"Das ist das tagtägliche Plebiszit, das also jedes Mal wiederholt werden muss, damit die Nation überhaupt entstehen kann."
Diese täglich neue Entscheidung zusammenzustehen und zusammenzuhalten gibt einem Staat viel mehr Kraft, als wenn die Bürger des Staates sich unter der Knute eines Herrschers fühlen, dessen Befehlen sie notgedrungen gehorchen müssen. Gelingt es jedoch den Begriff Nation mit Leben zu füllen, dienen sie aus innerer Überzeugung der gemeinsamen Sache. Das könnte erklären, weshalb viele Staaten in den letzten rund 200 Jahren zu Nationen wurden. Der Sprecher des Sonderforschungsbereiches 923 "Bedrohte Ordnungen", Ewald Frie, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen:
"Mehrere Referenten auf dieser Tagung verweisen darauf und auch zurecht, dass viele Nationalstaaten eine Geschichte erzählen, nach der sie aus Krieg und Revolution entstanden sind. Für Frankreich gilt das, für England gilt das in anderer Weise, für die USA gilt das, für Deutschland ist immer die Frage, wie man die Befreiungskriege wertet, wie man 1848 werte. Aber aus der Geschichte, die dort erzählt wird, sieht man auch, dass es so was gegeben hat, wie eine Normanforderung: Eine modernere Nation sollte aus einem Krieg, aus einer Revolution entstanden sein."
Das lässt die Opfer an Menschen und Material als gerechtfertigt erscheinen, und die Gefallenen werden zu Helden stilisiert und ihrer mit Denkmälern gedacht. Sie haben ihr Leben für eine gute Sache, für die Gemeinschaft geopfert, so scheint es im Nachhinein.
"Das ist ein sehr wirkmächtiges Bild, eine sehr mächtige Erzählung, die – das kann man, glaube ich, nachdem was wir bei dieser Tagung gesehen haben – einfach ihre Schwächen hat und beim genaueren Hinsehen nicht funktioniert."
Dazu muss man sich nicht einmal so tief in die Geschichtsforschung hinein begeben. Es genügt schon nach Mexiko zu schauen, wo sich die politische Lage ungefähr im Halbjahresrhythmus änderte, wie Wolfgang Gabbert, Professor für Entwicklungssoziologie und Kulturanthropologie an der Leibniz-Universität Hannover bestätigt:
"Zum einen hat's sehr verschiedene Regierungsformen gegeben, vom Kaiserreich, von der Monarchie über Bundesrepublik bis zur zentralistischen Republik, Militärdiktatur, also alles dabei.
Und zum Anderen sehr viele Regierungswechsel, das haben sie angesprochen, zum Beispiel zwischen 1821 und 1850 etwa 50 Regierungswechsel auf der Bundesebene und was Ähnliches kann man auch verstellen den einzelnen Bundesstaaten."
Welche dieser fünfzig Regierungen dürfte denn für sich in Anspruch nehmen, das Land in eine Nation umgewandelt zu haben? Mit welcher Begründung? Und auf welche Revolution und welchen Krieg würde sie sich stützen?
Ähnliche Zweifel entstehen, wenn man sich andere Länder anschaut. Ewald Frie:
"Wir können feststellen sowohl im Fall Belgien, auch im Fall Frankreichs, dass die Verhältnisse, wenn die Revolution begonnen hat, sehr offen ist, dass sehr viele unvorhergesehene Dinge passieren können. Am Fall der USA kann man sehen, dass die Idee der Nation und die Idee der Demokratie keineswegs von Anfang an den Unabhängigkeitskrieg gegenüber Großbritannien motiviert, dass auch danach diese großen Ideen eine Zeit lang eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Und erst im Nachhinein wird das zurück projiziert."
Es handelt sich um eine Legendenbildung, eine nachträgliche Einordnung der Fakten. Es wird so getan, als ob Krieg und Revolution zwingend notwendige Zwischenschritte von einer alten Ordnung, der alten Herrschaft, zur neuen Ordnung des Nationalstates wären und, als ob die neue Ordnung nur etwas tauge, wenn sie diese Form von UNOrdnung, eben Krieg und Revolution, durchlaufen hätte.
