für mich keine euphorische Freude, die so nach außen explodierte, sondern es war eher eine besinnliche Freude, aber ein tiefes Glücksgefühl, endlich da zu sein, [...] wo ich leben wollte. Und die DDR und diesen Mief und dieses System hinter mir zu lassen, das war ein wunderbares Gefühl."
Die freigekauften politischen Häftlinge wurden im Gießener Lager zwar besonders behandelt. Von den Flüchtlingen und Übersiedlern getrennt untergebracht, blieben sie hier nur zwei, drei Tage.
Bei näherem Hinsehen aber offenbart Gießen ebenso wie die Notaufnahmelager Marienfelde und das bis 1963 bestehende Uelzen ein zweites Gesicht. Freigekaufte wie Flüchtlinge wurden hier nicht nur als neue Bürger der Bundesrepublik willkommen geheißen, sondern zugleich zum Spielball verschiedener Interessen. Van Laak
"Die Ankunft im Lager oder in dieser Einrichtung selber, ich glaube, die ist ambivalent zu betrachten. Wenn man sich überlegt, dass die Freigekauften im DDR-Knast auch eine erkennungsdienstliche Behandlung erfahren haben: Fingerabdrücke, Polizeifotos, Befragungen der unterschiedlichsten Art, so erwartet sie das im Lager Gießen natürlich auch. Also da werden auch Fingerabdrücke genommen, da werden Fotos gemacht und da werden auch Befragungen durchgeführt - und zwar querbeet von der Kriminalpolizei bis zu den Geheimdiensten."
Amerikanische und britische Geheimdienste hatten bis zum Ende der DDR das Vorrecht, Flüchtlinge, Übersiedler und Freigekaufte als erste zu befragen. Über deren "Befragung. Überprüfung. Kontrolle" hat der Zeithistoriker Dr. Keith R. Allen ein Buch geschrieben und darin die Zeit bis zum Mauerbau analysiert. Aktuell forscht er über die 60er-Jahre:
"Was die Dienste wissen wollten, ist eine ganz Bandbreite von Fragen: Es geht um militärische Themen, es geht um Wirtschaft. Es geht aber auch um Bereiche wie Wissenschaft und Kultur, Technik. Und anhand von Waffenkatalogen und Luftbildaufnahmen ging man tatsächlich sehr ins Detail über Grenzabschnitte zum Beispiel für die 60er-Jahre, ein umfassendes Bild über das Land zu machen, und ein Netzwerk in der Bundesrepublik aufzubauen. Die Leute, die in die Bundesrepublik kamen, waren auf diese Art und Weise Kontaktpersonen für die Geheimdienste und sollten auch Wochen, Monate, manchmal auch Jahre danach, Informationen liefern über das Leben in der Bundesrepublik, nicht nur über das Leben in der DDR."
Die Freigekauften galten als Informanten und potenzielle Mitarbeiter. Manche von ihnen hätten nach ihrer Ankunft einen Marathon an Befragungen nicht nur durch die ausländischen Dienste, sondern auch durch Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz erlebt, berichtet Allen.
Die Gespräche fanden in den Lagern selbst statt, in eigens eingerichteten "Befragungsstellen" oder auf ausländischen Stützpunkten wie dem US-amerikanischen "Camp King" in Oberursel. Allen:
"Wir dürfen nicht vergessen, die sind ganz frisch angekommen in diesem Lande. Und schon in den ersten Stunden oder in den ersten Tagen haben die mit diesen Geheimdienst-Mitarbeitern zu tun. Und da ist natürlich die Bereitschaft groß, voranzukommen. Man hat alles aufgegeben, man möchte auch nicht zurück. Und man weiß ja, wenn man nicht Auskunft liefern kann, geht man eine gewisse Gefahr ein. Es gab Leute, die sagten: Ich weiß Bescheid, dass ich ablehnen kann. Es gab Leute, die diesen Diensten gegenüber auch kritisch waren. So war es ja nicht: Die Leute waren nicht verblendet, aber die waren auch in einer Notlage."
Karl Alich wollte nach West-Berlin. Bereits am Tag nach seiner Ankunft in Gießen wurde er nach Tempelhof geflogen - und kam ins Notaufnahmeverfahren nach Marienfelde:
"In Marienfelde kann ich mich an ein Gespräch erinnern. Ich weiß jetzt nicht, welcher Dienst das war, oder wer das war, an das Gespräch kann ich mich genau erinnern. Ich wurde gefragt, ob ich was berichten könnte, habe gesagt so und so, habe beim Militär gedient, kann da nichts berichten, habe dem guten Mann gesagt: Ich bin nicht angesprochen worden zwecks Mitarbeit vom MfS oder von irgendeinem anderen Geheimdienst und stehe auch, stand in der Vergangenheit und stehe auch in der Zukunft nicht zu einer Mitarbeit oder sonst einer Unterstützung dieser Vereine zur Verfügung."
Für Karl Alich, heute Rechtsanwalt, besteht kein Zweifel daran, dass es richtig war, sich inhaftieren und freikaufen zu lassen. Die zwölf Monate politischer Haft seien zwar eine "sehr unangenehme" Erfahrung gewesen. Im Gegensatz zu vielen anderen habe er jedoch keine Exzesse erlebt und fühle sich deshalb nicht als Opfer, sondern als Betroffener.
Die meisten Freigekauften, das betonen die Forscher, konnten sich im Westen wirtschaftlich gut integrieren. Manchen fehlte das soziale Netz, viele litten an den Haftfolgen. Ein Teil von ihnen scheiterte in der Bundesrepublik, wurde obdachlos, beging Selbstmord.
Für die beteiligten Staaten blieb der Freikauf bis zuletzt zwiespältig. Die DDR trieb mit dem Schlupfloch durch die Mauer Menschenhandel, betont Jan Philipp Wölbern. Und sie handelte widersprüchlich, wollte sie doch die Menschen mit Mauer und Gefängnis davon abhalten, das Land zu verlassen. Die Bundesrepublik dagegen betrieb Freikauf als humanitäre Aktion - und nahm dabei nicht geringe Nebenwirkungen in Kauf:
"Eine Erfolgsstory war es für den Westen auf jeden Fall, weil er dadurch ja deutlich gemacht hat, diese Obhutspflicht, wie das hieß im Bonner Amtsdeutsch, die ist uns auch was wert finanziell. Und Menschen sind wichtiger als Geld. Die Frage ist aber, ob man nicht dann gerade in den 80er-Jahren an einen Punkt kam, wo die Fortführung des Freikaufs vielleicht die DDR sogar erst dazu ermutigt hat, Menschen zu inhaftieren, um über den Freikauf an Geld zu kommen. Und dafür gibt es mittlerweile gar einige Belege auch aus MfS-Unterlagen, die das sogar in den Bereich des sehr Wahrscheinlichen rücken."