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Schwerpunktthema: "Es ginge vieles besser, wenn man mehr ginge"

Am 6. Dezember 1801 brach Johann Gottfried Seume in Grimma bei Leipzig zu seiner Wanderung nach Syrakus in Sizilien auf, die er später ironisch "Spaziergang nach Syrakus" nannte und über die er 1803 eine Reisebeschreibung veröffentlichte.

Von Cajo Kutzbach |
    "Wenn man alleine reist, ist man offen für Begegnungen. Ich lass mich auch ein auf Begegnungen und jeder, der es hören möchte oder nicht, bekommt von mir gesagt: "Ich reise auf Seumes Spuren. Was, den Seume kennen Sie nicht'" und es entwickelt sich ein Gespräch. Ich lerne dann einfach Menschen kennen - aus heutiger Sicht. Seume reiste auch auf diese Weise."

    Elke Kaden, mittlerweile pensionierte Grundschulrektorin, hat Johann Gottfried Seumes "Spaziergang nach Syrakus" in mehreren Reisen mit dem Fahrrad nachgefahren und fährt zur Zeit jedes Jahr ein Stück seiner Nordlandwanderung rund um die Ostsee.

    Wer war denn eigentlich dieser Seume?

    Bruno Preisendörfer, der jüngst über ihn das Buch "Der waghalsige Reisende" schrieb, ordnet ihn so ein:

    "Ja, Seume ist der unklassischste Klassiker der Literatur um 1800, um die Epoche so einzugrenzen. Also Goethe ist ja sozusagen der "Olympier", als der er immer bezeichnet wird. Seume ist ein Mann von unten und ist in so fern also eine große Ausnahme, nicht der Einzige, aber eine Ausnahme in der deutschsprachigen Literatur um 1800."

    Studienleiter Thilo Fitzner von der Evangelischen Akademie in Bad Boll schätzt Seume sehr, weil der zeigt, wie "Bildung als Abenteuer" erlebt werden kann:

    "Also Seume ist für mich eigentlich das Bild eines richtig guten Bildungsbürgers. Und Bildungsbürger meine ich jetzt nicht in dem üblichen Sinne, dass man das so ein bisschen despektierlich sagt, ja, und letzten Endes das irgend jemand ist, der nicht wirklich gebildet ist, sondern eher fortgebildet, sondern ein Mensch, der echt aus dem Vollen schöpfen kann; der die Geschichte kennt, der die Mathematik kennt, der einfach frei sich ausdrücken kann in einer wunderbaren Weise."

    Dieses Ideal würde wohl mancher gerne erfüllen. Doch das wurde auch Seume nicht in die Wiege gelegt, als er am 29. Januar 1763 in Poserna in Sachsen als Bauernsohn geboren wurde. Die Mutter scheint recht kühl gewesen zu sein, der Vater starb als er 13 war. Er hatte aber das Glück von einem Grafen gefördert zu werden:

    "Weil er einfach immer dafür gesorgt hat, dass seine Lehrer ihm hinterher hinkten. Also er wollte eigentlich von seinen Lehrern immer mehr, als sie ihm bieten konnten, sodass sie ihn schließlich immer von der eigenen Schule weggeschickt haben zu einer höheren und weiteren Schule. Und dann hat er ja praktisch so mit 17, 18 schon angefangen zu studieren; und da merkt man, der hat Einiges drauf."

    Zu dieser großen Begabung, die der fördernde Graf erkannte, kamen weitere günstige Umstände, denn er studierte in Leipzig, das damals mit etwa 30 000 Einwohnern viele Anregungen bot, wie der Leipziger Germanist und Historiker Otto Werner Förster erklärt:

    "Das war das geistige Klima, also eine gewisse Offenheit. Die kam aus der Ferne zur Residenz, aus dem Handelsleben, wo auch ständig mit Informationen geistige Anregung kam, Austausch. Universität seit 1409, was eine große Rolle spielte, wo alle, die auf sächsischen Landesschulen waren auf diese Universität mussten. Das sind solche Sammelpunkte. Und dazu - mit Universität, mit Geld, was in der Stadt auch da war - die Buchhändler. Also eine ganze Menge, großer Teil der bekannten deutschen Buchhändler und Verlage kommen aus Leipzig, weil die Uni da war, weil Druckereien dort waren seit Ende des 15. Jahrhundert schon."

    Die Stadt besaß dem entsprechend auch ein lebhaftes kulturelles Leben, das der junge, wissbegierige Seume intensiv nutzte.