Ob das stimmt, erkennt man, wenn man sich so mit Ordnungen beschäftigt, wie es der Sonderforschungsbereich "Bedrohte Ordnungen" tut:
"Wenn wir also über Ordnungen, reden müssen wir zum einen verschiedene Arten von Ordnung unterscheiden und dann wiederum gedachte Ordnungen unterscheiden von denjenigen, die wir in der sozialen Wirklichkeit auffinden können, und das muss nicht übereinstimmen."
Betrachtet man historische Vorgänge aus dem Blickwinkel Ordnung, dann führt das zu einer gewissen Gelassenheit und Objektivität, weil man sich zu Ordnungen nicht so stark hingezogen fühlt, wie zu handelnden Personen.
Zum Anderen erkennt man die Vielschichtigkeit von Umbrüchen, erklärt der Sprecher des Sonderforschungsbereiches:
"Gleichzeitig besteht jede Ordnung immer aus Ordnungen: Eine politische Ordnung, eine soziale, eine ökonomische, die wiederum aus anderen Ordnungen zusammengesetzt sind. Wir müssen uns das nicht als ein statisches Ding vorstellen. Das führt dazu, dass auch bei einem gewaltsamen Umsturz einer Ordnung, einer politischen Ordnung, ökonomische Verhältnisse nicht unangetastet, aber doch relativ stabil bleiben können.
Wir wissen, dass die Französische Revolution zu Veränderungen im Bereich der Ökonomie geführt hat, dass die aber gar nicht in die Richtung gelaufen sind Industrialisierung, wie man in den 50er, 60er-Jahren angenommen hat. Es ist ein schönes Beispiel um zu zeigen, dass auch Umstürze nicht total sind, sondern in der Regel funktionieren, indem sie bestimmte Ordnungen umwälzen und andere, nicht unangetastet, aber doch relativ stabil lassen."
Für die Wissenschaftler sind Ordnungen wie Werkzeuge, um Dinge, die man sonst schwer vergleichen könnte, vergleichbar zu machen.
Wendet man diese Methode auf verschiedene Länder und Nationen an, kommt man zu neuen Einsichten, die auch für die Politik nützlich werden könnten, zum Beispiel, weil es das Paradox gibt, dass Bürger, die in relativ großer Sicherheit leben, ihre Unsicherheit viel stärker wahrnehmen, als Gesellschaften, in denen man täglich ums Überleben kämpft.
"Wir sind jetzt in einer Situation, in der westliche Gesellschaften über Unsicherheit sehr stark diskutieren, sich selber als unsicher wahrnehmen, aber nicht mehr einen ganz konkreten Grund dafür angeben können, sondern in einer sehr deutlichen Krisenrhetorik, oder Bedrohungsrhetorik sich befinden, und darauf antwortet dieser Sonderforschungsbereich, den wir jetzt gestartet haben, der eben genau das versucht zu historisieren und dafür Erfahrungen aus Geschichte und aus anderen Kulturen bereitzustellen."
Die Gründe, weshalb Länder zu Nation werden wollten, oder werden sollten, gehen weit über den Machtzuwachs hinaus. In Irrland gab es drei Fraktionen, die einen katholisch, protestantisch oder kulturell ausgerichteten Staat anstrebten, in den Niederlanden spielten religiöse und soziale Milieus eine entscheidende Rolle, in Südamerika stritten Intellektuelle, die in den Städten Verfassungen entwarfen, mit den Viehbaronen, die mit ihren Herden und berittenen Knechten sehr viel Macht, aber andere Interessen hatten. In Belgien zeigt der Streit zwischen Flamen und Wallonen, dass es gar nicht zu einer einheitlichen Nation kam, obwohl auch das möglich ist, wie die viersprachige Schweiz zeigt. In den USA ging es weniger um Nationalität, als um Freiheit für die Einwanderer, die das Land besiedelten. Die Vorstellung, was die Nation eint, führt hier zur Offenheit, woanders zur Fremdenfeindlichkeit. In Polen etwa entschied die Abstammung, ob man dazugehörte oder nicht und in der Türkei wurde die Sprache zu einigenden Klammer erklärt. Stefan Plaggenborg skizziert die türkische Geschichte:
"In der türkischen Interpretation gibt es sehr wohl eine Revolution. Das ist die kemalistische Revolution, also die, die zwischen 1919 und 1922 oder 25 stattfindet und die ja fundamental die Türkei verändert hat. Aber das ist natürlich ein umstrittener Revolutionsbegriff."
