Im Vordergrund steht die Geschichte einer Ketzergemeinschaft, die Svetislav Basara auf rund 450 Romanseiten ausleuchtet. Viele Jahrhunderte lang sollen die evangelischen Fahrradfahrer des Rosenkreuzes ihr geheimnisvolles Unwesen getrieben haben. In allen nur möglichen Weltgegenden sollen sie gesichtet worden sein. Die Sektierer preisen das Fahrrad als Idealkonstruktion für einen esoterischen Sinn des Lebens. So viel ist klar. Ansonsten gibt der Roman jede Menge Rätsel auf.
Das Bild von den Ketzern steckt voll bizarrer Gegensätze. Denn Basara konfrontiert uns im Kern mit einer wilden Gerüchteküche - und reagiert in dieser Form auf die Gesellschaftskrise Serbiens in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Damals, nach dem Tod des Staatsführers Josip Broz Tito, zerfiel der jugoslawische Gesamtstaat erst schleichend, dann im Galopp. In Serbien schwang sich Slobodan Milošević vom blassen Parteikader zum Hassprediger und Verkünder großserbischer Ideen auf. Wissenschaftler, Literaten und Medienleute griffen zu Verschwörungstheorien aller Art. Sie stilisierten Serbien zum Opfer fremder Mächte, unterdrückt vor allem von den eigenen Nachbarn, den Slowenen, Kroaten oder Albanern. Ein Vierteljahrhundert später erinnert sich Basara:
"Oh ja, das war eine wirklich stürmische Zeit. Und es hätte gar nicht so enden müssen, wie es endete. Ich bin ein Gegner deterministischer Geschichtsauffassungen - wie sie in Serbien sehr verbreitet sind. Serbien hätte einen ganz anderen Weg nehmen können. Hat ihn aber nicht genommen, weil es der serbischen Pseudoelite so schien, als könnte man durch einen Krieg mehr erreichen. Damals bröckelte das kommunistische Regime an allen Ecken und Enden. Die Zeitungen waren überfüllt von Feuilletontexten, in denen alles mit Verschwörungen der Freimauer, der Rotarier oder des Vatikans erklärt wurde. Da dachte ich mir: Vielleicht wäre es (im Sinne der Kunst, natürlich) nicht schlecht, wenn auch ich mir eine Geheimgesellschaft ausdenken würde."
Skurrile Detektivgeschichte
Svetislav Basara lebt derzeit in Beška, einem Dorf in der historischen Vielvölkerregion Vojvodina im Norden von Serbien. Interviewaufzeichnungen lehnt er ab, Fragen beantwortet er nur schriftlich - gern im Dorfgasthaus, wie er behauptet. Zur Welt kam der Autor 1953 im südserbischen Bajina Bašta unweit der bosnischen Grenze, und dort will sein Erzähler - laut Romanvorwort - im Sommer des Jahres 1986 in der städtischen Bücherei nebst einigen Privatbibliotheken jene Schriften aufgespürt haben, die er uns als echte Funde präsentiert. Dieser Erzähler hält immer neue Blickwinkel bereit. Dauernd wandelt sich der sprachliche Stil, während - Kapitel für Kapitel - Geheimnissen des irgendwann im Mittelalter gegründeten Fahrradfahrerbunds ans Tageslicht kommen.
Dazu dienen Briefe über die Seelenlage eines Mannes, der lange nach dem Ersten Weltkrieg das österreichische Thronfolgerpaar in Sarajevo ermordet haben will. Sigmund Freud soll sie 1930 an einen Herbert Mayer adressiert haben. Es gibt eine Detektivgeschichte, in der Conan Doyles legendärer Sherlock Holmes im London des Jahres 1898 hinter Fahrradfahrern her ist, denen man vorwirft, öffentliche Uhren in London zu zerstören. Die Skizze aller Tatorte ergibt die Form eines Hochrads. Ein Schiffskapitän namens Queensdale, der im frühen 18. Jahrhundert auf einer fernen Atlantikinsel gestrandet ist, übermittelt per Flaschenpost Eindrücke von Fahrradhäretikern, die er dort angetroffen haben will. Am Anfang und Ende der skurrilen Textsammlung dominieren die Bekenntnisse eines frühneuzeitlichen Königs namens Karl der Grässliche:
"Es schadet nicht, von Zeit zu Zeit die eine oder andere Hexe zu verbrennen oder eine öffentliche Hinrichtung zu inszenieren. Aber ich bin auch Ketzern gegenüber tolerant. Sie kommen von überall her und suchen Zuflucht bei mir. Ich bin geradezu ein Vorläufer der Demokratie. Vor Kurzem kamen welche auf der Flucht vor Vertreibung aus Paris hier an. Es waren irgendwelche Zweiradfahrer oder so ähnlich. Ich nahm ihren Anführer, Joseph Ferrarius, auf (...). Er zeigte mir auch die Reliquie seiner Leute, einen Wagen, der nach der Vision Ezechiels gebaut worden war, mit Rädern hintereinander. Mit diesen Rädern könnte man, sagte er, in den Himmel kommen."