    "Für Seume vor allen Dingen das Theater, gebaut 1766 und vorher schon das große Konzert, also der Vorläufer des Gewandhaus-Orchesters und des Gewandhauses. Und dazu jede Menge Gesellschaften, vor allen Dingen bürgerliche, aber auch auf kleinbürgerlicher Ebene."

    Dort wurden manchmal schon Texte vorgelesen, ehe sie in den Druck gingen. In Leipzig konnte man die neuesten Entwicklungen direkt mitverfolgen.

    Hochbegabt, gefördert und zur richtigen Zeit am richtigen Ort; kein Wunder, wenn Seume so gebildet war, könnte man meinen. Aber eine überdurchschnittliche Begabung kann auch einsam machen, weil man schwer ebenbürtige Gesprächspartner findet. Biograf Bruno Preisendörfer skizziert den relativ kleinen Mann so:

    "Wenn man's zusammenfassen will, kann man schon sagen, dass der Seume ein rechter bärbeißiger Typ war, auch kauzige Züge hatte, aber auch seine liebenswerten Seiten hat."

    Die aber nie zu einer geglückten und glücklichen Beziehung zu einer Frau führten. In diesem Punkt taugt er nicht als Vorbild. Seine Reisen, ja sogar seine Einsätze als Soldat in Amerika und Russland, kann man deshalb auch als ein "Weglaufen" interpretieren.

    "Meiner Meinung nach sind die vordringlichsten Gründe diejenigen vor sich selber davon zu laufen und gleichzeitig sich selber finden zu wollen. Logisch passt das Eine nicht zu dem Anderen; psychologisch passt das Eine sehr wohl zu dem Anderen, denn manchmal will man sich ja finden, wenn man sich zuerst verliert.

    Es gibt ja auch diese Sentenz: 'Stirb und Werde', also aus sich heraustreten, davonlaufen, eine Reise machen, um dann wieder zurück zu kehren bei sich selber. Ich denke, dass ist sozusagen die Motivationsschleife bei Seume."

    Bei Gesellen nannte man solche großen Reisen die Lehr- und Wanderjahre, bei jungen Adligen, die "Grand Tour", die ihnen den letzten Schliff geben sollte, aber zugleich auch Kenntnis der Welt. Das Wort "weltläufig" beschrieb diese Art der Bildung.

    Auch Seumes Zeitgenosse Goethe hatte 1786 seine italienische Reise angetreten, um eine Schaffens- und Identitätskrise zu meistern.
    Im Gegensatz zum berühmten Goethe musste Seume 1801 nicht unter fremdem Namen reisen, um neue Erfahrungen mit fremden Menschen machen zu können, für die man noch ein "unbeschriebenes Blatt" ist. Reisen kann ein Weg zur Selbsterfahrung sein.

    "Diese Selbsterfahrung - auch da in unserem Wort Selbsterfahrungstrip steckt ja immer noch das Wort des "Erfahrens", also Lebenswirklichkeiten erfahren, aber auch die Straße erfahren - er ist natürlich zu Fuß gegangen den größten Teil der Strecke - aber dieses Erfahren von Selbst und Welt, was ja auch nicht immer so zu trennen ist, ist natürlich in diesem Selbsterfahrungstrip aufgehoben ja."

    Man sagt: "Reisen bildet". Dass das nicht immer zutrifft, zeigt Familie Goethe. Während Goethes Vater und er selbst ihre Reisen als ganz wichtiges und bereicherndes Erlebnis empfinden, bringt die italienische Reise dem Sohn des Dichters nichts.

    Es hängt also von den Vorkenntnissen und der Bereitschaft ab sich auf die Fremde einzulassen, ob und wie sehr eine Reise bildet. Bruno Preisendörfer:

    "Seumes Ziel bestand nicht darin, an den kanonisierten Orten entlang zu wandern, sondern er wollte eben eine Tour machen, die subjektiv war, die auf sich selber orientiert war, wo die eigene Erfahrung, die Ich-Erfahrung im Vordergrund stand: Was passiert mit mir, wenn ich auf Wirtshäuser treffe, wenn ich die Straße entlang gehe, wenn ich kämpfen muss um Unterkünfte? Diese Dinge haben ihn viel stärker interessiert, als die klassischen Orte, an denen halt die Bildungsreisenden entlang gewandert sind. Das war bei ihm eher eine Reportage-Reise, wenn man so will."