Denn die Entwicklung zur Nation fand unter Ausnahmerecht und von oben statt, ja zum Teil gegen die Bevölkerung. Dabei wurden im Laufe der Zeit Griechen, Armenier, Kurden und Juden, die im Osmanischen Reich durchaus noch ihren Platz hatten, als "nicht türkisch" ausgegrenzt und verfolgt.
"Was die Nation angeht, die wir heute ganz deutlich erkennen können, das ist also ganz unstrittig, dass es ein nationales Denken in der Türkei gibt, es ist völlig unstrittig, dass es Nationalisten gibt, auch ganz rabiate Nationalisten. Diese Nationsidee ist allerdings erst relativ spät zu Stande gekommen und es gab sie auf jeden Fall noch nicht zum Zeitpunkt der sogenannten kemalistischen Revolution, sondern musste erst danach von oben durch den kemalistischen Staat geschaffen werden. Das ist der eigenartige Vorgang, den man für die Türkei beobachten kann. Das setzt in den 20er-Jahren ein und kommt dann irgendwann, deutlich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Abschluss."
Im Gegensatz zum Mythos, dass sich das Volk in Folge der Aufklärung erhebe, das Joch des Despoten oder Kolonialherren abschüttele und eine demokratische Nation anstrebe, wird in vielen Fällen eine Machtergreifung oder Staatenbildung hinterher durch eine Interpretation geadelt, die versucht diesem Mythos nahe zu kommen. Das ist zutiefst menschlich. Man spricht vom eigenen Land als "Gelobtes Land" oder "Gottes eigenem Land". Man möchte gerne etwas, was einem zufiel, als Ergebnis von gut geplanter, entsagungsvoller, zielstrebiger Arbeit darstellen. So ein Mythos kann dem Zusammengehörigkeitsgefühl gut tun, aber die Fakten müssen nicht mit den Gründungsmythen übereinstimmen:
"Für die Kemalisten ist es völlig unstrittig, dass es einen Unabhängigkeitskrieg gibt, oder auch einen nationalen Befreiungskrieg – diese beiden Begriffe tauchen im Türkischen auch auf. Da wird gar nicht drüber diskutiert, das ist vollkommen klar. Nur wir als Historiker sehen naturgemäß die Dinge etwas anders und folgen nicht dem Narrativ einer nationalen Geschichtsschreibung. Und wir dekonstruieren das – das ist ja unsere Aufgabe eigentlich – und wir kommen dann eben zu anderen Sichtweisen und anderen Begriffen. Aber solange man sich in der Lesart der Kemalisten aufhält, wo trifft das alles zu. Aber als Historiker würde ich das in weiten Teilen eben verneinen."
Solche Gründungsmythen von Nationen haben allerdings auch Nachteile, weil sie das Regime vom Mythos abhängig machen. Stefan Plaggenborg:
"Diese Mythen, sei es die Revolution, sei es der Unabhängigkeitskrieg, die sind extrem wichtig für die Legitimierung dieses Regimes. Wenn nun sich herausstellt und das Regime vielleicht das sogar am Ende selber sagt, dass es sich um Mythen handelt, dann sägt es sich den Ast ab, auf dem es sitzt.
Das ist dann eine Geschichte, wie sie etwa in der Sowjetunion am Ende der Perestroika stattgefunden hat, als man Stück für Stück die eigenen Grundlagen hat erodieren lassen. Und dann sackte der ganze Bau in sich zusammen. Das kann ein Regime eigentlich nicht machen. "
Deshalb werden Menschen, die den Gründungsmythos infrage stellen, in vielen Ländern beschimpft oder sogar verfolgt. Vor allem, wenn der Begriff Nation von den Mächtigen benutzt wurde, um an die Macht zu kommen, wie in den asiatischen Republiken der Sowjetunion, berichtet Jörg Baberowski Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität Berlin:
"Ja, in der Sowjetunion war die Staatswerdung in den asiatischen Regionen vor allem nur ins Werk zu setzen, indem man sie in Nationen organisierte. Und deshalb versuchten die Bolschewiki in den 20er-Jahren überall das Leben in nationale Formen zu gießen, um Vermittler für ihre Herrschaft zu haben. Sie machen dann aber die Erfahrung, dass sie auf diese Vermittler nur in Grenzen zurückgreifen konnten, dass sie sich auf ihr Informationsmonopol stützen mussten, von ihnen abhängig wurden."