Serbiens schwierige Seelenlage
Der Geist von Karl dem Grässlichen schwebt mühelos durch die Jahrhunderte. Wenn der König seine Erfahrungen mit den Fahrradfahrern vor ungefähr einem halben Jahrtausend ausplaudert, behauptet er zugleich, mit dem Werk Sigmund Freuds oder dem Ableben von Josef Stalin vertraut zu sein. Bei seiner ganzen Zeitreise geht es Svetislav Basara um die Seelenlage Serbiens unter Slobodan Milošević in den 1980er Jahren. Der Autor zieht Verschwörungstheorien aller Art ins Lächerliche, um die seinerzeit (und oft auch heute noch) allgegenwärtige Rede vom unglücklichen Serbien als Opfer der Geschichte zu verhöhnen.
"Die Verschwörung der Fahrradfahrer" ist ein satirischer Großangriff, mit dem der Autor aber nicht nur auf Serbien zielt, sondern auch auf andere Teile des im Zerfall begriffenen Jugoslawien. Als Aufenthaltsort für die 20 Millionen Einwohner Jugoslawiens bringt er in seinem Roman schließlich eine Anstalt für Geisteskranke ins Spiel, eine Anstalt, die für ihre Patienten besondere Formen der Selbstverwirklichung vorsieht.
"Also angenommen, ich verliere den Verstand und bilde mir ein, ich sei der Kapitän eines Schiffes. In diesem zukünftigen Irrenhaus würde man nicht versuchen, mich zu therapieren, sondern man würde mir ein Schiff geben und die Schiffsbesatzung meinem Kommando unterstellen. Wenn Sie wiederum, erlauben Sie mir diese Annahme, den Verstand verlören und sich einbildeten, Sie seien ein Feldherr, dann würden die Ärzte nicht versuchen, es Ihnen auszureden, sondern man würde Ihnen eine Armee geben und Sie in den Kampf schicken. So, und ich als Schiffskapitän würde Material und Ausrüstung für Ihre Soldaten transportieren. Verstehen Sie, anstatt den Wahnsinn zu unterdrücken, macht man ihn für die Gesellschaft nutzbar."
Parallelen zu aktuellen Konflikten
Ein Vierteljahrhundert nach der Erstveröffentlichung liest sich Svetislav Basaras Roman erneut wie ein literarischer Kommentar zum politischen Zeitgeschehen. Im Krieg zwischen der Ukraine und den von Russland gesteuerten Separatisten zeigt sich schließlich die immense Wirkungsmacht von Desinformation, Wahrheitsverfälschung sowie einigen historisch verwurzelten Verschwörungsfantasien. Svetislav Basara gefallen Parallelen dieser Art allerdings nicht.
"Sie im Westen Europas wollen immer Parallelen ziehen. Aufgrund der Natur von Parallellinien - die sich nicht berühren - ist das die beste Form, nichts zu erfahren. Es war naiv zu erwarten, dass Russland friedlich bei dem Versuch zuschaut, an seinen Grenzen NATO-Kasernen zu errichten. Das ehemalige Jugoslawien hat keinen Druck dieser Art verspürt. Außerdem ist es ein Glück - nicht nur für Russland und die Ukraine, sondern auch für den Rest der Welt -, dass Putin nicht so gewalttätig ist wie Milošević. Ich wage es mir gar nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn Milošević ein solches Waffenarsenal zur Verfügung gestanden hätte wie Putin."
Dennoch: Ähnlichkeiten mit der derzeitigen Lage im russisch-ukrainischen Kriegsgebiet drängen sich einfach auf. Denn Svetislav Basara hat vor großem historischen Panorama einen spannenden satirischen Roman über die grotesken Hochrüstungen des Geistes als Vorform kriegerischer Gewalt geschrieben. Auch wenn dieses Buch erst mit 26 Jahren Verspätung die deutschen Leser erreicht, kommt es im passenden Moment.
Svetislav Basara: "Die Verschwörung der Fahrradfahrer"
Aus dem Serbischen von Mascha Dabić, Dittrich Verlag, 464 Seiten, 22,80 Euro
Aus dem Serbischen von Mascha Dabić, Dittrich Verlag, 464 Seiten, 22,80 Euro