    Damit erteilt Seume der "Grand Tour" eine Absage. Diese damals typische Bildungsreise, das Abklappern von Sehenswürdigkeiten, war häufig eher eine gemeinschaftliche Lustfahrt und hinterließ dementsprechend oft wenig Bildung.

    Elke Kaden hatte zunächst die großen europäischen Flüsse mit dem Rad von der Quelle zur Mündung abgefahren, ehe sie über den Jakobsweg zu den Reisetagebüchern kam:

    "Ich fuhr mit Goethe von Karlsbad nach Rom. Ich fuhr mit Hölderlin von Bordeaux nach Nürtingen. Ja und dann, der Höhepunkt, das war Seume! Ich kam auf seinen Namen, weil ja auch heute noch immer wieder der Seume-Preis für Reiseliteratur verliehen wird."

    Ging es bei den Flüssen um das Erkunden eines geografischen Raumes und seiner vom Fluss geprägten Kultur, so benutzt Elke Kaden die Reisebeschreibungen, als ob der Autor ihr als Reisebegleiter die Gegend zeigt.

    "Ich konnte Vergleiche ziehen, der Landschaft, der Menschen, der Kulturen und auch ganz einfach des Wegebaues von vor 200 Jahren mit Heute. Das war schon sehr interessant. Und zum Andern beschreibt ja Seume auch die politischen Umstände seiner Zeit. Er ist sehr kritisch gegenüber Adel und Klerus und man könnte sagen, fast ein Revolutionär."

    Seume beschränkt sich eben nicht auf Sehenswürdigkeiten, sondern schreibt über alles, was ihn berührt, egal ob militärische Einrichtungen, Landwirtschaft, Armut, Höhlen, Speisen, Stadtführer, Eseltreiber, Oper und Theater, sowie die meist recht gebildeten Menschen, die er auf Empfehlungen hin besucht und die ihm ihre Sicht der Dinge schildern. Vergleicht man das, was Seume schildert, mit dem, was man selbst weiß und erlebt, kann das ernüchternd sein:

    "Ich dachte naja, wir haben einen großen Fortschritt gemacht in diesen zweihundert Jahren, was die Bewegung auf Demokratie zu anbelangt. Und dann steh ich zum Beispiel in Warschau - jetzt auf einer anderen Reise, nicht nach Syrakus, sondern in dieser Nordlandreise - und lese bei Seume, wie entsetzlich die Zerstörungswut des Menschen ist, wenn er sieht, wie in den Koalitionskriegen Warschau fiel. - Und nun steh ich im Warschauer Getto 200 Jahre später und denke: Wir haben wenig dazu gelernt!"

    Wenn Bildung als Abenteuer gelingen soll, dann sind zwar Begabung und gute Kenntnisse von Sprachen sowie verschiedensten Fachgebieten hilfreich, aber das Entscheidende ist: Das sich Einlassen auf das Fremde. Studienleiter Thilo Fitzner:

    "Seume spricht in uns etwas ganz Tiefes an, was einfach in uns drin steckt, nämlich dieser Drang neugierig zu sein: Ich möchte mehr wissen. Ich möchte meinen Nase in den Wind hängen. Ich möchte mich bewegen auch körperlich, das macht einfach auch Freude durch die Gerüche einer schönen, sonnigen Landschaft zu gehen."

    Was Seume vormacht, ist eine Art sich Bildung anzueignen, die man ganzheitlich und selbstbestimmt nennen kann. Lehrende versuchen häufig es den Lernenden leicht zu machen, indem sie etwas anbieten, was sie selbst für faszinierend oder spannend halten. Das geht jedoch öfter schief, weil die Lernenden ganz andere Interessen und eine andere Art zu Lernen haben. Thilo Fitzner rät deshalb:

    "Sie müssen eigentlich das Gegenüber fragen: 'Wie lernst Du? Leg mal Deinen Lernweg fest!' Und genau das macht Seume. Und da, an der Stelle finde ich ihn so faszinierend. Jetzt macht er sich auf den Weg, stellt sich selber einige Fragen und versucht Antworten auf die selber gestellten - selber gestellten - Fragen zu kriegen. Das ist, wie Lernen funktioniert! Ja? Niemand Anderes kann über mein eigenes Lernen befinden und mir sagen, wie ich lernen kann. Das kann ich nur selber. Und ich muss selber lernen, wie ich lernen kann und wie ich mich auf den Weg machen kann. Und das macht Seume in so wunderbarer Weise."