Und ein Zentralkomitee, das vom Wohlwollen nomadischer Clanführer abhängig wurde, passte überhaupt nicht ins Konzept der Machthaber, also riss man das Steuer herum:
"Am Ende gaben sie dieses Projekt der Staatswerdung durch Nation auf und griffen auf willkürliche Gewalt zur Erzwingung von Gehorsam zurück: Kollektivierung der Landwirtschaft, die Sesshaftmachung der Nomaden, das alles war mit Millionen Toten bezahlt worden. Aber paradoxerweise hatte es am Ende wenigstens zur Folge, dass der Staat ins Dorf kam und die asiatischen Regionen der Sowjetunion von den Bolschewiki unterworfen werden konnten. Und das, was man Nation nennt, ist eigentlich ein Ergebnis der 50er, 60er-Jahre, als der Staat tatsächlich überall präsent war, konnte auch die Nation mit Inhalt gefüllt werden."
Denn damit war auch ein gewisser Wohlstand ins Land gekommen. Darum waren die asiatischen Republiken vom Zerfall der Sowjetunion wenig begeistert und wurden meist erst spät zu selbstständigen Staaten.
Im Gegensatz zu den meist später geschaffenen Gründungsmythen, waren an der tatsächlichen Staatenbildung oft technische und soziale Errungenschaften ganz wesentlich beteiligt, etwa eine Presse, die die verschiedenen Ideen zur Diskussion stellte oder für eine bestimmte Idee warb, Kommunikationsmittel, wie eine funktionierende Post, oder neue Verkehrsmittel, wie die Eisenbahn, berichtet Wolfgang Gabbert:
"Also Kommunikationswege sind natürlich wichtig. Die Eisenbahn ist auch strategisch wichtig. Wenn man jetzt an Staatsbildung denkt, ist ja die Frage, wie kann ein Zentralstaat entfernter liegende Regionen kontrollieren? Und der Ausbau der Eisenbahnlinien ermöglichte den sehr schnellen Truppentransport in entlegene Landesteile was eben die Schlagkraft einer Armee in sehr starkem Maße erhöht."
Postkutschen, Eisenbahnen, Automobil und Kommunikationsmittel, wie Telefgraf, Telefon und Radio, spielten bei der Nationenentstehung, bei der Machtausbreitung und bei der Industrialisierung vieler Staaten eine wesentliche Rolle. Und sei es, um den Gründungsmythos zu verbreiten. Stefan Plaggenborg:
"Das ist in sehr, sehr vielen Fällen eine Erzählung, die dazu dienen soll, dass die Nation sich als solche versteht. Die vielen Menschen, die bis dahin noch kein Nationsbewusstsein entwickelt haben, die – jetzt überspitzt sich mal ein bisschen – irgendwo in Tälern gelebt haben und überhaupt noch nicht gewusst haben, dass sie, sei es nun die türkische oder was auch immer für eine Nation haben, denen wird dann ein solcher Mythos oder diese Legende, diese Legitimation für das Regime auf diese Weise vermittelt. Und so wachsen sie – in der Hoffnung der Vermittler eben – wachsen sie dann in den Nationsgedanken hinein. Also die Kraft dieser Mythen ist natürlich sehr stark und man sieht im Falle der Türkei das das auch wirkt."
Und nicht nur dort. Sei es in Form von Propaganda, sei es mit Gewalt, wie in der Sowjetunion oder China mit seiner Kulturrevolution.
"Es gehört, wie wir gesehen haben auf der Tagung, zu den großen Narrativen, dass Nationsbildung durch Revolutionen und Kriege hindurch geht und die Nation gewissermaßen gehärtet wird durch diese Ereignisse, eben auch in Blut gestählt."
Das Paradoxe daran ist, dass derartige Legendenbildung zwar nicht der historischen Wahrheit entspricht, aber einem tiefen menschlichen Bedürfnis. Jörg Baberowski:
"Selbst ich bedarf ja solcher Mythen, um mich meiner selbst als Deutscher zu vergewissern. Das ist ja manchmal im Leben wichtig. Vielfach ist es auch unwichtig. Aber natürlich brauchen Nationen Mythen. Ohne Mythen geht es überhaupt nicht. Aber Historiker sollten sie nicht benutzen. Historiker arbeiten an der Dekonstruktion von Mythen, die müssen immer wieder zeigen, dass das alles falsch ist, aber im Alltag brauchen wir das, und es ist auch gut so, dass das so ist."
