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"Selbstverbrennung"
Dringend Entzug notwendig

Hans Joachim Schellnhuber zeigt auf 784 Seiten auf, wie sich die Debatte um den Klimawandel entwickelte. Er war bei allen wichtigen Konferenzen der 20 Jahre dabei und kann so aus dem Nähkästchen plaudern. Sein Buch "Selbstverbrennung" ist eine Fundgrube an Wissen und Anekdoten - mit einem pessimistischen Ausblick.

Von Ralf Krauter |
    Die aufgehende Sonne taucht am 27.10.2014 den Himmel hinter dem Kohlekraftwerk Mehrum in Hohenhameln im Landkreis Peine (Niedersachsen) in warmes Licht.
    Kohlekraftwerk: Schellnhuber blickt eher pessimistisch in die Zukunft. (picture-alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Wenn einer der prominentesten Klimaforscher Deutschlands ein Buch schreibt, das alles zusammenfasst, was Wissenschaftler heute über die Ursachen und Folgen der Erderwärmung wissen, besteht die Gefahr, dass die Geschichte aus dem Ruder läuft. Zumal, wenn der renommierte Experte auch gleich noch sein Lebenswerk schildern will und der Nachwelt ein persönliches Vermächtnis hinterlassen.
    Hans Joachim Schellnhuber, der Gründungsdirektor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, das er seit über 20 Jahren leitet, hätte also grandios scheitern können mit seinem Buch "Selbstverbrennung". Tut er aber nicht. Das Einzige, was man dem studierten Physiker, der die Bundesregierung und den Papst in Klimafragen berät, vorhalten kann: Dass es ihm nicht gelungen ist, sich kürzer zu fassen. 742 Seiten Text plus Literaturverzeichnis – ein Wälzer, der so dick ist, dürfte vielen Angst machen. Was schade ist, weil dieses Buch viele Leser verdient hat.
    Hans Joachim Schellnhuber liefert nicht nur eine Enzyklopädie all dessen, was man heute über den Klimawandel wissen kann und sollte. Er erzählt auch die Geschichten hinter all den Entdeckungen, beschreibt die Menschen, die sie machten, und die Umstände, unter denen sie agierten.
    Die detailreichen und plastischen Schilderungen profitieren davon, dass der Autor bei allen wichtigen Konferenzen der vergangenen 20 Jahre dabei war und die Klimapolitik durch die Erfindung des 2-Grad-Ziels maßgeblich geprägt hat. Schellnhuber war 1995 dabei, als die damalige Umweltministerin Angela Merkel in Berlin den ersten Weltklimagipfel leitete. Er war dabei als 1997 das Kyoto-Protokoll verabschiedet wurde. Er war dabei als die Bundeskanzlerin den Klimaschutz 2007 beim G-8-Gipfel in Heiligendamm auf die Agenda setzte. Und er war dabei, als der Weltklimagipfel in Kopenhagen 2009 grandios scheiterte.
    Plaudern aus dem Nähkästchen
    Hans Joachim Schellnhuber plaudert aus dem Nähkästchen und redet sich dabei mitunter so in Rage, dass Klimaskeptiker und träge Politiker ordentlich eins auf die Mütze bekommen. Weil seine Einlassungen fachlich fundiert sind, ist das über weite Strecken erhellend und unterhaltsam.
    Anstrengend wird es bloß dort, wo der Missionar und Weltverbesser, der Schellnhuber auch ist, seinen moralischen Zeigefinger allzu hoch über andere erhebt.
    Doch selbst dabei verliert der Autor nie den Blick fürs große Ganze. In Kapitel 12 etwa erklärt er dem Leser, wie die Corioliskraft und die Meeresströmungen und Passatwinde, die auf ihr Konto gehen, England einst zu ungeahntem Reichtum verhalfen: durch staatlich verordnete Piraterie und Sklavenhandel. Der resultierende Wohlstand bildete den Humus für die industrielle Revolution, die dazu führte, dass die Menschheit heute am Tropf der fossilen Energieträger Kohle, Öl und Gas hängt.
    Der Grund: Ein Liter Benzin enthält die in Jahrmillionen verdichtete Essenz von 20 Tonnen pflanzlicher Biomasse. Deshalb ist Erdöl ein Stoff, der Macht verleiht - und süchtig macht. Schellnhuber führt uns unsere Abhängigkeit vor Augen und macht klar: Es kann unmöglich so weiter gehen. Wir leben über unsere Verhältnisse, müssen dringend einen Entzug machen, so seine Kernbotschaft, sonst verheizen wir unseren Planeten.
    "Selbstverbrennung" ist eine Fundgrube an Wissen und Anekdoten über das Klimageschehen auf unserem Planeten und die Geschichte der Menschheit. Es ist zugleich aber auch ein Manifest für gesellschaftlichen Wandel und den Umbau der Weltwirtschaft, mit dem Ziel, unseren Nachkommen eine lebenswerte Zukunft zu erhalten. Die Chance, dass diese gewaltige Transformation schnell genug erfolgt, um katastrophale Veränderungen zu verhindern, hält Schellnhuber für eher gering. Da kommt dann doch wieder der nüchterne Physiker durch, der er vor seiner Karriere als Klimaschutz-Aktivist einmal war.
    Buchinfos:
    Hans Joachim Schellnhuber: "Selbstverbrennung - Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff", C. Bertelsmann, 784 Seiten, Preis: 29,99 Euro, ISBN 978-3-570-10262-2