    Dass Lernen am Besten gelingt, wenn man dem eigenen Wissensdrang folgt, war Pädagogen schon früh klar und wird heute durch die Hirnforschung bestätigt.

    Dabei ist das alleine Spazierengehen eine gute Metapher fürs Lernen: Man geht in dem Tempo, dass zu einem passt, wählt die Schrittlänge so, dass sie zum eigenen Körper passt, bleibt stehen, wo es etwas gibt, was man genauer untersuchen möchte, und geht dort hin, wohin es einen zieht, sei es wegen der Aussicht, sei es wegen eines besonderen Gebäudes oder Baumes, oder weil man hörte oder las, dass es da etwas gäbe was einen reizt. Und wenn man müde ist, sucht man einen Platz zum Ausruhen.
    Tempo und Auswahl beim Gehen und beim Lernen müssen zur Person passen.

    Deshalb wäre es auch wenig nützlich Seume nur nachzureisen, egal ob mit dem Rad, wie Elke Kaden, zu Fuß, oder in einer Reisegruppe:

    "Er gibt uns ein Modell vor. Also eine der effektivsten Lernmöglichkeiten oder Lernmethoden ist das Modell-Lernen. Jeder - als Kind - hat gesehen, wie Papa oder Mama irgend welche Dinge im Alltag machen und wird ungefähr sich so verhalten."

    Die Verbindung von Reisen und Lernen - einst Wander und Lehrjahre - heute vielleicht Studienreise, liegt nahe, wobei es verschiedene Arten zu reisen gibt, wie Bruno Preisendörfer betont:

    "Aus heutiger Perspektive muss man das eine nicht gegen das andere ausspielen. Aber es ist doch so: Es gibt so eine Art "überfliegendes Reisen" - in unserer Zeit auch mit tatsächlich über Ozeane fliegen und in alle Weltgegenden und in alle Weltgegenden hinein; es gibt aber auch ein Reisen - ein "mikroskopisches Reisen" könnte man vielleicht sagen, wo man an der Straße entlang geht und die Nahverhältnisse kennen lernt. Und das hat eine eigene Dimension, eine eigene existenzielle Dimension, übrigens auch eine eigene ästhetische Dimension. Und dafür ist Seume ein großer Anreger."

    Von ihm stammt ja der Satz: "Es ginge vieles besser, wenn man mehr ginge." Er hatte keinen Reiseführer dabei, kannte sie aber. Stattdessen hatte er zwölf griechische und römische Klassiker im Gepäck, in denen er dann dort las, wo sie spielten.

    Seume heute zu lesen ist sprachlich ein Genuss, aber mühsam, wenn man jede Anspielung verstehen will, denn die erschließen sich erst, wenn man im Anhang nachschlägt.

    "Man muss ja auch nicht jede kleine Anspielung verstehen. Also er hat, glaube ich, eine so lebendige Schreibweise, dass er doch in vielen Passagen immer noch frisch ist."

    Selbstverständlich hat auch Seume nicht immer Recht und Thilo Fitzner bekennt:

    "Dass man auch sich an ihm reibt und ärgert, wenn er auch mal Unsinn sagt mit dem man einfach nicht einverstanden sein kann. Oder, wenn man kirchlich, christlich, biblisch denkt, dann ist das nicht immer ganz im Sinne der Kirche, wie er sich ausdrückt. Oder auch die Politiker, wenigstens damals, in Wirklichkeit auch heute, werden sich an ihm reiben, weil er ein Ehrgefühl hat, weil er ein Gerechtigkeitsgefühl hat. Und alle diese Dinge, mit denen können wir uns auseinandersetzen. Und er lockt uns dahin hin und sagt: Schau mal! Du musst nicht, aber du kannst. Ich mach's dir vor."

    Obwohl vor 250 Jahren geboren, macht Seume vor, wie Lernen und Bildung ein Abenteuer sein können, indem man gut vorbereitet reist.

    "Das wär' mein Traum des Tourismus! Wissen Sie, wenn Tourismus so funktionieren würde, ja, dann würde man nicht zu Tausenden oder zu Millionen in bestimmte Gegenden fahren und immer das wiederholen, was andere wiederholt haben."

    Sondern jeder würde sich seinen Weg suchen, mit Menschen am Wegesrand sprechen, schon vorher Kontakte knüpfen und so vorbereitet dann wirklich Bildung als Abenteuer erleben, das Körper und Geist erfrischt.