Diese täglich neue Entscheidung zusammenzustehen und zusammenzuhalten gibt einem Staat viel mehr Kraft, als wenn die Bürger des Staates sich unter der Knute eines Herrschers fühlen, dessen Befehlen sie notgedrungen gehorchen müssen. Gelingt es jedoch den Begriff Nation mit Leben zu füllen, dienen sie aus innerer Überzeugung der gemeinsamen Sache. Das könnte erklären, weshalb viele Staaten in den letzten rund 200 Jahren zu Nationen wurden. Der Sprecher des Sonderforschungsbereiches 923 "Bedrohte Ordnungen", Ewald Frie, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen:
"Mehrere Referenten auf dieser Tagung verweisen darauf und auch zurecht, dass viele Nationalstaaten eine Geschichte erzählen, nach der sie aus Krieg und Revolution entstanden sind. Für Frankreich gilt das, für England gilt das in anderer Weise, für die USA gilt das, für Deutschland ist immer die Frage, wie man die Befreiungskriege wertet, wie man 1848 werte. Aber aus der Geschichte, die dort erzählt wird, sieht man auch, dass es so was gegeben hat, wie eine Normanforderung: Eine modernere Nation sollte aus einem Krieg, aus einer Revolution entstanden sein."
Das lässt die Opfer an Menschen und Material als gerechtfertigt erscheinen, und die Gefallenen werden zu Helden stilisiert und ihrer mit Denkmälern gedacht. Sie haben ihr Leben für eine gute Sache, für die Gemeinschaft geopfert, so scheint es im Nachhinein.
"Das ist ein sehr wirkmächtiges Bild, eine sehr mächtige Erzählung, die – das kann man, glaube ich, nachdem was wir bei dieser Tagung gesehen haben – einfach ihre Schwächen hat und beim genaueren Hinsehen nicht funktioniert."
Dazu muss man sich nicht einmal so tief in die Geschichtsforschung hinein begeben. Es genügt schon nach Mexiko zu schauen, wo sich die politische Lage ungefähr im Halbjahresrhythmus änderte, wie Wolfgang Gabbert, Professor für Entwicklungssoziologie und Kulturanthropologie an der Leibniz-Universität Hannover bestätigt:
"Zum einen hat's sehr verschiedene Regierungsformen gegeben, vom Kaiserreich, von der Monarchie über Bundesrepublik bis zur zentralistischen Republik, Militärdiktatur, also alles dabei.
Und zum Anderen sehr viele Regierungswechsel, das haben sie angesprochen, zum Beispiel zwischen 1821 und 1850 etwa 50 Regierungswechsel auf der Bundesebene und was Ähnliches kann man auch verstellen den einzelnen Bundesstaaten."
Welche dieser fünfzig Regierungen dürfte denn für sich in Anspruch nehmen, das Land in eine Nation umgewandelt zu haben? Mit welcher Begründung? Und auf welche Revolution und welchen Krieg würde sie sich stützen?
Ähnliche Zweifel entstehen, wenn man sich andere Länder anschaut. Ewald Frie:
"Wir können feststellen sowohl im Fall Belgien, auch im Fall Frankreichs, dass die Verhältnisse, wenn die Revolution begonnen hat, sehr offen ist, dass sehr viele unvorhergesehene Dinge passieren können. Am Fall der USA kann man sehen, dass die Idee der Nation und die Idee der Demokratie keineswegs von Anfang an den Unabhängigkeitskrieg gegenüber Großbritannien motiviert, dass auch danach diese großen Ideen eine Zeit lang eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Und erst im Nachhinein wird das zurück projiziert."
Es handelt sich um eine Legendenbildung, eine nachträgliche Einordnung der Fakten. Es wird so getan, als ob Krieg und Revolution zwingend notwendige Zwischenschritte von einer alten Ordnung, der alten Herrschaft, zur neuen Ordnung des Nationalstates wären und, als ob die neue Ordnung nur etwas tauge, wenn sie diese Form von UNOrdnung, eben Krieg und Revolution, durchlaufen hätte.
Ob das stimmt, erkennt man, wenn man sich so mit Ordnungen beschäftigt, wie es der Sonderforschungsbereich "Bedrohte Ordnungen" tut:
"Wenn wir also über Ordnungen, reden müssen wir zum einen verschiedene Arten von Ordnung unterscheiden und dann wiederum gedachte Ordnungen unterscheiden von denjenigen, die wir in der sozialen Wirklichkeit auffinden können, und das muss nicht übereinstimmen."
