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Serie: Kunst-Stoffe
Augmented Reality im Theater 

Partizipatives Theater ist keine neue Erfindung. Doch heutzutage geht es bei der Teilnahme der Zuschauer nicht - wie in den 70- und 80er-Jahren - um politische Mitbestimmung, sondern um einen spielerischen Ansatz. Zum Beispiel muss das Publikum aktiv werden, damit die Handlung überhaupt weitergeht.

Von Oliver Kranz |
    Publikum sitzt vor einer Bühne.
    Mehr als nur Zuschauen: "Ich erlebe es immer öfter, dass zum Beispiel Leute Frontalunterrichtssituationen nicht mehr aushalten", sagt der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender. (dpa/picture alliance/Markus Scholz)
    In der Produktion "Lessons of Leaking" der Gruppe machina ex gibt es keine Bühne. Man besucht Räume, in denen man Darsteller trifft – zuerst Clara und David, die in ihrem Wohnzimmer Nachrichten gucken.
    "Zwei Tage vor dem ersten bundesweiten Volksentscheid über Deutschlands Europaaustritt haben die Europagegner in den Umfragen noch einmal deutlich zugelegt. 52 Prozent der Bundesbürger wollen am Sonntag dafür stimmen, dass ihr Land die EU verlässt…"
    In der Aufführung erhält Clara eine Information, die für Deutschlands Verbleib in der EU sorgen könnte. Ob sie sie veröffentlicht, hängt von der Entscheidung der Zuschauer ab. Anna Fries hat das Stück inszeniert:
    "Das Publikum darf frei im Raum herumlaufen und alle Dinge berühren, also das Bühnenbild berühren oder auseinandernehmen, wenn es will. Über diese Objekte - ein ganz simples Beispiel wäre über ein Telefon, bei dem das Publikum die richtige Telefonnummer eingeben muss - und über diese Art von Interaktion funktionieren unsere Stücke."
    "Ein völlig anderes Erlebenis als klassisches Theater"
    Über weite Strecken ähnelt das Stück einem Computerspiel. Das Publikum muss aktiv werden, um das Geschehen voranzutreiben.
    "Diese Art von spielbasiertem Theater, das wir machen, bietet ein völlig anderes Erlebnis als ein klassisches Theaterstück. Viele Zuschauerinnen beschreiben im Nachhinein sehr stark, dass sie in die Handlung eingesogen werden, dadurch, dass man mitten in diesem fiktiven Raum steht und physisch am gleichen Ort ist für die Figuren und das aber eben auch das eigene Handeln Konsequenzen hat."
    Solche Stücke werden nicht nur von machina ex angeboten. Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele, beobachtet das seit einigen Jahren:
    "Ich glaube, dass es eine Veränderung nicht nur im Bereich des Theaters, sondern auch der Bildenden Kunst gibt, auch der Musik, die immer mehr dazu führt, dass wir Werkformen beobachten, die nicht dafür gedacht sind, dass man ihnen gegenüber sitzt, sondern dass man in sie eintritt."
    "Die Leute halten Frontalunterricht nicht mehr aus"
    Dabei geht es - im Gegensatz zum partizipativen Theater 70er- oder 80er-Jahre – nicht in erster Linie um politische Mitbestimmung, sondern eher um eine spielerische Aneignung der Welt. Thomas Oberender glaubt, "dass das nicht nur andere Werke und Erzählformen hervorbringt, sondern über kurz oder lang auch andere Architekturen – vom Museum bis zum Theater – gebaut werden und bespielt werden."
    Denn die alte Guckkastenbühne ist für Produktionen, die das Publikum nicht nur anschauen, sondern auch betreten soll, alles andere als ideal. Performancegruppen spielen in Fabriketagen oder Klubs, Stadt- und Staatstheater richten Studiobühnen ein. Dieser Prozess ist nicht neu, doch er wird durch das Internet und die sozialen Netzwerke, in denen man immerzu etwas bewerten oder kommentieren soll, verstärkt.
    "Ich erlebe es immer öfter, dass zum Beispiel Leute Frontalunterrichtssituationen nicht mehr aushalten – also dieses berühmte Glas Wasser, Stehpult und dann verkündet jemand die Weisheit – das wird immer weniger akzeptiert. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen Feedback verlangen, dass sie die Möglichkeit haben wollen, sich einzubringen und dass diese hegemonialen Positionen, also die reine Sendebetriebe sind und die gar nicht auf Empfang gehen, dass die als unangenehm empfunden werden und zwar intuitiv."
    Neue Erzählweisen als Bereicherung, nicht als Gefahr
    Theaterproduktionen, die allein nach dem Schema "A spielt B und C schaut zu" laufen, werden daher seltener. Schon eine einfache Videoprojektion kann einer Aufführung eine neue Realitätsebene hinzufügen, dem Zuschauer Informationen zugängig machen, die er sonst nicht hätte. Im neuen Technikdeutsch könnte man das als "Augmented Reality" bezeichnen – erweiterte Realität. Thomas Oberender sieht die neuen Erzählweisen als Bereicherung des Theaters, nicht als Gefahr:
    "Wir haben ja oft erlebt, dass alte Medien auf das Entstehen neuer Medien zunächst mit Angst reagieren. Wird das Kino das Theater abschaffen? Oder die Erfindung vom Fernsehen. Was hat das für eine Wirkung aufs Kino? Also diese Ängste schwingen immer mit und am Ende hat es sich herausgestellt, dass es eher eine Differenzierung gibt – dass man sagt, durch Virtual Reality entsteht ein Pan-Medium, das Kino, Theater und Computerspiel zusammenzieht. Das ist ein völlig offenes Feld, wo Erfinder unterwegs sind, die Technologien entwickeln, die nach Erzählweisen suchen, die für dieses Panmedium noch nicht fertig sind."
    Doch auch wenn noch offen ist, wie das neue Theater aussehen wird – an einem Grundsatz wird sich wenig ändern: Im Zentrum steht der lebendige Schauspieler. Theater kann nur live stattfinden und nicht in virtuellen Computerwelten.