Betrachtet man historische Vorgänge aus dem Blickwinkel Ordnung, dann führt das zu einer gewissen Gelassenheit und Objektivität, weil man sich zu Ordnungen nicht so stark hingezogen fühlt, wie zu handelnden Personen.
Zum Anderen erkennt man die Vielschichtigkeit von Umbrüchen, erklärt der Sprecher des Sonderforschungsbereiches:
"Gleichzeitig besteht jede Ordnung immer aus Ordnungen: Eine politische Ordnung, eine soziale, eine ökonomische, die wiederum aus anderen Ordnungen zusammengesetzt sind. Wir müssen uns das nicht als ein statisches Ding vorstellen. Das führt dazu, dass auch bei einem gewaltsamen Umsturz einer Ordnung, einer politischen Ordnung, ökonomische Verhältnisse nicht unangetastet, aber doch relativ stabil bleiben können.
Wir wissen, dass die Französische Revolution zu Veränderungen im Bereich der Ökonomie geführt hat, dass die aber gar nicht in die Richtung gelaufen sind Industrialisierung, wie man in den 50er, 60er-Jahren angenommen hat. Es ist ein schönes Beispiel um zu zeigen, dass auch Umstürze nicht total sind, sondern in der Regel funktionieren, indem sie bestimmte Ordnungen umwälzen und andere, nicht unangetastet, aber doch relativ stabil lassen."
Für die Wissenschaftler sind Ordnungen wie Werkzeuge, um Dinge, die man sonst schwer vergleichen könnte, vergleichbar zu machen.
Wendet man diese Methode auf verschiedene Länder und Nationen an, kommt man zu neuen Einsichten, die auch für die Politik nützlich werden könnten, zum Beispiel, weil es das Paradox gibt, dass Bürger, die in relativ großer Sicherheit leben, ihre Unsicherheit viel stärker wahrnehmen, als Gesellschaften, in denen man täglich ums Überleben kämpft.
"Wir sind jetzt in einer Situation, in der westliche Gesellschaften über Unsicherheit sehr stark diskutieren, sich selber als unsicher wahrnehmen, aber nicht mehr einen ganz konkreten Grund dafür angeben können, sondern in einer sehr deutlichen Krisenrhetorik, oder Bedrohungsrhetorik sich befinden, und darauf antwortet dieser Sonderforschungsbereich, den wir jetzt gestartet haben, der eben genau das versucht zu historisieren und dafür Erfahrungen aus Geschichte und aus anderen Kulturen bereitzustellen."
Die Gründe, weshalb Länder zu Nation werden wollten, oder werden sollten, gehen weit über den Machtzuwachs hinaus. In Irrland gab es drei Fraktionen, die einen katholisch, protestantisch oder kulturell ausgerichteten Staat anstrebten, in den Niederlanden spielten religiöse und soziale Milieus eine entscheidende Rolle, in Südamerika stritten Intellektuelle, die in den Städten Verfassungen entwarfen, mit den Viehbaronen, die mit ihren Herden und berittenen Knechten sehr viel Macht, aber andere Interessen hatten. In Belgien zeigt der Streit zwischen Flamen und Wallonen, dass es gar nicht zu einer einheitlichen Nation kam, obwohl auch das möglich ist, wie die viersprachige Schweiz zeigt. In den USA ging es weniger um Nationalität, als um Freiheit für die Einwanderer, die das Land besiedelten. Die Vorstellung, was die Nation eint, führt hier zur Offenheit, woanders zur Fremdenfeindlichkeit. In Polen etwa entschied die Abstammung, ob man dazugehörte oder nicht und in der Türkei wurde die Sprache zu einigenden Klammer erklärt. Stefan Plaggenborg skizziert die türkische Geschichte:
"In der türkischen Interpretation gibt es sehr wohl eine Revolution. Das ist die kemalistische Revolution, also die, die zwischen 1919 und 1922 oder 25 stattfindet und die ja fundamental die Türkei verändert hat. Aber das ist natürlich ein umstrittener Revolutionsbegriff."
Denn die Entwicklung zur Nation fand unter Ausnahmerecht und von oben statt, ja zum Teil gegen die Bevölkerung. Dabei wurden im Laufe der Zeit Griechen, Armenier, Kurden und Juden, die im Osmanischen Reich durchaus noch ihren Platz hatten, als "nicht türkisch" ausgegrenzt und verfolgt.
"Was die Nation angeht, die wir heute ganz deutlich erkennen können, das ist also ganz unstrittig, dass es ein nationales Denken in der Türkei gibt, es ist völlig unstrittig, dass es Nationalisten gibt, auch ganz rabiate Nationalisten. Diese Nationsidee ist allerdings erst relativ spät zu Stande gekommen und es gab sie auf jeden Fall noch nicht zum Zeitpunkt der sogenannten kemalistischen Revolution, sondern musste erst danach von oben durch den kemalistischen Staat geschaffen werden. Das ist der eigenartige Vorgang, den man für die Türkei beobachten kann. Das setzt in den 20er-Jahren ein und kommt dann irgendwann, deutlich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Abschluss."
Im Gegensatz zum Mythos, dass sich das Volk in Folge der Aufklärung erhebe, das Joch des Despoten oder Kolonialherren abschüttele und eine demokratische Nation anstrebe, wird in vielen Fällen eine Machtergreifung oder Staatenbildung hinterher durch eine Interpretation geadelt, die versucht diesem Mythos nahe zu kommen. Das ist zutiefst menschlich. Man spricht vom eigenen Land als "Gelobtes Land" oder "Gottes eigenem Land". Man möchte gerne etwas, was einem zufiel, als Ergebnis von gut geplanter, entsagungsvoller, zielstrebiger Arbeit darstellen. So ein Mythos kann dem Zusammengehörigkeitsgefühl gut tun, aber die Fakten müssen nicht mit den Gründungsmythen übereinstimmen:
"Für die Kemalisten ist es völlig unstrittig, dass es einen Unabhängigkeitskrieg gibt, oder auch einen nationalen Befreiungskrieg – diese beiden Begriffe tauchen im Türkischen auch auf. Da wird gar nicht drüber diskutiert, das ist vollkommen klar. Nur wir als Historiker sehen naturgemäß die Dinge etwas anders und folgen nicht dem Narrativ einer nationalen Geschichtsschreibung. Und wir dekonstruieren das – das ist ja unsere Aufgabe eigentlich – und wir kommen dann eben zu anderen Sichtweisen und anderen Begriffen. Aber solange man sich in der Lesart der Kemalisten aufhält, wo trifft das alles zu. Aber als Historiker würde ich das in weiten Teilen eben verneinen."
Solche Gründungsmythen von Nationen haben allerdings auch Nachteile, weil sie das Regime vom Mythos abhängig machen. Stefan Plaggenborg:
"Diese Mythen, sei es die Revolution, sei es der Unabhängigkeitskrieg, die sind extrem wichtig für die Legitimierung dieses Regimes. Wenn nun sich herausstellt und das Regime vielleicht das sogar am Ende selber sagt, dass es sich um Mythen handelt, dann sägt es sich den Ast ab, auf dem es sitzt.
Das ist dann eine Geschichte, wie sie etwa in der Sowjetunion am Ende der Perestroika stattgefunden hat, als man Stück für Stück die eigenen Grundlagen hat erodieren lassen. Und dann sackte der ganze Bau in sich zusammen. Das kann ein Regime eigentlich nicht machen. "
Deshalb werden Menschen, die den Gründungsmythos infrage stellen, in vielen Ländern beschimpft oder sogar verfolgt. Vor allem, wenn der Begriff Nation von den Mächtigen benutzt wurde, um an die Macht zu kommen, wie in den asiatischen Republiken der Sowjetunion, berichtet Jörg Baberowski Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität Berlin:
"Ja, in der Sowjetunion war die Staatswerdung in den asiatischen Regionen vor allem nur ins Werk zu setzen, indem man sie in Nationen organisierte. Und deshalb versuchten die Bolschewiki in den 20er-Jahren überall das Leben in nationale Formen zu gießen, um Vermittler für ihre Herrschaft zu haben. Sie machen dann aber die Erfahrung, dass sie auf diese Vermittler nur in Grenzen zurückgreifen konnten, dass sie sich auf ihr Informationsmonopol stützen mussten, von ihnen abhängig wurden."
Und ein Zentralkomitee, das vom Wohlwollen nomadischer Clanführer abhängig wurde, passte überhaupt nicht ins Konzept der Machthaber, also riss man das Steuer herum:
"Am Ende gaben sie dieses Projekt der Staatswerdung durch Nation auf und griffen auf willkürliche Gewalt zur Erzwingung von Gehorsam zurück: Kollektivierung der Landwirtschaft, die Sesshaftmachung der Nomaden, das alles war mit Millionen Toten bezahlt worden. Aber paradoxerweise hatte es am Ende wenigstens zur Folge, dass der Staat ins Dorf kam und die asiatischen Regionen der Sowjetunion von den Bolschewiki unterworfen werden konnten. Und das, was man Nation nennt, ist eigentlich ein Ergebnis der 50er, 60er-Jahre, als der Staat tatsächlich überall präsent war, konnte auch die Nation mit Inhalt gefüllt werden."
Denn damit war auch ein gewisser Wohlstand ins Land gekommen. Darum waren die asiatischen Republiken vom Zerfall der Sowjetunion wenig begeistert und wurden meist erst spät zu selbstständigen Staaten.
Im Gegensatz zu den meist später geschaffenen Gründungsmythen, waren an der tatsächlichen Staatenbildung oft technische und soziale Errungenschaften ganz wesentlich beteiligt, etwa eine Presse, die die verschiedenen Ideen zur Diskussion stellte oder für eine bestimmte Idee warb, Kommunikationsmittel, wie eine funktionierende Post, oder neue Verkehrsmittel, wie die Eisenbahn, berichtet Wolfgang Gabbert:
"Also Kommunikationswege sind natürlich wichtig. Die Eisenbahn ist auch strategisch wichtig. Wenn man jetzt an Staatsbildung denkt, ist ja die Frage, wie kann ein Zentralstaat entfernter liegende Regionen kontrollieren? Und der Ausbau der Eisenbahnlinien ermöglichte den sehr schnellen Truppentransport in entlegene Landesteile was eben die Schlagkraft einer Armee in sehr starkem Maße erhöht."
Postkutschen, Eisenbahnen, Automobil und Kommunikationsmittel, wie Telefgraf, Telefon und Radio, spielten bei der Nationenentstehung, bei der Machtausbreitung und bei der Industrialisierung vieler Staaten eine wesentliche Rolle. Und sei es, um den Gründungsmythos zu verbreiten. Stefan Plaggenborg:
"Das ist in sehr, sehr vielen Fällen eine Erzählung, die dazu dienen soll, dass die Nation sich als solche versteht. Die vielen Menschen, die bis dahin noch kein Nationsbewusstsein entwickelt haben, die – jetzt überspitzt sich mal ein bisschen – irgendwo in Tälern gelebt haben und überhaupt noch nicht gewusst haben, dass sie, sei es nun die türkische oder was auch immer für eine Nation haben, denen wird dann ein solcher Mythos oder diese Legende, diese Legitimation für das Regime auf diese Weise vermittelt. Und so wachsen sie – in der Hoffnung der Vermittler eben – wachsen sie dann in den Nationsgedanken hinein. Also die Kraft dieser Mythen ist natürlich sehr stark und man sieht im Falle der Türkei das das auch wirkt."
Und nicht nur dort. Sei es in Form von Propaganda, sei es mit Gewalt, wie in der Sowjetunion oder China mit seiner Kulturrevolution.
"Es gehört, wie wir gesehen haben auf der Tagung, zu den großen Narrativen, dass Nationsbildung durch Revolutionen und Kriege hindurch geht und die Nation gewissermaßen gehärtet wird durch diese Ereignisse, eben auch in Blut gestählt."
Das Paradoxe daran ist, dass derartige Legendenbildung zwar nicht der historischen Wahrheit entspricht, aber einem tiefen menschlichen Bedürfnis. Jörg Baberowski:
"Selbst ich bedarf ja solcher Mythen, um mich meiner selbst als Deutscher zu vergewissern. Das ist ja manchmal im Leben wichtig. Vielfach ist es auch unwichtig. Aber natürlich brauchen Nationen Mythen. Ohne Mythen geht es überhaupt nicht. Aber Historiker sollten sie nicht benutzen. Historiker arbeiten an der Dekonstruktion von Mythen, die müssen immer wieder zeigen, dass das alles falsch ist, aber im Alltag brauchen wir das, und es ist auch gut so, dass das so ist."